Vorlesung: Die Literatur des 20. Jahrhunderts (WS 2016/17)
Prof. Dr. Albert Meier
Die Literatur des 20. Jahrhunderts – Christoph Ransmayr: Die letzte Welt
Die Kunst des 20. Jahrhunderts ist aufgrund ihres Anspruchs, stets etwas Neues hervorbringen zu müssen, das das zuvor Dagewesene übertrifft, von einem immensen Innovationsdruck getrieben. Die Konsequenzen dieses Drucks sind besonders augenfällig an der Entwicklung der Avantgarde-Malerei zu erkennen: Diese wird zunächst immer abstrakter, bevor durch die Darstellung einer weißen Leinwand das Maximum an Gegenstandslosigkeit erreicht wird, die nur noch durch eine zerrissene und später eine verbrannte Leinwand überboten werden kann. Schließlich gelangt die Avantgarde (kunstübergreifend) zwangsläufig zu einem Endpunkt, an dem keine weitere Radikalisierung mehr möglich ist (vgl. etwa die Komposition 4′ 33′′ von John Cage, in der über 4 Minuten 33 Sekunden keine Musik gespielt wird).
Kunst der Postmoderne
An dieser Erkenntnis setzt die Postmoderne an und postuliert eine neue Entwicklungslinie, derzufolge Innovation auch durch Wiederholung möglich ist. Durch eine reflektierte Anerkennung des Vergangenen soll ironisch (weil in vollem Bewusstsein, dass nichts Originäres geschaffen, sondern lediglich Vorhandenes neu kombiniert wird) mit dem alten Material gespielt werden.
Die Postmoderne steht damit für die Einsicht, dass Innovation am Ende des 20. Jahrhunderts nur noch als Variation des Bekannten möglich ist. Daher ist ›Intertextualität‹ ein zentrales Merkmal der Postmoderne: Das Zitieren erfolgt dabei auf eklektische Weise, sodass kein organischer/geschlossener Zusammenhang entsteht. Durch das Mittel der Doppelkodierung ergeben sich zudem immer zwei komplementäre Lesarten postmoderner Kunst: Der geschulte Betrachter, der die Zitate erkennt, kann sich an dem Spiel mit dem Material erfreuen; der naive Rezipient, der die Anspielungen nicht durchschaut, kann postmoderne Kunst dennoch genießen, da sie auf der Oberfläche immer populär bzw. eingängig ist (Umberto Ecos Der Name der Rose z.B. ist auf der Oberfläche ein simpler Kriminalroman).
Die postmoderne Literatur steht in engem Zusammenhang mit der Sprachphilosophie des Poststrukturalismus. Dieser negiert den Zeichenbegriff des klassischen Strukturalismus und behauptet, dass es keine feste Verbindung zwischen Signifikat und Signifikant gebe, sondern lediglich eine flüssige, vom jeweiligen Kontext der Äußerung abhängige und somit beständiger Modifikation unterworfene Beziehung (hierin ist die zentrale Voraussetzung dafür zu sehen, dass ein Künstler auch in der Wiederholung innovativ sein kann).
Als zentrale literaturtheoretische Konsequenz aus der Einsicht, dass der Autor nichts Originäres schafft, sondern mit bereits vorhandenem Material arbeitet, ergibt sich Roland Barthes’ Postulat vom Tod des Autors: Der Autor verliert die Autorität über den Sinngehalt seines Textes, weil jeder Leser ihn auf seine individuelle Art realisieren wird.
Christoph Ransmayr: Die letzte Welt
Christoph Ransmayrs (*1954) Die letzte Welt (1988) ist ein Roman aus der Hochphase der postmodernen Literatur in Deutschland. Ransmayr geht von einem historischen Kern (Verbannung des römischen Dichters Publius Ovidius Naso, 43 v. Chr. – ca. 17 n. Chr.) aus, manipuliert die historischen Daten aber deutlich: In Die letzte Welt hat ›Naso‹ sein Hauptwerk Metamorphosen noch in Rom vernichtet (in Wahrheit sind Ovids Metamorphosen vollständig überliefert), was den Protagonist Cotta dazu veranlasst, nach Tomi aufzubrechen, um den Verbannten bzw. Spuren seines Textes zu suchen.
Die historische Realität wird dabei so deutlich gebrochen (etwa durch das Auftauchen von Bushaltestellen und technischen Gerätschaften in der erzählten Welt), dass es sich nicht um einen historischen Roman handeln kann – das historische Material wird vielmehr in einen neuen Kontext gesetzt und auf die Gegenwart bezogen: So lassen sich u.a. auch Anspielungen auf den westeuropäischen Linksterrorismus der 1970/80er Jahre sowie auf die Verbrechen des Nationalsozialismus finden.
Cottas Suche nach Naso bleibt vergeblich, was als Gleichnis für das postmoderne Konzept vom Tod des Autors verstanden werden kann. Auch die poststrukturalistische Idee der Kontextabhängigkeit/Offenheit des Sinns wird von Ransmayr literarisch umgesetzt: Die Figuren, die in Tomi mit Naso und seinem Werk in Berührung gekommen sind, referieren Cotta deutlich voneinander abweichende Lektüren/Interpretationen des Werks, sodass sich keine verbindliche/allgemeingültige Deutung ergibt.
Zitate
Hugo von Hofmannsthal: Poesie und Leben:
»Es führt von der Poesie kein direkter Weg ins Leben, aus dem Leben keiner in die Poesie. Das Wort als Träger eines Lebensinhaltes und das traumhafte Bruderwort, welches in einem Gedicht stehen kann, streben auseinander und schweben fremd aneinander vorüber, wie die beiden Eimer eines Brunnens.«
[Hofmannsthal, Hugo von: Poesie und Leben. In: Hofmannsthal, Hugo von: Der Brief des Lord Chandos. Schriften zur Literatur, Kunst und Geschichte. Herausgegeben von Mathias Mayer. Stuttgart 2000, S. 36-44, hier S. 39.]
Umberto Eco: Il nome della rosa:
»Negli anni in cui scoprivo il testo dell’ abate Vallet circolava la persuasione che si dovesse scrivere solo impegnandosi sul presente, e per cambiare il mondo. A dieci e più anni di distanza è ora consolazione dell’ uomo di lettere (restituito alla sua altissima dignità) che si possa scrivere per puro amore di scrittura.«
[Eco, Umberto: Il nome della rosa. Milano 1980, S. 15.]
Umberto Eco: Der Name der Rose:
»In den Jahren, da ich den Text des Abbé Vallet entdeckte, herrschte die Überzeugung, dass man nur schreiben dürfe aus Engagement für die Gegenwart und im Bestreben, die Welt zu verändern. Heute, mehr als zehn Jahre danach, ist es der Trost des homme de lettres (der damit seine höchste Würde zurückerlangt), wieder schreiben zu dürfen aus reiner Liebe zum Schreiben.«
[Eco, Umberto: Der Name der Rose. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. München – Wien 1982, S. 13.]
Umberto Eco: Postille a Il nome della rosa:
»Credo che in ogni epoca si arrivi a dei momenti di crisi quali quelli descritti da Nietzsche […]. Il passato ci condiziona, ci sta addosso, ci ricatta.«
[Eco, Umberto: Postille a Il nome della rosa. Milano 1982, S. 38.]
Umberto Eco: Nachschrift zu Der Name der Rose:
»Ich glaube, daß man in jeder Epoche an Krisenmomente gelangt, wie sie Nietzsche […] beschrieben hat. Die Vergangenheit konditioniert, belastet, erpreßt uns.«
[Eco, Umberto: Nachschrift zu Der Name der Rose. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. München – Wien 1984, S. 77.]
Umberto Eco: Postille a Il nome della rosa:
»L’avanguardia distrugge il passato, lo sfigura: le Demoiselles d’Avignon sono il gesto tipico dell’avanguardia; poi l’avanguardia va oltre, distrutta la figura l’annulla, arriva all’astratto, all’informale, alla tela bianca, alla tela lacerata, alla tela bruciata […]. | Ma arriva il momento che l’avanguardia (il moderno) non può più andare oltre […]. La risposta post-moderna al moderno consiste nel riconoscere che il passato, visto che non può essere distrutto, perché la sua distruzione porta al silenzio, deve essere rivisitato: con ironia, in modo non innocente.«
[Eco, Umberto Postille a Il nome della rosa. Milano, S. 38f.]
Umberto Eco: Nachschrift zu Der Name der Rose:
»Die Avantgarde zerstört, entstellt die Vergangenheit: Picassos Demoiselles d’Avignon sind die typische Auftrittsgebärde der Avantgarde; dann geht die Avantgarde weiter, zerstört die Figur, annulliert sie, gelangt zum Abstrakten, zum Informellen, zur zerrissenen Leinwand, zur verbrannten Leinwand […]. Es kommt jedoch der Moment, da die Avantgarde (also die Moderne) nicht mehr weitergehen kann […]. Die postmoderne Antwort auf die Moderne besteht in der Einsicht und Anerkennung, daß die Vergangenheit, nachdem sie nun einmal nicht zerstört werden kann, da ihre Zerstörung zum Schweigen führt, auf neue Weise ins Auge gefaßt werden muß: mit Ironie, ohne Unschuld.«
[Eco, Umberto: Nachschrift zu Der Name der Rose. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. München – Wien 1984, S. 78.]
Umberto Eco: Postille a Il nome della rosa:
»I libri parlano sempre di altri libri e ogni storia racconta una storia già raccontata. Lo sapeva Omero, lo sapeva Ariosto, per non dire di Rabelais o di Cervantes.«
[Eco, Umberto Postille a Il nome della rosa. Milano, S. 15.]
Umberto Eco: Nachschrift zu Der Name der Rose:
»Alle Bücher sprechen immer von anderen Büchern, und jede Geschichte erzählt eine längst schon erzählte Geschichte. Das wußte Homer, das wußte Ariost, zu schweigen von Rabelais und Cervantes.«
[Eco, Umberto: Nachschrift zu Der Name der Rose. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. München – Wien 1984, S. 28.]
Umberto Eco: Postille a Il nome della rosa:
»Ironia, gioco metalinguistico, enunciazione al quadrato.«
[Eco, Umberto Postille a Il nome della rosa. Milano, S. 37.]
Jacques Derrida: De la grammatologie:
»Il n’y a pas de hors-texte.« [Es gibt kein Text-Abseits.]
[Derrida, Jacques : De la grammatologie. Paris 1967, S. 227.]
Jorge Luis Borges: Pierre Menard, autor del Quijote:
»El texto de Cervantes y el de Menard son verbalmente idénticos, pero el segundo es casi infinitamente más rico. […] | […] También es vívido el contraste de los estilos. El estilo arcaizante de Menard – extranjero al fin – adolece de alguna afectación. No así el del precursor, que maneja con desenfado el español corriente de su época.«
[Borges, Jorge Luis: Pierre Menard, autor del Quijote. In: Borges, Jorge Luis: Obras completas I. Sant Adrià del Besós, Barcelona 2001, S. 444- 450, hier S. 449.]
Jorge Luis Borges: Pierre Menard, Autor des Quijote:
»Der Text Cervantes’ und der Text Menards sind Wort für Wort identisch; doch ist der zweite nahezu unerschöpflich reicher. […] | […] Auch zwischen den Stilarten besteht ein lebhafter Kontrast. Der archaisierende Stil – immerhin eines Ausländers – leidet an einer gewissen Affektiertheit. Nicht so der des Vorläufers, der das seiner Zeit geläufige Spanisch unbefangen schreibt.«
[Borges, Jorge Luis: Pierre Menard, Autor des Quijote. In: Borges, Jorge Luis: Gesammelte Werke 3/I. Nach der Übersetzung von Karl August Horst, bearb. von Gisbert Haefs mit einem Nachw. von Lars Gustafsson. München/Wien 1981, S. 112-123, hier S. 121f.]
Roland Barthes: La mort de l’auteur:
»Nous savons maintenant qu’un texte n’est pas fait d’une ligne de mots, dégageant un sens unique, en quelque sorte théologique (qui serait le ›message‹ de l’Auteur-Dieu), mais un espace à dimensions multiples, où se marient et se contestent des écritures variées, dont aucune n’est originelle: le texte est un tissu de citations, issues des mille foyers de la culture.«
[Barthes, Roland: La mort de l’auteur. In: Barthes, Roland: Œuvres complètes. Tome II: 1966-1973. Édition établie et présentée par Éric Marty. [Paris] 1994, S. 491-495, hier S. 493f.]
»Dans l’écriture multiple, en effet, tout est à démêler, mais rien n’est à déchiffrer; la structure peut être suivie, ›filée‹ (comme on dit d’une maille de bas qui part) en toutes ses reprises et à tous ses étages, mais il n’y a pas de fond; l’espace de l’écriture est à parcourir, il n’est pas à percer; l’écriture pose sans cesse du sens mais c’est toujours pour l’évaporer: elle procède à une exemption systématique du sens.«
[Barthes, Roland: La mort de l’auteur. In: Barthes, Roland: Œuvres complètes. Tome II: 1966-1973. Édition établie et présentée par Éric Marty. [Paris] 1994, S. 491-495, hier S. 494.]
»[…] nous savons que, pour rendre à l’écriture son avenir, il faut en renverser le mythe: la naissance du lecteur doit se payer de la mort de l’Auteur.«
[Barthes, Roland: La mort de l’auteur. In: Barthes, Roland: Œuvres complètes. Tome II: 1966-1973. Édition établie et présentée par Éric Marty. [Paris] 1994, S. 491-495, hier S. 495.]
Umberto Eco: Il nome della rosa:
»Perché è storia di libri, non di miserie quotidiane, e la sua lettura può inclinarci a recitare, col grande imitatore da Kempis:
In omnibus requiem quaesivi, et nusquam inveni nisi in angulo cum libro.«
[Eco, Umberto: Il nome della rosa. Milano 1980, S. 15.]
Umberto Eco: Der Name der Rose:
»Denn es ist eine Geschichte von Büchern, nicht von den Kümmernissen des Alltags, und ihre Lektüre mag uns dazu bewegen, mit dem großen Imitator a Kempis zu rezitieren:
In omnibus requiemquaesivi, et nusquam inveni nisi in angulo cum libro.«
[Eco, Umberto: Der Name der Rose. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. München – Wien 1982, S. 13.]
Umberto Eco: Il nome della rosa:
»Negli anni in cui scoprivo il testo dell’ abate Vallet circolava la persuasione che si dovesse scrivere solo impegnandosi sul presente, e per cambiare il mondo. A dieci e più anni di distanza è ora consolazione dell’ uomo di lettere (restituito alla sua altissima dignità) che si possa scrivere per puro amore di scrittura.«
[Eco, Umberto: Il nome della rosa. Milano 1980, S. 15.]
Umberto Eco: Der Name der Rose:
»In den Jahren, da ich den Text des Abbé Vallet entdeckte, herrschte die Überzeugung, dass man nur schreiben dürfe aus Engagement für die Gegenwart und im Bestreben, die Welt zu verändern. Heute, mehr als zehn Jahre danach, ist es der Trost des homme de lettres (der damit seine höchste Würde zurückerlangt), wieder schreiben zu dürfen aus reiner Liebe zum Schreiben.«
[Eco, Umberto: Der Name der Rose. Aus dem Italienischen Burkhart Kroeber. München – Wien 1984, S. 13.]
Christoph Ransmayr: Die letzte Welt:
»Der Fremde, der dort unter den Arkaden stand und fror; der Fremde, der an der rostzerfressenen Bushaltestelle den Fahrplan abschrieb und auf kläffende Hunde mit einer unverständlichen Geduld einsprach, − dieser Fremde kam aus Rom.«
[Ransmayr, Christoph: Die letzte Welt. Roman. Mit einem Ovidischen Repertoire. Frankfurt am Main 1991, S. 9.]
»Mit den vielen insgeheimen Feinden dieses Staates teilte Cotta aber auch eine verschwiegene, ausdruckslose Genugtuung, wenn ein Geächteter aus den Katakomben einen Großen der Behörde, des Senats oder der Armee zum Krüppel schoß oder tötete und so in jedem Verbündeten oder Nutznießer der augustäischen Diktatur die Angst vor einem Attentat und vor den Schrecken des Todes wachhielt.«
[Ransmayr, Christoph: Die letzte Welt. Roman. Mit einem Ovidischen Repertoire. Frankfurt am Main 1991, S. 144.]
»Thies war der letzte Veteran einer geschlagenen, versprengten Armee, die auf dem Höhepunkt ihrer Wut selbst das Meer in Brand gesetzt hatte.«
[Ransmayr, Christoph: Die letzte Welt. Roman. Mit einem Ovidischen Repertoire. Frankfurt am Main 1991, S. 260.]
»[…] und inmitten einer verwüsteten, eroberten Stadt mußte Thies in jedem dieser Träume vor das Tor einer Lagerhalle treten, mußte die schweren Torflügel öffnen und dann den schrecklichen Anblick der Menschheit ertragen: | In diesem steinernen, fensterlosen Raum waren die Bewohner eines ganzen Straßenzuges zusammengepfercht und mit Giftgas erstickt worden.«
[Ransmayr, Christoph: Die letzte Welt. Roman. Mit einem Ovidischen Repertoire. Frankfurt am Main 1991, S. 261.]
»Der einzige Mensch, mit dem [Fama] sich niemals verglich, war Thies, der Deutsche, der Salbenrührer, der Totengräber: Vor Jahrzehnten hatte ihm der Huftritt eines Zugpferdes den Brustkorb so zertrümmert, daß ihm die Rippen seiner linken Seite wie gebrochene Pfeile aus dem Fleisch gezogen werden mußte; seitdem schlug in diesem Mann ein ungeschütztes Herz.«
[Ransmayr, Christoph: Die letzte Welt. Roman. Mit einem Ovidischen Repertoire. Frankfurt am Main 1991, S. 259.]
»Jenes Gerücht aus der eisernen Stadt, dem er dann so lange gefolgt war und dem gewiß noch andere folgen würden, hatte Cotta auf der Glasveranda eines Hauses an der römischen Via Anastasio erreicht; ein Geplauder zwischen Begonien und Oleander. […] Das Gerücht hatte sich dann ausgebreitet wie das Rinnsal auf der abfallenden Straße zur Mole, hatte sich verzweigt, war da und dort rascher und vielgliedriger geworden, anderswo zum Stillstand gekom-men und versiegt, wo man solche Namen nicht kannte: Tomi, Naso oder Trachila. | So war dieses Gerücht verwandelt, weiter ausgeschmückt oder abgeschwächt und manchmal sogar widerlegt worden und war doch immer nur der Kokon für einen einzigen Satz geblieben, den es in sich barg wie eine Larve, von der niemand wußte, was aus ihr noch hervorkriechen würde. Der Satz hieß, Naso ist tot.«
[Ransmayr, Christoph: Die letzte Welt. Roman. Mit einem Ovidischen Repertoire. Frankfurt am Main 1991, S. 11.]
»Denn auf einen Wink des Imperators, der nach sieben Reden schon gelangweilt schien und der nun auch dem achten Redner das Zeichen aus einer solchen Ferne gab, daß Naso nur die tiefe Blässe in Augustus Antlitz wahrnahm, aber keine Augen, kein Gesicht …, auf einen müden, gleichgültigen Wink also, trat Naso in dieser Nacht vor einen Strauß schimmernder Mikrophone und ließ mit diesem einen Schritt das römische Imperium hinter sich, verschwieg, vergaß! die um alles in der Welt befohlene Litanei der Anreden, den Kniefall vor den Senatoren, den Generälen, ja dem Imperator unter seinem Baldachin, vergaß sich selbst und sein Glück, trat ohne die geringste Verbeugung vor die Mikrophone und sagte nur: Bürger von Rom.«
[Ransmayr, Christoph: Die letzte Welt. Roman. Mit einem Ovidischen Repertoire. Frankfurt am Main 1991, S. 60.]
»Und was die Eiche der Ameisen für das Glück der Insel Aegina war, sagte Naso dann in den Strauß der Mikrophone und schloß seine Rede, das werde nun und in Zukunft dieses Bauwerk der Sümpfe, das Stadion Zu den Sieben Zufluchten, für das Glück Roms sein – ein Ort der Verwandlung und Wiedergeburt, ein steinerner Kessel, in dem aus Hunderttausend Aus-gelieferten, Untertanen und Hilflosen ein Volk gekocht werde, so wandelbar und zäh wie das Geschlecht von Aegina, so unbesiegbar. Und schwieg. | Nichts geschah.«
[Ransmayr, Christoph: Die letzte Welt. Roman. Mit einem Ovidischen Repertoire. Frankfurt am Main 1991, S. 64.]
»Ohne ein Wort, nur mit einer jähen, knappen Handbewegung, die kaum heftiger schien als das Abschütteln einer lästigen Stubenfliege, hatte Augustus den Berichterstatter unterbrochen und war dann ganz in den Anblick des Nashorns zurückgesunken. Eine flüchtige Bewegung Seiner Hand. Es war genug. Der Hof brauchte keine ganzen Sätze und keine fertigen Urteile. In den Ratskammern, an den Schreibtischen und in den Speichern der Archive hatte man nun ein Zeichen; was daran zu einem Urteil noch fehlte, war ohne Mühe zu ergänzen.«
[Ransmayr, Christoph: Die letzte Welt. Roman. Mit einem Ovidischen Repertoire. Frankfurt am Main 1991, S. 72.]
»Naso hatte sich im Stadion Zu den Sieben Zufluchten zum ersten und einzigen Mal seines Lebens an das Volk gewandt, an ein ungeheures, zu allem bereites Publikum. Aber schon an diesem ersten Tag nach seinem Auftritt zeigte sich, daß alles, was er mit seiner Rede zu bewegen vermocht hatte, der hellhörige, vielstimmige und unendlich fein übersetzte Staatsapparat war.«
[Ransmayr, Christoph: Die letzte Welt. Roman. Mit einem Ovidischen Repertoire. Frankfurt am Main 1991, S. 68.]
»Gelesen? Hatte der Imperator jemals eine Elegie des Naso gelesen? […] Nein, im Herz des Palastes hatte niemand Elegien gelesen. Bücher waren diesem Herzen so fern wie die Welt.«
[Ransmayr, Christoph: Die letzte Welt. Roman. Mit einem Ovidischen Repertoire. Frankfurt am Main 1991, S. 70.]
Botho Strauß: Die Fehler des Kopisten:
»Jemand schreibt einen einfühlsamen Roman über Ovid, doch die Macht, Augustus, wird wie selbstverständlich mit den billigsten herrschaftskritischen Klischees versehen. Dabei sollte seine Kritik bei ihm selbst und bei der Kompetenz seiner Aneignungen beginnen.«
[Strauß, Botho: Die Fehler des Kopisten. München – Wien 1997, S. 97.]
Christoph Ransmayr: Die letzte Welt:
»Und aus dieser Wildnis ragten Steinmale auf, Dutzende schlanker Kegel, mannshoch die größten, die kleinsten reichten Cotta kaum bis an die Knie. An den Kegelspitzen flatterten Stoffähnchen, Fetzen in allen Farben, es waren in Streifen geschnittene und gerissene Kleider, und als Cotta an einer[!] der kleineren Steinmale herantrat, sah er, daß die Fähnchen Schriftzeichen trugen, alle waren sie beschrieben. Sachte zog er an einem blaßroten, gebleichten Streifen. Der Stoff war so zwischen die Steine geflochten, daß der Kegel zerfiel, als er das Fähnchen an sich nahm, um es zu ent ziffern. Die Steine kollerten einige von den Wurzeln einer Kiefer gesprengte Stufen hinab, und Cotta las: Keinem bleibt seine Gestalt.«
[Ransmayr, Christoph: Die letzte Welt. Roman. Mit einem Ovidischen Repertoire. Frankfurt am Main 1991, S. 15.]
»Pythagoras schrieb mit seiner Lampe den Bogen weiter, vollendete ihn zum Kreis, und im dahinhuschenden Licht sah Cotta Steine, Menhire, Schieferplatten, Säulen und rohe, wuchtige Quader, aufrecht die einen, andere gestürzt und schon tief in die Erde gesunken, wie von einer großen Gewalt über diese Lichtung verstreut, von Flechten und Moos überwachsen, ein verfallener Skulpturengarten oder ein Friedhof. Nein, das war kein Moos, das waren keine Flechten auf den Steinen; das waren Hunderte, Tausende kleiner Nacktschnecken, ineinander verschlungen und übereinander kriechend bedeckten sie diese Steine an vielen Stellen, lange, schimmernde Polster. […] Der Knecht wandte sich nun einem Megalithen zu, der ihn finster überragte und goß mit einer beiläufigen Bewegung einen Essigstrahl über eine Schneckenkolonie.«
[Ransmayr, Christoph: Die letzte Welt. Roman. Mit einem Ovidischen Repertoire. Frankfurt am Main 1991, S. 49.]
»ICH HABE EIN WERK VOLLENDET | DAS DEM FEUER STANDHALTEN WIRD | UND DEM EISEN | SELBST DEM ZORN GOTTES UND | DER ALLESVERNICHTENDEN ZEIT || WANN IMMER ER WILL | MAG NUN DER TOD | DER NUR ÜBER MEINEN LEIB | GEWALT HAT | MEIN LEBEN BEENDEN || ABER DURCH DIESES WERK | WERDE ICH FORTDAUERN UND MICH | HOCH ÜBER DIE STERNE EMPORSCHWINGEN | UND MEIN NAME | WIRD UNZERSTÖRBAR SEIN«
[Ransmayr, Christoph: Die letzte Welt. Roman. Mit einem Ovidischen Repertoire. Frankfurt am Main 1991, S. 50f.]
»Pythagoras stand am Rand des Lichtkreises und schabte mit einem dürren Stück Holz Schneckenreste aus der tief gemeißelten Gravur des ICH und sagte, was er sagen mußte, den Namen seines Herrn. | Aber wo war Naso?«
[Ransmayr, Christoph: Die letzte Welt. Roman. Mit einem Ovidischen Repertoire. Frankfurt am Main 1991, S. 51.]
»Aber wo war Naso? War er am Leben? Hielt er sich in dieser Wildnis verborgen? Fort, sagte Pythagoras nur, er ist fort. Was bedeutete fort? Fort bedeutete, daß Ovid sich eines Morgens wie immer erhoben und das Fenster geöffnet hatte, daß er das Eis im großen Steintrog des Hofes mit einer Axt aufschlug und einen Krug Wasser schöpfte; fort bedeutete, daß an irgendeinem Wintermorgen alles wie immer gewesen und Naso ins Gebirge gegangen und nicht wiedergekommen war. Wie lange dieser Morgen, dieser Winter zurücklag? Ein Jahr? Zwei Jahre? Und hatte jemand nach demVerschwundenen gesucht? Aber jetzt zuckte der Knecht nur die Achseln und schwieg. Das ICHschimmert nun blank, wie frisch gemeißelt auf dem Menhir. Pythagoras warf sein Schabwerkzeug zufrieden fort, trat einen Schritt zurück und betrachtete seine Arbeit: | ICH HABE EIN WERK VOLLENDET.«
[Ransmayr, Christoph: Die letzte Welt. Roman. Mit einem Ovidischen Repertoire. Frankfurt am Main 1991, S. 51f.]
»Erfüllt von einer Heiterkeit, die mit jedem Schritt wuchs und manchmal kichernd aus ihm hervorbrach, stieg Cotta durch wüstes Geröll den Halden von Trachila entgegen, dem neuen Berg. Hier war Naso gegangen; dies war Nasos Weg. Aus Rom verbannt, aus dem Reich der Notwendigkeit und Vernunft, hatte der Dichter die Metamorphoses am Schwarzen Meer zu Ende erzählt, hatte eine kahle Steilküste, an der er Heimweh litt und fror, zu seiner Küste gemacht und zu seinen Gestalten jene Barbaren, die ihn bedrängten und in die Verlassenheit von Trachila vertrieben. Und Naso hatte schließlich seine Welt von den Menschen und ihren Ordnungen befreit, indem er jede Geschichte bis an ihr Ende erzählte. Dann war er wohl auch selbst eingetreten in das menschenleere Bild, kollerte als unverwundbarer Kiesel die Halden hinab, strich als Kormoran über die Schaumkronen der Brandung oder hockte als triumphierendes Purpurmoos auf dem letzten, verschwindenden Mauerrest einer Stadt.«
[Ransmayr, Christoph: Die letzte Welt. Roman. Mit einem Ovidischen Repertoire. Frankfurt am Main 1991, S. 286f.]
»Daß ein griechischer Knecht seine Erzählungen aufgezeichnet und um jedes seiner Worte ein Denkmal errichtet hatte, war nun ohne Bedeutung und bestenfalls ein Spiel für Verrückte: Bücher verschimmelten, verbrannten, zerfielen zu Asche und Staub; Steinmale kippten als formloser Schutt in die Halden zurück, und selbst in Basalt gemeißelte Zeichen verschwanden unter der Geduld von Schnecken. Die Erfindung der Wirklichkeit bedurfte keiner Aufzeichnungen mehr.«
[Ransmayr, Christoph: Die letzte Welt. Roman. Mit einem Ovidischen Repertoire. Frankfurt am Main 1991, S. 287.]
»Die einzige Inschrift, die noch zu entdecken blieb, lockte Cotta ins Gebirge: Er würde sie auf einem im Silberglanz Trachilas begrabenen Fähnchen finden oder im Schutt der Flanken des neuen Berges; gewiß aber würde es ein schmales Fähnchen sein − hatte es doch nur zwei Silben zu tragen. Wenn er innehielt und Atem schöpfte und dann winzig vor den Felsüberhängen stand, schleuderte Cotta diese Silben manchmal gegen den Stein und antwortete hier!, wenn ihn der Widerhall des Schreies erreichte, denn was so gebrochen und so vertraut von den Wänden zurückschlug, war sein eigener Name.«
[Ransmayr, Christoph: Die letzte Welt. Roman. Mit einem Ovidischen Repertoire. Frankfurt am Main 1991, S. 287f.]
»Vielleicht hätte er dieses Gespinst aus Lumpen, Schnüren und Blüten niemals wieder entwirrt und die gebleichten Kritzeleien ebenso vergessen, wie er auch Famas Gerede und allmählich selbst Romvergaß, wäre nicht an einem Jännermorgen diese verwilderte Frau durch die Gassen der eisernen Stadt geirrt, ein barfüßiges, von der Krätze und Geschwüren entstelltes Wesen, dessen Erscheinung schließlich nicht nur die Zerstörung des Himmels im Seilerhaus, sondern den Einsturz von Cottas Welt zur Folge haben sollte.«
[Ransmayr, Christoph: Die letzte Welt. Roman. Mit einem Ovidischen Repertoire. Frankfurt am Main 1991, S. 271f.]
»Was immer diesem Unglücklichen einmal verbrannt sei, sagte Echo, müsse wohl ein Buch über Steine gewesen sein, ein Katalog seltsamer Mineralien. In den Feuern unter ihrem Felsendach habe er jedenfalls immer nur Korallen, Versteinerungen und Kiesel gesehen, auch in der Glut das Immergleiche, Zeile für Zeile nur Steine.«
[Ransmayr, Christoph: Die letzte Welt. Roman. Mit einem Ovidischen Repertoire. Frankfurt am Main 1991, S. 118.]
»Erst als Cotta die Alte [Arachne] fragte, ob ihr der Verbannte jemals von etwas anderem erzählt habe als von der Kunst des Fliegens und der Vogelwelt, von Kristallen etwa, von Versteinerungen und Erzen, schüttelte sie den Kopf. | Niemals? | Niemals.«
[Ransmayr, Christoph: Die letzte Welt. Roman. Mit einem Ovidischen Repertoire. Frankfurt am Main 1991, S. 198.]
»Hatte Naso jedem seiner Zuhörer ein anderes Fenster in das Reich seiner Vorstellungen geöffnet, jedem nur die Geschichten erzählt, die er hören wollte oder zu hören imstande war? Echo hatte ein Buch der Steine bezeugt, Arachne ein Buch der Vögel. Er frage sich, schrieb Cotta in einem respektvollen Brief an Cyane, der die Via Anastasio niemals erreichen sollte, er frage sich, ob die Metamorphoses nicht von allem Anfang gedacht waren als eine große, von den Steinen bis zu den Wolken aufsteigende Geschichte der Natur.«
[Ransmayr, Christoph: Die letzte Welt. Roman. Mit einem Ovidischen Repertoire. Frankfurt am Main 1991, S. 198.]