Vorlesung: Die Literatur des 20. Jahrhunderts (WS 2016/17)
Prof. Dr. Albert Meier

Die Literatur des 20. Jahrhunderts – Rainald Goetz: Rave

Zum Ende des 20. Jahrhunderts steht der vielseitige Autor Dr. phil. und Dr. med. Rainald Goetz (*1954 in München) im Zentrum der literarischen Öffentlichkeit. Stilistisch verbindet er die schon bekannte Montagetechnik mit dem innovativen Versuch, das Moment des Glückes in Musik/Tanz durch Literatur aufzubewahren.

Geprägt von der Systemtheorie des Soziologen Niklas Luhmann, praktiziert Rainald Goetz infolgedessen eine ›Beobachtung zweiter Ordnung‹, d. h. eine Selbstreflexion des Schreibens im Schreiben (die Problematik des Schreibens im Gegensatz zur Musik wird in diesem Schreiben durchgehend zum Thema gemacht).

Lesung in Klagenfurt

Bekanntheit hat Goetz erstmalig 1983 durch seine Lesung beim Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb erlangt, da er während des Lesens seine Stirn mit einer Rasierklinge aufschnitt und stark blutend weiterlas. Tat und Text bilden insofern eine Parallele, als die vorgelesene Erzählung Subito (die Passagen aus dem Erstlingsroman Irre mit Bemerkungen zur Situation des Vorlesens in Klagenfurt verschneidet) sich mit dem Bluten befasst und Goetz dabei tatsächlich geblutet hat. Auf diese Weise wird die empirische Wirklichkeit zu einer ›literarischen‹ Realität und die Literatur gewinnt zugleich faktischen Charakter:

»Ich schneide ein Loch in meinen Kopf […] es muß doch BLUTEN, ein lebendiges echtes rotes Blut muß fließen, sonst hat es keinen Sinn […].«

Nach Goetz’ Auffassung ist literarische Authentizität nur paradox als poetisch ›konstruierte‹ möglich. Um ›Echtheit‹ zu gestalten, bedarf es daher der evidenten Verfremdung, die in poetischer Konstruktion durch das Umarbeiten realen Materials praktiziert wird.

Das Werk

Rainald Goetz’ Werk kann in drei Phasen unterteilt werden: Die erste Phase setzt in den 1980er Jahren mit Romanen wie Irre (1983) und Kontrolliert (1987) sowie postdramatischen Theatertexten ein; die dritte Phase erstreckt sich von 2008-12 und umfasst Werke wie klage (2008) und loslabern (2008).

Die zweite und zentrale große Schaffungsphase erstreckt sich über die 1990er Jahre und nutzt als Material die Lebenswelt der damaligen Techno-Kultur. Unter dem Motto Heute Morgen (der Titel geht auf einen running-gag der Harald Schmidt Show zurück: »Heute morgen, um 4 Uhr 11, als ich von den Wiesen zurückkam, wo ich den Tau aufgelesen habe«) entsteht ein fünfteiliges Werk, dessen einzelne Bände sich im Umfang und in ihrer Art sehr voneinander unterscheiden:

Rave

Leittext ist dabei die Erzählung Rave (1998), die weder eine nacherzählbare Handlung noch klar definierte Figuren aufweist. Ziel ist es Glückserfahrungen, die im Nachtleben der Techno-Kultur oder bei der love parade erlebt wurden, mit den Mitteln der Literatur aufzugreifen. Anders als die Musik kann die Literatur die Unmittelbarkeit solcher Augenblicke nicht selbst hervorrufen, weshalb Goetz ein Äquivalent für ›wirkliches‹ Erleben zu schaffen versucht, indem er Realitätsfragmente in einen neuen, alternativen Kontext einmontiert. Ziel ist dabei, die grundsätzliche Abstraktheit von Texten zu überwinden und sie auf einer zweiten, reflektierten Ebene erlebbar zu machen.

Goetz, Rainald: Subito. In: Goetz, Rainald: Hirn. Frankfurt/M. 1986 (es 1320), S. 9-21, hier S. 9, S. 20.


Goetz, Rainald: Jahrzehnt der schönen Frauen. Berlin 2001, S. 147.

Rainald Goetz: Dankrede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2015

»Wie wollen wir leben? Die letzte Anrufung soll der Stadt meiner Väter Wien gelten. Was ist das Ergebnis dieser Rede, Wanda, wenn jemand fragt, wofür du stehst? Wenn jemand fragt, wofür du stehst sag: für AMORE, Amore«

[Goetz, Rainald: Dankrede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2015 (https://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/georgbuechner-preis/rainald-goetz/dankrede).]


Rainald Goetz: Subito

»[…] notwendig ist das einfache wahre Abschreiben der Welt.«

[Goetz, Rainald: Subito. In: Goetz, Rainald: Hirn. Frankfurt/M. 1986 (es 1320), S. 9-21, hier S. 19.]


Rainald Goetz: Dekonspiratione

»… einen Realismus abstrakterer Art, der seine eigene Plausibilität für sich haben würde. Wo man beim Lesen sagen würde, ja, stimmt, so fühlt sich das manchmal an, in einem, im Denken.«

[Goetz, Rainald: Dekonspiratione. Erzählung. Frankfurt/M. 2000, S. 138.]


Rainald Goetz: Subito

»Ich schneide ein Loch in meinen Kopf, in die Stirne schneide ich das Loch. Mit meinem Blut soll mir mein Hirn auslaufen. Ich brauche kein Hirn nicht mehr, weil es eine solche Folter ist in meinem Kopf. Ihr folterts mich, ihr Schweine, derweil ich doch bloß eines wissen möchte, wo oben, wo unten ist und wie das Scheißleben geht. Wie geht das Scheißleben? Wenn es mir keiner sagt, dann muß ich es eben tun, das Schreien, laut werde ich schreien, bis mir die Angst vergeht. Und ich schreie nichts Künstliches daher, sondern echte Schreie, die mir blutig bluten.«

[Goetz, Subito (Anm. 5), hier S.20.]


Goetz, Rainald: Irre

»Der Klinikdirektor hatte ihn zu sich zitiert. Raspe ging nicht hin. Was sollte er sprechen mit diesem Menschen? Der Stationsarzt beschwor Raspe. Noch vor kurzem wäre Raspe hingegangen, um dem Direktor voll in die Eier zu haun und ihm die Maske der braun gebrannten Gesichtshaut samt schlohweiß weißem Haar herunterzureißen. Doch wozu, fragte Raspe sich jetzt, sollte er den Direktor enttarnen?«

[Goetz, Rainald: Irre. Roman. Frankfurt/M. 1983, S. 107.]


Rainald Goetz: Subito

»Das ist doch ein Schmarren, sagte Raspe, das ist doch ein Krampf, denen was vorzulesen, was eh in meinen Roman hineingedruckt wird, eine tote Leiche wäre das, die ich mitbringen täte und hier voll tot auf den Tisch hin legen täte, ich bin doch kein Blödel nicht, ich lege denen doch keinen faulig totig stinkenden Kadaver da vor sie hin, von dem sie eine Schlafvergiftung kriegen müssen, es muß doch BLUTEN, ein lebendiges echtes rotes Blut muß fließen, sonst hat es keinen Sinn, wenn kein gescheites Blut nicht fließt, dann ist es bloß ein Pippifax oder ein ausgelutschter Büstenhalterträger, aber logisch nichts Gescheites, ein Blut ein Blut ein Blut, das müßte raus fließen, Spritz Quill Ström […].«

[Goetz, Subito (Anm. 5), hier S. 9f.]


Rainald Goetz: Jahrzehnt der schönen Frauen

»Ich habe keine Angst vor Verflachung, wohl aber vor dem Sumpf der Seriosität.«

[Goetz, Rainald: Jahrzehnt der schönen Frauen. Berlin 2001, S. 124.]


»Glauben Sie daran, glauben Sie an Authentizität?

Ja natürlich. Also ich glaube an die Konstruktion dieser Form, an konstruierte Authentizität. Ich glaube natürlich nicht, daß es je im Text eine wirkliche, wahre, unmittelbare Authentizität geben könnte. Aber ich glaube daran, daß es richtig ist, daß man als einzelner Leser, als Schreiber genau diese Frage sich stellt: wer bist du? Ganz direkt. Andere sagen, hör mal, ich habe mir da eine Geschichte ausgedacht, folgendermaßen; das geht natürlich auch. Aber die Idee Authentizität ist von etwas anderem fasziniert, von Problemen wie: wie kriegen die Leute ihr Leben hin in echt?«

[Goetz, Jahrzehnt (Anm. 10), hier S. 146f.]


»[…] dieses größere Projekt über die 90er Jahre […]«

[Goetz, Jahrzehnt (Anm. 10), hier S. 137.]


Rainald Goetz: Rave

»Aber wie war alles wirklich?«

[Goetz, Rainald. Rave. Erzählung. Frankfurt/M. 1998, S. 23.]


Rainald Goetz: Abfall für alle

»Gibt es eigentlich Literatur, die Trance produziert? Die hypnotische Effekte hervorruft? So toll das Moderne-Projekt von Gertrude Stein ist, wo ein Aspekt ja vielleicht in diese Richtung zielt, leider NERVT es eben doch auch sehr. Und das tuen hypnotische Musiken ja gerade NICHT. […] Wahrscheinlich eben doch einfach ein Privileg der Musik.«

[Goetz, Rainald: Abfall für alle. Roman eines Jahres. Frankfurt/M. 1999, S. 218.]


»Musik füllt den Raum, Schrift NICHT.«

[Goetz, Abfall für alle (Anm. 14), hier S. 213.]


Westbam: Mix, Cuts & Scratches

»Diese geraden Beats, ich glaube, das ist eigentlich Disco-Heritage. Das ist letztendlich das, was die Leute als das Glück, das Beglückende und Glückbringende dieser Musik empfinden. Sozusagen die Heilsbotschaft. Die läuft über dieses ›bumm bumm bumm‹-Ding.«

[Westbam: Mix, Cuts & Scratches. Mit Rainald Goetz. Berlin 1997, S. 12.]


Rainald Goetz: Rave

»Im Feuilleton ist die Besprechung von − un, dos, tres − Ricky Martins Erzählung ›Dekonspiratione‹, wo es um Schirrmachers Selbstmord wegen seiner Stasi-Verstrickungen geht.«

[Goetz, Rave (Anm. 13), hier S. 135.]


Rainald Goetz: Abfall für alle

»Bei mir stimmen die Details immer extra genau NICHT, damit das Echte als Ganzes besser
stimmt.«

[Goetz, Abfall für alle (Anm. 14), hier S. 495.]


Rainald Goetz: Rave

»Es gibt kein Gestern im Leben der Nacht.«

[Goetz, Rave (Anm. 13), hier S. 229.]


»Der Verfall beginnt.«

[Goetz, Rave (Anm. 13), hier S. 15.]


»Und so geschah es, daß – Die Zeit wird kommen, sprach der Herr, da ich zu den Menschen sprechen werde. Und er nahm sich als Werkzeug die Members, die da waren: Members of Mayday. Er sprach: sehet her und kommt alle, denn ihr seid alle Teil von meinem Reiche, das da kommen soll, das königreiche Königreich der Räusche und Geräusche. Dann gab er seiner Musik diesen Namen: Sonic Empire. Und er führte die Hand seiner Musiker an den Maschinen glücklich. Die so gemachte Musik ließ er dann pressen auf allerlei Weise, auf Tonträger aller Art, natürlich auch auf Platte. Und der Herr hatte beschlossen: diese Platte da wird rulen. So sollte es geschehen. Es kam dann jenes Frühjahr und es kam jener Mayday und der folgende Sommer, und es war, wie der Herr es beschlossen hatte, in seinem unerfindlichen Ratschluß, dies der Sommer des Sonic Empire der Members of Mayday. So war es bestimmt, und wie es bestimmt war, so war es geschehen. Alles geschah so. Und es geschah alles, im Namen des Herrn. Gepriesen sei der Name des Herrn. Denn sein Name ist groß.«

[Goetz, Rave (Anm. 13), hier S. 79.]


Rainald Goetz: Jahrzehnt der schönen Frauen

»Ich finde schon, dass ›Rave‹ ein Buch über die Nacht ist, das ein paar Sachen fasst und trifft. Aber jeder WIRKLICHE Rave ist natürlich tausend-, milliardenfach mal mehr, in jeder Hinsicht: mehr Worte, mehr Wahrheit, mehr Menschen, mehr Musik, mehr Leben, mehr Bier, mehr Meer. […] Die Schrift kann, gerade im Gegensatz zum Bild, ganz wenig, sie ist wirklich ein trauriger Krüppel. Aber für den, der die Schrift liebt, ist dieser traurige, der Welt hinterherhinkende Krüppel das Inbild des richtigen Lebens.«

[Goetz, Jahrzehnt (Anm. 10), hier S. 176f.]


Rainald Goetz: Rave

»You play the music − | I write the book.«

[Goetz, Rave (Anm. 13), hier S. 26.]


Rainald Goetz: Abfall für alle

»Tolle Summe also kurz gesagt: Kunst haut einen um, Kritik bringt einen zum Denken.«

[Goetz, Abfall für alle (Anm. 14), hier S. 257.]