Poststrukturalismus und Dekonstruktion
Prof. Dr. Albert Meier
Vorbemerkung
Obwohl der Poststrukturalismus die Basis-Annahmen des klassischen Strukturalismus negiert, behält die Strukturale Textanalyse (vgl. die Lerneinheit zum Strukturalismus) ihre Berechtigung. Die poststrukturalistische Kritik begrenzt jedoch die Reichweite strukturaler Analysen: Struktur-Analysen können nur bestimmte Aspekte von Texten erfassen und sind – wie jede Methode – für andere Aspekte zwangsläufig blind; dies gilt insbesondere für literarische ›Ironie‹ (= alle Arten uneigentlichen Sprechens), die sich strukturalen Analysen grundsätzlich entzieht, vom poststrukturalistischen Blick aber ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt wird.
Insgesamt gilt: Jede Arbeit an Texten setzt voraus, dass man weiß, was man will und weshalb man sich für eine bestimmte Methode entscheidet! Das bedeutet vor allem, dass man sich über die jeweiligen Grenzen des eigenen Vorgehens Rechenschaft ablegt, also selbstkritisch arbeitet und stets das eigene Verhalten kritisch reflektiert.
Begriffsklärung
1) Poststrukturalismus: Zeichentheorie ›nach‹ dem klassischen Strukturalismus à la de Saussure, die insbesondere das Verständnis vom ›Zeichen‹ (›signe‹) als fester Koppelung von ›Bezeichnendem‹ (›signifiant‹) und ›Bezeichnetem‹ (›signifié‹) revidiert; der poststrukturalistischen Auffassung zufolge verweisen Zeichen nicht auf (reale) Referenten, sondern immer nur auf andere Zeichen; der entscheidende Ansatz zur Kritik an der Konzeption de Saussures fußt auf der Bevorzugung der ›Schrift‹ gegenüber der ›Lautsprache‹ im klassischen Strukturalismus (vgl. Derridas Grammatologie).
2) Postmoderne: Kunststil (insbesondere Architektur und Literatur) ›nach‹ der Moderne, d. h. unter Verzicht auf das moderne Postulat beständiger Innovation; postmoderne Kunst entsteht vor dem Hintergrund der poststrukturalistischen Zeichentheorie und arbeitet häufig mit dekonstruktivistischen Verfahren; Kriterien sind in erster Linie Intertextualität, Popularität und Pluralität des Sinns.
3) Dekonstruktion: poststrukturalisches Analyseverfahren, das nicht auf die Rekonstruktion der sinnhaften Ordnungen in einem Text zielt, sondern untersucht, inwiefern die Ordnungsstrukturen (Oppositionen) nur scheinbar gelten, weil die Zeichen ihrer Sprachlichkeit wegen der vermeintlichen Ordnung widersprechen (Dekonstruktion zeigt auf, warum die von der strukturalen Textanalyse beanspruchte Rekonstruktion von Sinn nicht möglich ist).
Beispiel für ›postmoderne‹ = dekonstruktivistische Kunst
Jasper Johns: Three Flags (1958; Whitney Museum of American Art, New York) (externer Link)
Die Stars and Stripes-Flagge ist ›an sich‹ ein Zeichen für das politische Gebilde ›Vereinigte Staaten von Amerika‹, soll also direkt auf einen realen Sachverhalt verweisen. – Indem Jasper Johns ein dreifaches Abbild des Sternen-Banners malt, kappt er diese Beziehung des Zeichens zum Bezeichneten und macht das Zeichen ›selbstreferenziell‹: Das postmoderne Gemälde stellt jetzt die ›Zeichenhaftigkeit‹ der Flagge aus, weil das Zeichen ›Flagge‹ in sich selbst kopiert wird.
Damit ist keine politisch-ideologische Kritik an der Realität ›USA‹ intendiert, sondern eine kunstimmanente Reflexion des ästhetischen Materials. Deutlich wird die Differenz zwischen ›Flagge‹ und ihrem Dreifach-Abbild an folgendem Gedankenspiel: Würde das Verbrennen (einer Reproduktion) von Jasper Johns’ Gemälde in gleicher Weise einen Protest gegen die Politik der USA ›bedeuten‹ können, wie das dem Verbrennen einer (nachgemachten) Fahne gelingt? – Wohl nicht, weil beim Kunstwerk eben die politische Wirklichkeitsreferenz suspendiert ist; mit dem Verbrennen des Gemäldes (bzw. einer Kopie) könnte daher bestenfalls gegen Kunst protestiert werden.
Poststrukturalismus als Kritik des klassischen Strukturalismus à la de Saussure
Ferdinand de Saussure (1857-1913) hat das sprachliche Zeichen als starre ›Struktur‹ von ›signifiant‹ (›Bezeichnendes‹) und ›signifié‹ (›Bezeichnetes‹) verstanden. Dabei setzt er zweierlei voraus:
• Zeichen sind ›distinkt‹ (gegeneinander abgegrenzt/isoliert)
• zwischen ›signifiant‹ und ›signifié‹ gibt es keine ›motivierte‹ Beziehung, d.h. die Verbindung von Zeichen und Bezeichnetem/Ding ist rein ›arbiträr‹ (›willkürlich‹/ ›zufällig‹).
Beispiel: Das Wort (bzw. die Lautfolge) ›Apfel‹ verweist auf die Frucht ›Apfel‹ und nur auf diese (man kann zu einem Apfel daher nicht sinnvollerweise ›Birne‹ sagen). – Für diese Beziehung von Wort und Ding gibt es aber keinerlei inneren, sachlich zwingenden = objektiven Grund.
Kritikpunkte des Poststrukturalismus am klassischen Strukturalismus
1) Die poststrukturalistische Sprach- bzw. Zeichen-Theorie bestreitet die strukturalistischen Zentral-Postulate der ›Starrheit‹ und ›Willkürlichkeit‹ in der Verbindung von Zeichen und Ding ebenso wie die These von der absoluten Distinktivität/Abgegrenztheit des einen Zeichens von den anderen: Sprache ist immer mehrdeutig und offen, weil sprachliche Zeichen sich nicht in ihrer konkreten Bezeichnungsfunktion erschöpfen, sondern untereinander kommunizieren: Wörter z.B. sind – ihrer Etymologie wegen – semantisch ›unrein‹, beziehen aus dieser Kontamination ihr ›Eigenleben‹ und bedeuten daher ›mehr‹, als ihr Sprecher damit intendiert (Wörter haben also keine ›Bedeutung‹, die jeweils auf ein einziges Objekt fokussiert wäre, sondern ›streuen‹, weil sie immer in assoziativem Kontakt mit anderen Zeichen stehen – vgl. Jacques Derridas Begriff ›dissémination‹ = Streuung).
Beispiel: Auch in der Alltagssprache unterlaufen vielfach Doppeldeutigkeiten wie z.B.: »Ist der Professor bei sich?« (›befindet er sich in seinem Dienstzimmer?‹ ↔ ›ist er bei Bewusstsein?‹)
Die semantische Autonomie aller Zeichen (nicht nur der sprachlichen!) hat nicht bloß Missverständnisse zur Folge, sondern ist die Voraussetzung für jedes ›uneigentliche‹ Sprechen (Ironie/Tropen). Sie verhindert aber zugleich, dass ein Sprecher seine Äußerungen vollständig kontrolliert und exakt ›weiß‹, was er sagt (die Sprache redet ihm gewissermaßen
drein).
Beispiel: Marcel Reich-Ranickis Antwort auf Martin Walsers Dankesrede für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (11.10.1998)
»Ich sehe in seiner Rede keinen einzigen wirklich empörenden Gedanken. Aber es wimmelt in ihr von unklaren und vagen Darlegungen und Formulierungen, die mißverstanden werden können und von denen manche – das war doch vorauszusehen – mißverstanden werden müssen.« (Reich-Ranicki 1999, S. 324)
⇒ Marcel Reich-Ranickis Antwort dementiert sich selbst: Der Sprecher will sagen, dass Martin Walsers Rede zwangsläufig missverstanden wurde, weil sie zu unklar war (›müssen‹ ist hier also deskriptiv gemeint) – tatsächlich sagt er jedoch das Gegenteil: Man soll ›missverstehen‹, damit man missverstehen kann (›müssen‹ hat eben auch eine imperativisch/normative Bedeutung).
2) Poststrukturalistische Kern-These: Es gibt keine starre Struktur-Beziehung von ›signifiant‹ und ›signifié‹! – Weil Zeichen autonom sind, beziehen sie sich gar nicht wirklich auf Dinge bzw. Sachverhalte, sondern sind ›selbstreferenziell‹ (d.h. sie stehen in einem permanenten, aber offenen Wechselverhältnis zu anderen Zeichen); Zeichen sind daher nicht bloß durch ihre Bezeichnungsfunktion definiert, sondern müssen als eigenständig = substanziell ernst genommen werden.
René Magrittes Gemälde Ceci n’est pas une pomme (»Das hier ist kein Apfel«)(1964) kann als gemalte Zeichen-Theorie im Sinn des Poststrukturalismus verstanden werden: Es zeigt keinen Apfel, sondern dessen ›Abbild‹ – der abgebildete ›Apfel‹, den niemand essen kann, ›ist‹ in der Tat kein Apfel, sondern bloß dessen Zeichen, das assoziativ sofort weitere Bedeutungen abzurufen vermag (z.B.: ›Sündenfall‹/›Wurm‹).
Jacques Derrida: De la grammatologie (1967)
Jacques Derrida (1930–2004) kann als Hauptvertreter des Poststrukturalismus und als Begründer der Dekonstruktion gelten. Mit seinem Hauptwerk De la grammatologie (›Wissenschaft von der Schrift‹) leistet er u. a. eine Grundsatzkritik an der klassischen Zeichentheorie de Saussures, der er insbesondere einen ›Logozentrismus‹ = ›Phonozentrismus‹ vorwirft (die Bevorzugung der Lautsprache gegenüber der Schrift).
Im Gegensatz zu de Saussure versteht Derrida ›Schrift‹ nicht als sekundäres Phänomen ›nach‹ der gesprochenen Sprache, sondern als etwas Eigenständiges. Die aus dieser Gegenposition resultierende Zeichentheorie bestreitet die Annahme de Saussures, ›Zeichen‹ würden auf Referenten in der Wirklichkeit verweisen, und setzt die These dagegen, dass Zeichen immer nur auf andere Zeichen referieren.
Da die Zeichen folglich keine feste Bindung an außersprachliche Referenten eingehen können, sondern ›streuen‹ (→ ›dissémination‹), ergibt sich daraus ein ›freies Spiel der Signifikanten‹:
Es gibt kein Signifikat, das dem Spiel aufeinander verweisender Signifikanten entkäme, welches die Sprache konstituiert, und sei es nur, um ihm letzten Endes wieder anheimzufallen. (Derrida 1983, S. 17f.) (Zitat in französischen Original im Reiter “weitere Zitate” am Ende der Seite)
Bei der Lautsprache ist der Sprecher ›anwesend‹ und kann dadurch die ›Präsenz‹ des Sinns garantieren. Bei der ›Schrift‹ (= alle Zeichen ohne gegenwärtigen Urheber) ist der Urheber jedoch abwesend, da das Schreiben immer schon in der Vergangenheit liegen muss − damit ist der Sinn offen bzw. kann nicht auf je einen bestimmten Referenten bezogen werden.
Jacques Derrida: la différance
Derrida hat den für die Dekonstruktion zentralen Neologismus ›différance‹ zuerst in einem Vortrag vor der Société française de philosophie am 27. 1. 1968 entwickelt (abgeleitet von frz. ›différer‹: abweichen + ver- bzw. aufschieben; aus lat. ›differre‹). Das unübersetzbare ›différance‹ belegt die Eigenständigkeit der Schrift, da die grafische Variation (›différance‹ statt ›différence‹) nur geschrieben, aber nicht gesprochen werden kann (das Französische kennt hierfür keinen phonetischen Unterschied). Die ›différance‹ (dt.: ›Differanz‹ statt ›Differenz‹) ist als zentrale Eigenschaft bzw. Kraft von Zeichen zu verstehen: Diese ›verschieben‹ den Sinn unvermeidlicherweise.
Aus dem Konzept der ›différance‹ leitet Derrida seine Fundamentalkritik an der Zeichentheorie de Saussures ab:
1) Laut de Saussure können Zeichen sinntragend sein, weil sich jedes Zeichen durch seine Differenz zu den anderen definiert (›Apfel‹ = nicht ›Birne‹ etc.). − Dabei versteht de Saussure das sprachliche Zeichen als sekundär gegenüber dem damit bezeichneten Objekt:
Das Zeichen, so sagt man gewöhnlich, setzt sich an die Stelle der Sache selbst, der gegenwärtigen Sache, wobei ›Sache‹ hier sowohl für die Bedeutung als auch für den Referenten gilt. Das Zeichen stellt das Gegenwärtige in seiner Abwesenheit dar. Es nimmt dessen Stelle ein. Wenn wir die Sache, sagen wir das Gegenwärtige, das gegenwärtig Seiende, nicht fassen oder zeigen können, wenn das Gegenwärtige nicht anwesend ist, bezeichnen wir, gehen wir über den Umweg des Zeichens. Wir empfangen oder senden Zeichen. Wir geben Zeichen. Das Zeichen wäre also die aufgeschobene (différée) Gegenwart. (Derrida 1988, S. 37f.) (Zitat in französischen Original im Reiter “weitere Zitate” am Ende der Seite)
2. Während de Saussure das Verhältnis zwischen Objekt und Zeichen als temporale Differenz erläutert, nutzt Derrida im Begriff der différance die semantische Doppeldeutigkeit von ›différer‹, das sowohl ›aufschieben‹ (temporal) als auch ›verschieben‹ (räumlich) meinen kann. Demzufolge begreift er das Verhältnis zwischen Objekt und Zeichen als räumliches, so dass kein Zeichen wirklich das Objekt vertreten kann (wie de Saussure annimmt), sondern immer in Distanz dazu steht und Beziehungen zu anderen Zeichen ausspielt:
Jeder Begriff ist seinem Gesetz nach in eine Kette oder in ein System eingeschrieben, worin er durch das systematische Spiel von Differenzen auf den anderen, auf die anderen Begriffe verweist. (Derrida 1988, S. 40) (Zitat in französischen Original im Reiter “weitere Zitate” am Ende der Seite)
Dekonstruktion als methodologische Konsequenz des Poststrukturalismus
a) Was ist Dekonstruktion?
Prämisse: Der Strukturalismus versucht, den ›Sinn‹ eines Textes zu ›re-konstruieren‹, indem er die Organisation der Text-Elemente in ihrem Verhältnis zueinander ermittelt – die Dekonstruktion bestreitet die Möglichkeit eines ›einzigen‹ Textsinns und richtet deshalb das eigene Erkenntnisinteresse darauf aus, die jedem Text inhärenten Widersprüche aufzuspüren. Literarische Texte können nicht als geschlossene Gebilde behandelt werden, sondern sollen ihre sprachlich bedingte Offenheit ausspielen können (→ programmatischer Verzicht auf das hermeneutisch/strukturalistische Kohärenz-Postulat).
Der Poststrukturalismus begreift die Zeichen als ›nicht-distinkt‹, da sie stets in einem (nicht starren) Verhältnis zu anderen Zeichen stehen: Zeichen bilden daher immer ›Gewebe‹, d.h. ›Texte‹, deren Verflechtung verhindert, dass ein ›Autor‹ volle Verfügungsgewalt über seine spezifische Zeichen-Verwendung gewinnt. – Die Sprache setzt den Sprechern sozusagen ›Widerstand‹ entgegen, weil sie mehr ist als bloßes Instrument der Bedeutungszuweisung.
Hier setzt die ›Dekonstruktion‹ an: Sie fragt nach den Widersprüchen zwischen dem ›Gemeinten‹ und dem ›Gesagten‹, um jeweils den Nachweis zu führen, dass logisch konstruierte Hierarchien aufgrund der Zeichen-Autonomie nicht funktionieren können.
⇒ Es geht hier um die Kritik am sog. ›Logozentrismus‹ der abendländischen Metaphysik, die auf der Illusion beruht, mit dem Instrument der menschlichen Ratio könnte die Wirklichkeit vollständig begriffen und dadurch auch beherrschbar gemacht werden! – Dem wird entgegengehalten, dass wir unser rationales Handwerkszeug – die Sprache – gar nicht kontrollieren können.
b) Technik der Dekonstruktion
Prämisse: Jeder ›Autor‹ will seinen ›Text‹ so strukturieren, dass er eine Ordnung/Hierarchie zum Ausdruck bringt. Ihrer Sinnlichkeit/Unreinheit wegen setzt die Sprache solchen Strukturierungsabsichten Widerstand entgegen.
Methode: Die Dekonstruktion sucht nach Widersprüchen zwischen dem ›offensichtlich‹ Gemeinten und dem ›tatsächlich‹ Gesagten, indem die Sprache beim Wort genommen wird: Die Analyse bezieht sich insbesondere auf die Mehrdeutigkeit der Zeichen, die aus der zwangsläufigen ›Uneigentlichkeit‹ allen Sprechens resultiert (insbesondere muss nach Metaphern und Metonymien gesucht werden, die mehrdeutig sind und den ›eigentlichen‹ Sinn konterkarieren).
Ziel: Die Dekonstruktion will jeweils an konkreten ›Texten‹ aufzeigen, auf welche Weise ihnen im konkreten Fall ein bestimmter ›Sinn‹ von außen (durch einen ›Autor‹-Willen) aufgezwungen worden ist und ›wie‹ sich die Sprache gegen diese logozentrische Gewalt zur Wehr setzt. Insofern geht es insbesondere darum, nicht begründbare Ordnungen/ Hierarchien/Systeme sprachkritisch zu hinterfragen und in ihrer Gültigkeit zu problematisieren.
Beispiel einer dekonstruktivistischen Analyse: Friedrich Schiller: Die Antike (an einen Wanderer aus Norden) (1795)
Über Ströme hast du gesetzt und Meere durchschwommen,
Über der Alpen Gebirg trug dich der schwindlichte Steg,
Mich in der Nähe zu schauen und meine Schöne zu preisen,
Die der begeisterte Ruf rühmt durch die staunende Welt;
Und nun stehst du vor mir, du darfst mich Heilge berühren,
Aber bist du mir jetzt näher und bin ich es dir?
Hinter dir liegt zwar dein nebligter Pol und dein eiserner Himmel,
Deine arkturische Nacht flieht vor Ausoniens Tag,
Aber hast du die Alpenwand des Jahrhunderts gespalten,
Die zwischen dir und mir finster und traurig sich türmt?
Hast du von deinem Herzen gewälzt die Wolke des Nebels,
Die von dem wundernden Aug’ wälzte der fröhliche Strahl?
Ewig umsonst umstrahlt dich in mir Ioniens Sonne,
Den verdüsterten Sinn bindet der nordische Fluch. (Schiller 1992, S. 433)
Die 7 heroischen Distichen (antike Versform) behaupten ›scheinbar‹ die parallelen Oppositionen Süden vs. Norden und Antike vs. Moderne. Da die Antike spricht, entsteht vordergründig der Eindruck, dass die Antike (bzw. der Süden) der Moderne (bzw. dem Norden) überlegen sei. In konventioneller Interpretation ließe sich das z.B: in folgender Weise erläutern:
a) Das Gedicht illustriert Schillers Geschichtsphilosophie, die von der wesensmäßigen Differenz zwischen ›naiver‹ Antike und ›sentimentalischer‹ Moderne ausgeht.
b) Schiller rechtfertigt mit der Behauptung, durch eine Reise in den Süden lasse sich die Antike nicht wirklich angemessen erfahren, seinen Verzicht auf eine Reise nach Italien.
Die dekonstruktivistische Analyse zeigt jedoch auf, dass das Gedicht gar keine wirkliche Opposition von Antike/Süden und Moderne/Norden konstruiert:
a) Hier lässt ein nördlicher Autor die Antike sprechen und macht sich damit zur Autorität über sie.
b) Die Differenz von ›Berühren der Antike‹ (das kann der nordische Reisende im Süden − vgl. v. 5) und ›Sehen‹ (das kann der Reisende laut v. 11 und v. 14 nicht) widerlegt sich selbst, weil Vers 12 und die folgenden davon sprechen, dass das Auge des Reisenden durch den ›fröhlichen Strahl‹ südlicher Sonne befreit ist. − Hier kollidiert die Metaphorik mit sich selbst: Einerseits heißt es, dass die südliche Sonne strahlt − andererseits wird behauptet, dass eine ›Wolke des Nebels‹ das Herz des Reisenden blind macht. Die Antike nimmt für sich also in Anspruch, in ihrem Licht ›gesehen‹ werden zu können − sie verlangt aber, dass das nicht mit dem körperlichen ›Sehsinn‹ geschieht, sondern mit dem Herzen (und darauf hat die südliche Sonne begreiflicherweise keinen Einfluss). Die Antike macht dem Wanderer also einen Vorwurf, der gar nicht berechtigt ist − die Überlegenheit der Antike wird damit hinfällig.
Der Tod des Autors
Unter dem Schlagwort ›Tod des Autors‹ wendet sich Roland Barthes 1968 gegen die herkömmliche Praxis der (v. a. französischen) Literaturwissenschaft, sich bei der Frage nach dem Sinn eines Textes an den Autor zu halten und zuallererst nach der ›Autor-Intention‹ zu suchen. Die poststrukturalistische Gegen-These lautet hierzu: Ein Autor ist nicht der ›Vater‹ (= Ursprung) seines Textes, da der Text vielmehr ein Eigenleben führt. Statt vom ›Autor‹ muss man daher vom bloßen ›Aufschreiber‹/›scripteur‹ sprechen).
Es ergeben sich für die Poststrukturalistische Text-Theorie folgende Konsequenzen:
a) Kein (poetischer) Text ist original, da er sich in der Art eines ›Flicken-Teppichs‹ (›patchwork‹) immer aus heterogenem Material zusammensetzt; daher hat auch kein Text einen ›einzigen‹ Sinn:
»Heute wissen wir, dass ein Text nicht aus einer Reihe von Wörtern besteht, die einen einzigen, irgendwie theologischen Sinn enthüllt (welcher die ›Botschaft‹ des Autor-Gottes wäre), sondern aus einem vieldimensionalen Raum, in dem sich verschiedene Schreibweisen [écritures], von denen keine einzige originell ist, vereinigen und bekämpfen. Der Text ist ein Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur.« (Barthes 2000, S. 190)
b) Es folgt daraus ein limitierter Motiv-Pool der Literatur: Ein junger Mann konkurriert beispielsweise mit einem älteren und sozial überlegenen Mann um eine diesem nicht zustehende Frau ⇒ Ritter vs. König = Tristan-Motiv / Sohn vs. Vater = Don Carlos-Motiv)
c) Der ›Verfasser‹, d.h. eigentlich Auf- bzw. Abschreiber (›Kopist‹) seines eigenen Textes, ist keine Autorität über diesen Text. Die Frage nach der ›Autor-Intention‹ ist daher literaturwissenschaftlich irrelevant (›Tod des Autors‹), da auch der vermeintliche ›Auto ‹-Wille bloß eine von vielen gleichermaßen legitimen ›Lektüren‹ hervorbringt (auch der ›Autor‹ ist insofern nichts als ein ›Leser‹ ⇒ alle Lektüren sind prinzipiell gleichrangig):
»Wir wissen, dass der Mythos umgekehrt werden muss, um der Schrift eine Zukunft zu geben. Die Geburt des Lesers ist zu bezahlen mit dem Tod des Autors.« (Barthes 2000, S. 193)
Konsequenzen für die literaturwissenschaftliche Arbeit
Dekonstruktion lässt sich als Umkehrung der gleichermaßen hermeneutischen wie strukturalistischen Absicht begreifen: anstatt zu fragen, wie ein bestimmter Text richtig zu verstehen ist, wird untersucht, welche Faktoren in einem Text dessen gültiges Verständnis (Interpretation) verhindern. Dekonstruktion ist insofern eine ›negative‹ Literaturwissenschaft, weil sie sich (selbstreflexiv) auf die eigenen Grenzen konzentriert und auf Interpretation verzichtet:
− traditionelle Begriffe, die autorbezogen sind, sind obsolet (›Einfluss‹/›Entwicklung‹/ ›Autorintention‹/›Bedeutung‹)
− ›Interpretationen‹, die auf die Ermittlung des einen, objektiven Text-Sinns abzielen, sind gegenstandslos
− im Mittelpunkt der philologischen Analyse muss die Erforschung der ästhetischen Bedingungen von literarischer Uneindeutigkeit stehen, d.h. die Dekonstruktion des jeweiligen sprachlichen ›Gewebes‹:
»Die vielfältige Schrift kann nämlich nur entwirrt, nicht entziffert werden.« (Barthes: 2000, S. 191).
Zitate
“Il n’est pas de signifié qui échappe, éventuellement pour y tomber, au jeu des renvois signifiants qui constitue le langage”
Jacques Derrida: De la grammatologie. Paris 1967, S. 16
“Le signe, dit-on couramment [= im Sinne von de Saussure], se met à la place de la chose même, de la chose présente, ›chose‹ valant ici aussi bien pour le sens que pour le référent. Le signe représente le présent en son absence. Il en tient lieu. Quand nous ne pouvons prendre ou montrer la chose, disons le présent, l’étant-présent, quand le présent ne se présente pas, nous signifions, nous passons par le détour du signe. Nous prenons ou donnons un signe. Nous faisons signe. Le signe serait donc la présence différée.”
Jacques Derrida: La différance. In: Jacques Derrida: Marges de la philosophie. Paris 1972, S. 1-29, hier S. 9
“Tout concept est en droit et essentiellement inscrit dans une chaîne ou dans un système à l’intérieur duquel il renvoie à l’autre, aux autres concepts, par jeu systématique de différences.”
Jacques Derrida: La différance. In: Jacques Derrida: Marges de la philosophie. Paris 1972, S. 1-29, hier S. 11.
Quellennachweise
Barthes, Roland: Der Tod des Autors. In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Herausgegeben und kommentiert von Fotis Jannidis [u.a.]. Stuttgart 2000, S. 185-193.
Barthes, Roland: La mort de l’auteur. In: Roland Barthes: Œuvres complètes. Tome II: 1966-1973. Édition établie et présentée par Éric Marty. [Paris] 1994, S. 491-495.
Derrida, Jacques: De la grammatologie. Paris 1967.
Derrida, Jacques: La différance. In: Jacques Derrida: Marges de la philosophie. Paris 1972, S. 1-29.
Derrida, Jacques: Grammatologie. Übersetzt von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler. Frankfurt am Main 1983 (stw. 417).
Derrida, Jacques: Die différance. In: Jacques Derrida: Randgänge der Philosophie. Hrsg. von Peter Engelmann. Wien 1988, S. 29-52.
Reich-Ranicki, Marcel: Das Beste, was wir sein können. Walser, Bubis, Dohnanyi und der Antisemitismus. In: FAZ vom 2.12.1998. Zitiert aus: Frank Schirrmacher (Hg.): Die Walser-Bubis-Debatte. Eine Dokumentation. Frankfurt/M. 1999.
Schiller, Friedrich: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Herausgegeben von Otto Dann [u.a.]. Bd. 1: Gedichte. Herausgegeben von Georg Kurscheidt. Frankfurt/M. 1992 (Bibliothek deutscher Klassiker; 74), S. 433
weiterführende Literatur
(ebenso umfassend wie gut verständlich):
Culler, Jonathan : Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie. Übersetzt von Manfred Momberger. Reinbek bei Hamburg 1999 (Rowohlts Enzyklopädie Nr.55635)
weitere Titel:
Bossinade, Johanna: Poststrukturalistische Literaturtheorie. Stuttgart – Weimar 2000 (Sammlung Metzler; 324).
Jannidis, Fotis/Lauer, Gerhard/Martinez, Matias/Winko, Simone (Hgg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2000.
Neumann, Gerhard (Hg.): Poststrukturalismus – Herausforderung an die Literaturwissenschaft. Stuttgart – Weimar 1997 (Germanistische-Symposien- Berichtsbände; 18).
Plumpe, Gerhard / Werber, Niels (Hrsgg.): Beobachtungen der Literatur. Aspekte einer polykontexturalen Literaturwissenschaft. Opladen 1995.
Welsch, Wolfgang: Unsere postmoderne Moderne. Berlin 6 2002.