Literatursoziologie
Prof. Dr. Albert Meier
Vorbemerkungen
Während Strukturalismus und Poststrukturalismus poetische Texte in ihrer ästhetischen Eigenständigkeit auffassen (als ZEICHEN → eigene Wirklichkeit neben der materiellen Lebenswelt), behandeln Literatursoziologie und Cultural Studies in je unterschiedlicher Weise Literatur als gesellschaftliches Faktum bzw. Produkt gesellschaftlicher Bedingungen: Literatur existiert nicht bloß in einer eigenen Zeichenwelt, sondern auch ›real‹ – in Gestalt der Ware ›Buch‹, der Person des Autors und der vielen Elemente des Literatursystems (Verlage, Preise, Vereine etc.).
Soziologie der Literatur / Literatursoziologie
Soziologie der Literatur fragt danach, welche gesellschaftlichen Faktoren bei der Gestaltung der literarischen Öffentlichkeit beobachtbar sind. Erkenntnisziel ist dabei primär die Gesellschaft bzw. deren Teilbereich ›literarische Öffentlichkeit‹ (es geht hier also nicht um die Texte, sondern um Verlage, Literaturpreise, Literaturkritik, Leseverhalten). Literatursoziologie behandelt hingegen nicht die Gesellschaftlichkeit von Literatur, sondern versucht vielmehr – unter der Prämisse, dass Literatur vor allem Reaktion auf gesellschaftliche Realität ist (= Literatur als soziales Dokument) – soziologische Fragestellungen auf literarische Texte und deren ästhetische Gestalt anzuwenden, um sie besser verstehen zu können.
Pierre Bourdieu
Für die Literaturwissenschaft sind vor allem zwei Studien des französischen Soziologen Pierre Bourdieu von Bedeutung: zum einen die Auswertung breiter Feldforschung der 1960er Jahre (La distinction. Critique sociale du jugement; 1979) und die literatursoziologische Studie Les Règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire, in der er der Frage nachgeht, wie der gesellschaftliche Sonderbereich ›Literatur‹ bzw. ›Kunst‹ entstanden ist. Zentrale Begriffe bei Bourdieu sind ›Habitus‹, ›Kapital‹ und ›Feld‹.
›Habitus‹
›Habitus‹ beschreibt ein gesellschaftlich bedingtes (≠ zufällig) ›Verhaltensmuster‹, das sich nach Bourdieu auch auf den Bereich des ästhetischen Geschmacks übertragen lässt: Auch der Geschmack ist nicht unabhängig, sondern durch ›Klassen‹-Zugehörigkeit (soziale Herkunft + Bildungshintergrund) normiert. Der ›Habitus‹ ist so gewissermaßen ein Steuermechanismus für geistige Einstellungen und Gewohnheiten (z. B. Kunst- oder Musikgeschmack):
“Wider die charismatische Ideologie, die Geschmack und Vorliebe für legitime Kultur zu einer Naturgabe stilisiert, belegt die wissenschaftliche Analyse den sozialisationsbedingten Charakter kultureller Bedürfnisse: Nicht nur jede kulturelle Praxis (der Besuch von Museen, Ausstellungen, Konzerten, die Lektüre, usw.), auch die Präferenz für eine bestimmte Literatur, ein bestimmtes Theater, eine bestimmte Musik erweisen ihren engen Zusammenhang primär mit dem Ausbildungsgrad, sekundär mit der sozialen Herkunft.” (Bourdieu 1989, S. 17f.)
Die Beobachtung der zugrundeliegenden Strukturen lässt Hierarchien erkennen und gibt Auskunft darüber, wie Literatur in einer Gesellschaft rezipiert wird:
“Der gesellschaftlich anerkannten Hierarchie der Künste und innerhalb derselben der Gattungen, Schulen und Epochen korrespondiert die gesellschaftliche Hierarchie der Konsumenten. Deshalb auch bietet sich Geschmack als bevorzugtes Merkmal von ›Klasse‹ an.” (Bourdieu 1989, S. 18).
›Kapital‹
In Analogie zum ökonomischen Kapital beschreibt Bourdieu ebenso kulturelles und soziales Kapital. Da sich die Gesellschaft auch auf kultureller Ebene strukturiert, äußern sich in Geschmacksurteilen gesellschaftliche Strukturen: Geschmackspräferenzen ermöglichen die Anhäufung (bzw. den Verlust) von kulturellem Kapital; Literatur kann in diesem Zusammenhang als Medium begriffen werden, in dem Geschmacksäußerungen realisierbar sind.
“Nichts hebt stärker ab, klassifiziert nachdrücklicher, ist distinguierter als das Vermögen, beliebige oder gar ›vulgäre‹ (weil oft zu ästhetischen Zwecken vom ›Vulgären‹ angeeignete) Objekte zu ästhetisieren, als die Fähigkeit, in den gewöhnlichsten Entscheidungen des Alltags – dort, wo es um Küche, Kleidung oder Inneneinrichtung geht – und in vollkommener Umkehrung der populären Einstellung die Prinzipien einer ›reinen‹ Ästhetik spielen zu lassen.” (Bourdieu 1989, S. 25).
“Auch kulturelle Güter unterliegen einer Ökonomie, doch verfügt diese über ihre eigene Logik.” (Bourdieu 1989, S. 17).
›Feld‹
In Die Regeln der Kunst rekonstruiert Bourdieu die Herausbildung des ›literarischen Feldes‹ im 19. Jahrhundert für Frankreich. Der Begriff ›Feld‹ / ›champ‹ fungiert in diesem Zusammenhang als Metapher für Kampf- bzw. Konkurrenzsituationen und ermöglicht somit die Beschreibung der literarischen Öffentlichkeit im Allgemeinen wie die von Autoren, Texten und Gattungen im Speziellen:
“Das Feld ist ein Netz objektiver Beziehungen (Herrschaft oder Unterordnung, Entsprechung oder Antagonismus usw.) zwischen Positionen: der einer Gattung zum Beispiel wie dem Roman oder einer Untergattung wie dem Gesellschaftsroman oder, unter einem anderen Blickwinkel, zwischen der Position, die eine Zeitschrift, ein Salon oder ein Zirkel als Sammelpunkt einer Gruppe von Produzenten spielen.” (Bourdieu 1989, S. 365)
Und weiter heißt es:
[…] dass das Feld der Kulturproduktion Schauplatz von Kämpfen ist, die über die Durchsetzung der gültigen Definition des Schriftstellers auf die Begrenzung der Population derer zielen, die berechtigt sind, am Kampf um die Definition des Schriftstellers teilzunehmen.” (Bourdieu 1989, S. 355)
Mit der Ausdifferenzierung eines autonomen literarischen Feldes im 19. Jahrhundert entstehen auf dem literarischen Markt Konkurrenzsituationen: Der nunmehr berufsmäßige Künstler muss sich in diesen Feld platzieren und durch Strategien überhaupt erst bemerkbar machen:
“Die Erfindung der reinen Ästhetik ist somit nicht zu trennen von der Erfindung einer neuen gesellschaftlichen Figur, der des großen berufsmäßigen Künstlers.” (Bourdieu 2001, S. 184)
Bourdieu liefert damit ein Beschreibungsinstrumentarium zur Erklärung von literaturgeschichtlichen Phänomenen.
Quellennachweise
Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer. 3. Auflage. Frankfurt am Main 1989 (stw 658).
Bourdieu,Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt am Main 2001 (stw 1539).
weiterführende Literatur
Markus Joch / Norbert Christian Wolf (Hg.): Text und Feld. Literaturwissenschaftliche Praxis im Zeichen Bourdieus. Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2005.
Andreas Dörner / Ludgera Vogt: Literatursoziologie. Literatur, Gesellschaft, Politische Kultur. Opladen 1994 (WV- Studium 170)