‚Wiener Gruppe‘ / ‚Wiener Aktionismus‘ / ‚Fluxus‘
Professor Dr. Claus-Michael Ort
Vorlesung: Literatur der Avantgarden (Wintersemester 2020/21)
H. C. Artmann, Oswald Wiener, Konrad Bayer, Gerhard Rühm u.a. – (Wolf Vostell, John Cage u.a.)
Die ,Wiener Gruppe’
Die ‚Wiener Gruppe‘ (1954 – 1964) weist alle Merkmale einer ‚typischen‘ Avantgarde-Formation auf: Die soziale Institutionalisierung als Gruppe, Provokationspotential sowohl auf Signifikanten- als auch auf Signifikat-Ebene und einen poetologisch-theoretischen und programmatischen Begleitdiskurs (‚Manifeste‘), der zur Selbststilisierung der Gruppe beiträgt, und ab Mitte der 1960er Jahre, nach der Auflösung der Gruppe, in Selbsthistorisierung und nachträglicher Selbstinterpretation, ja Selbstkanonisierung mündet (v.a. bei Rühm und Wiener); vgl.: Gerhard Rühm: Die Wiener Gruppe. Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm, Wiener. Texte, Gemeinschaftsarbeiten, Aktionen. Reinbek: Rowohlt 1967.
Gerhard Rühm und Konrad Bayer sind bereits erwähnt worden – aber auch die beiden anderen Protagonisten Friedrich Achleitner und vor allem Oswald Wiener bedienen sich zeitweise der Verfahren der ‚konkreten Poesie‘: Gomringers visueller ‚Konstellationen‘-Poesie, Mons ‚Poesie der Fläche‘ oder Rühms textbilder (1955-1964, auch Döhl, später Heißenbüttel). Sie ,loten‘ in ihren Bild- oder Flächengedichten die visuelle Seite der Sprache experimentell aus, betonen zugleich aber auch die auditive, lautlich performative Komponente von Sprache und führen sie an die Grenze zu Musik und Geräusch heran. Ernst Jandl, der nicht zur ‚Wiener Gruppe‘ gehört, aber wie Friederike Mayröcker mit ihr in Kontakt stand, haben Sie noch im Ohr – steigen wir also in das Thema ‚Wiener Gruppe‘ über den lautlichen Weg, über Dialektgedichte als Lautgedichte, ein!
H. C. Artmann
H. C. Artmann nutzt wie Gerhard Rühm oberdeutsche Dialektvarietäten – das Wienerische – als schriftlich verfremdetes, mündlich vorzutragendes, ‚konkret‘ vorgefundenes Sprachmaterial: Artmanns erste Buchveröffentlichung in Wiener Mundart (Gedichtsammlung med ana schwoazzn dintn. München: Piper Verlag 1958), woraus der oben zitierte Text stammt, knüpft allerdings nicht an die Tradition der Wiener Heimatdichtung an. Auf diesem Missverständnis beruht sowohl der breite Erfolg dieses Werks in Österreich als auch seine spätere Skandalisierung. Stattdessen verarbeitet Artmann unter dem Einfluss des Surrealismus und der ‚schwarzen Romantik‘ makabre und groteske Motive: Im ersten Gedicht heißt es programmatisch: „reis s ausse dei heaz dei bluadex… daun eascht schreib dei gedicht“ (reiß es aus, dein Herz, dein blutiges… dann erst schreib dein Gedicht). Für Nicht-Wiener sind dem Buch ‚Worterklärungen‘ angefügt, auf die ich hier weitgehend verzichte. Eine der schriftdeutschen Standardsprache verpflichtete Lektüre wird Fremdsprachliches konnotieren (‚frog‘: Frosch, paradigmatisch gestützt durch ‚grod‘: Kröte) und den Text als Abfolge desemantisierter und autonomisierter Laute ‚lesen‘ bzw. hören. „frog me ned, wos fia r a numera da dod hod, i was nua, das ar a grins kapö aufhod un zwar r aung wia r a grod“ – frag mich nicht, was für eine Nummer [Hausnummer?] der Tod hat, ich weiß nur, dass er ein grünes Käppi aufhat und zwei Augen wie eine Kröte ….. Zwei weitere Beispiele von Artmann – wie abstrakt bedeutungsfrei Ihnen diese konkreten und phonologisch korrekt geschriebenen Verse erscheinen, hängt von Ihrer Vertrautheit mit verschriftetem Wiener Dialekt ab:
… in so einer Gesellschaft, da ist mir nicht zu trauen / da reitet mich ein kohlschwarzer Käfer…!
Protagonisten der ,Wiener Gruppe’
Biographische Einzelheiten über Artmann, Georg-Büchner-Preisträger 1997 und Gründer der ‚Wiener Gruppe‘ zusammen mit Bayer und Rühm, erspare ich mir an dieser Stelle – und verweise auch für die anderen Protagonisten auf die in online-Lexika verfügbaren Informationen. Als minimale Daten genügen hier:
Friedrich Achleitner: geb. 1930, gest. 2019, Architekt, seit 1963 wieder als Architekt und Professor tätig.
Oswald Wiener: geb. 1935, studiert Jura, Mathematik, Musikwissenschaft, ist Jazztrompeter, Kybernetik-Autodidakt, von 1963 bis 1967 Angestellter der Firma Olivetti, 1965 bis 1967 ebd. Direktor der Datenverarbeitungsabteilung (bitte nicht mit dem US-amerikanischen Kybernetik-Pionier Norbert Wiener verwechseln). 1968 nimmt er im Rahmen der Studentenproteste an der Aktion „Kunst und Revolution“ – die tabuverletzende sogenannte „Uni-Ferkelei“ der Aktionskünstler Otto Muehl, Günter Brus und Peter Weibel – teil. Er wird deswegen zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt und flieht 1969 aus Wien, da ihm nun auch ein Verfahren wegen Gotteslästerung droht. 1969 bis 1987 in West-Berlin, ebd. Wirt und Kneipeninhaber, zugleich 1980 bis 1985 Studium der Mathematik und Informatik bis zur Promotion, Arbeit in einer Synthese aus Kognitionswissenschaften, Philosophie und Kunst. Von 1992 bis 2004 Professor für Ästhetik an der Kunstakademie Düsseldorf, danach Umzug nach Kanada.
Gerhard Rühm: geb. 1930, ausgebildeter Pianist und Komponist.
Konrad Bayer: geb. 1932, verhinderter Kunststudent, Bankangestellter, Banjo-Spieler in Nachtclubs, Schriftsteller; Selbststilisierung als Dandy; Selbstmord 1964.
Als indirekte Vorstufe zur ‚Wiener Gruppe‘ kann die Malerei-Klasse des Schriftstellers und Malers Albert Paris Gütersloh (d.i. Albert Konrad Kiehtreiber, geb. 1887, gest. 1973) an der Wiener ‚Akademie der bildenden Künste‘ gelten, in der die Malerei des Surrealismus (Max Ernst, Dalí) studiert wird und die die Traditionsbildung innerhalb der Avantgarde nach dem Zweiten Weltkrieg fördert. Aus ihr gehen die sogenannte ‚Wiener Schule des Phantastischen Realismus‘ (die Maler Ernst Fuchs, Wolfgang Hutter, Erich Lehmden, Erich/Arik Brauer, Rudolf Hausner) sowie Arnulf Rainer als bekanntester und langfristig wirksamer Bildkünstler hervor. 1946/47 wird von Gütersloh der Art Club als Treffpunkt für progressive Maler, Bildhauer, Autoren und Musiker gegründet – u.a. mit Alfred Kubin und Friedensreich Hundertwasser. Im Vereinslokal ‚Strohkoffer‘ treffen sich 1952 Gerhard Rühm und H. C. Artmann, später stoßen Konrad Bayer und der Jazzmusiker Oswald Wiener dazu, dann Friedrich Achleitner. ‚Präsident‘ und Mentor der Art-Club-Gruppe ist Gütersloh. Hans Carl Artmann trennt sich 1958 von der Gruppe, nach dem Suizid Konrad Bayers am 10. Oktober 1964 löst sie sich auf.
Auch Achleitner, der seinen Namen übrigens auf der zweiten Silbe betont, produziert dialektale Phonem-Texte, deren Verschriftung befremdet:
Dialektdichtung
Gerhard Rühm schreibt in seinem ersten manifest der neuen dialektdichtung 1956:
wir haben den dialekt für die moderne Dichtung entdeckt. was uns am dialekt interessiert, ist vor allem sein lautlicher reichtum (besonders im wienerischen) […] wir versuchen dies soweit es mit 26 buchstaben möglich ist, durch eine fonetische schreibung darzustellen), […]. der surrealismus, der sich stets auf das unbewusste beruft, hat die nicht unwesentliche tatsache übersehen, dass der dialekt in unserem ‚täglichen‘ denken und daher auch in unserem unterbewusstsein eine eminente rolle spielt […].
[Gerhard Rühm: Sämtliche Wiener Dialektdichtungen. Graz, Wien: Droschl 1993, S.221]
Ein wenig Lokalpatriotismus („besonders im wienerischen“) schwingt noch mit; und für die Moderne haben die sozialkritischen Naturalisten (Ludwig Anzengruber; Gerhart Hauptmann: Die Weber, 1892, schlesische Fassung De Waber) den Dialekt als Kunstmittel ‚entdeckt‘ – eine Vorläufer-Avantgarde der Neo-Avantgarde – und nicht zuletzt parodiert auch schon Karl Valentin in den 1920er Jahren bairische Dialektvarietäten.
Ein letztes Beispiel, nun von Gerhard Rühm:
,Partituren’
Lautliche und visuelle Komponenten überlagern sich darüber hinaus besonders in einer daran anknüpfenden Textsorte, die für die Avantgarden prinzipiell von großer Bedeutung ist, nämlich in der ‚Partitur‘! In ihr ergänzen sich visuell typographische Qualitäten als Eigenwert und die performativen Funktionen als Anweisungstext für lautliche oder szenische Inszenierungen, oft auch als deren Relikte.
Rühms Atemgedicht fungiert als lesbare Anweisung für seine lautliche performance – also als visuelle (sichtbare) Oberfläche, deren Lektüre – auch das laute Vorlesen einschließlich ‚Nebentext‘ – von der synchronen Realisierung der Anweisungen (‚einatmen‘, ‚ausatmen‘) abweichen wird: die lautliche Praxis und ihre Versprachlichung, Realität und Zeichen müssen einander notwendig verfehlen, bleiben immer getrennt, sind nur im Nacheinander vollziehbar.
Und für so lange wie möglich gilt dies erst recht – der „Verbrauch von Schönheit und Frische durch die Zeit“ kann – wie im schriftlichen Text – thematisiert und dauerhaft gespeichert oder zeitlich begrenzt, nur flüchtig realisiert, allenfalls immer von neuem wiederholt werden. Das in die Länge gezogene a – grafisch in einen Strich transformiert, der in drei Pünktchen übergeht, – ist zwar auch in der visuell dauerhaften Form räumlich begrenzt – die Linie endet – , aber eben nur räumlich, nicht zeitlich! Sie könnten den Text und die Linie unbegrenzt lange ansehen oder ihn wiederholt lesen oder vorlesen, aber nur für eine Atemspanne realisieren.
Die je unterschiedliche Medienabhängigkeit des „Verbrauchs von Schönheit und Frische durch die Zeit“, also die Brüchigkeit der avantgarde-typischen Annäherung von Kunst (‚Schönheit‘: die dauerhafte Typografie) und Leben (‚Frische‘, die Vergänglichkeit der mündlichen performance und des Hörens) wird auf diese Weise mit minimalistischen, also den einfachen Mitteln einer „elementaren demonstration“ poetologisch scharfsinnig reflektiert – wer Kunst und Leben gleichsetzt, muss mit der beschleunigten Verfallszeit, der Vergänglichkeit und dem Vergessen eben dieser – situativ einmaligen – ‚Kunst‘ rechnen, die keine mehr ist – außer sie wird, wie hier, als ihre eigene Wiederholungsanweisung reflektiert und dauerhaft verschriftet oder aufgezeichnet – was Happenings und die Aktionskunst der alten aber auch der neuen ‚Avantgarden‘ nicht immer, aber meistens tun. Sie sind Aktion, realer Vollzug und zahlen den Preis der Vergänglichkeit von Nicht-Kunst.
Der insofern programmatische Text so lange wie möglich ist jedoch noch ‚Kunst‘, weil er als graphisch gespeicherter, selbst nicht ‚verbrauchbarer‘ die Differenz von ‚Kunst / Leben‘, von bezeichneter, thematisierter und konkreter Aktion aufrechterhält, deren Aufhebung in der Vergänglichkeit und Zeitlichkeit des Lebens (Atems) – die Kunst wird ‚Leben‘ und verschwindet – er reflektiert und zugleich einfordert. Rühm bleibt also wie Schwitters auf der weniger radikalen Seite der Werkkohärenz, die sich niemals zur Gänze dem Credo ‚Kunst ≈ Leben‘ ausliefern will. Dieses Postulat bedeutet im Fall der Avantgarden ja nicht die Ästhetisierung, Verkünstelung des Lebens, sondern umgekehrt das Ende der ‚Kunst‘, ihr Aufgehen in sozialer Praxis.
Poetologie
Ich illustriere diesen poetologischen und medienästhetischen Aspekt mit einigen weiteren Beispielen aus der ‚Wiener Gruppe‘, in denen lautliche und visuell-graphische Strukturen – ‚konstellationen‘ – enggeführt werden – und weise ansonsten hin auf:
Gerhard Rühm: um zwölf uhr ist es sommer. Gedichte, Sprechtexte, Chansons, Theaterstücke, Prosa. Auswahl und Nachwort von Jörg Drews. Stuttgart: Reclam 2000 (RUB 18055).
Auch hier lässt sich die pure tautologische Selbstbezüglichkeit der Struktur des Sonetts als Aufforderung zu ihrer inhaltlichen Füllung, je unterschiedlichen semantischen Konkretisation lesen!
Konrad Bayer: topologie der sprache (fangarm und wind), o. J.
fangarm spielt mit Reim-ähnlichen Assonanzen, z.T. von Komposita und jeweils am Wortende und am Wortanfang („fangarm / armbrust / brustschmerz“), was Ende, Transformation und Anfang von sprachlichen Syntagmen variiert – und die Fortsetzbarkeit und Unabschließbarkeit sprachlicher Welterschließung auf die damit unvermeidlichen weil von Phonem- und Buchstabenkombinationen („topologie“) abhängigen Bedeutungstilgungen und Bedeutungsverschiebungen rückbezieht: Die Sprache bestimmt in ihrer Signifikanten-Anschließbarkeit (fangarm / armbrust), ob die Signifikate, die Bedeutungen in ihrem Zusammenhang und Übergang, noch sinnvoll sind oder nicht – was im Falle der Mikro-Erzählung „fangarm / armbrust / brustschmerz“ durchaus der Fall scheint: Fangarme fangen einen wie der Pfeil der Armbrust sein Ziel erreicht, Brustschmerz ist in der Tat die Folge!
Außerdem, sind zwei Lesevarianten möglich, je nachdem ob Sie die vertikale paradigmatische Wiederholung mitlesen oder nur horizontal syntagmatisch lesen: „fangarm/armbrust/brustschmerz“ oder „fangarmbrustschmerz“, was verdichtet, auch die Bedeutungen komprimiert!
Erik de Smedt (Konrad Bayer und die Zerschneidung des Ganzen, in: Protokolle. Zeitschrift für Literatur und Kunst 1983, S.81) betont die sprachphilosophische (Nietzsche!) Grundlage solcher Experimente am Material:
Konrad Bayers Texte revoltieren nicht gegen bestimmte Sinnsysteme, sondern gegen das was diese als Fundament ihrer Überbauten unbehelligt lassen: die Prätention einer die Wirklichkeit abbildenden Sprache. Dass die Macht der Konvention die Willkür der Abbildung verdeckt, die Sprache bescheiden Transparenz mimt in Bezug auf eine ‚objektive Realität‘, die sie selber erst erzeugt hat, ist Anlass genug, „‘wirklichkeit‘ auszustellen, und damit, in konsequenz, abzustellen“ (Oswald Wiener). Die leichte Formulierung täuscht über die Schwierigkeiten hinweg, dieses Ziel schreibend zu erreichen, heißt es doch, den Gegner mit dessen Waffen zu besiegen. […].
Und was Oswald Wiener über Konrad Bayer 1978 in Einiges über Konrad Bayer sagt, gilt natürlich auch für sein eigenes Schreiben und das der ‚Wiener Gruppe‘ insgesamt:
Das Schreiben ist nicht Mittel künstlerischer ‚Darstellung’ gewesen, sondern ein Instrument zur Untersuchung von Denkvorgängen und für den Schreibenden ein natürlicher Hebel zum Hinausschieben seiner im Schreiben ihm merkbar werdenden Vorstellungsschranken,
[in: Oswald Wiener: Literarische Aufsätze. Wien: Löcker 1998]
– was ein potentiell unabschließbares Schreiben und ein permanentes Verschieben der Vorstellungsschranken zur Folge hat. Bayers ‚Lesespiralen‘ und ‚Lesesäulen‘ versuchen, dies materiell und visuell erfahrbar zu machen:
Das spiralige Textbild setzt außen mit „werklingenickschussbahnkörperwärme…“ ein und endet im Zentrum innen mit „entgegen/wehr/grab-enge/steingrab/töten“ oder in anderer Segmentierung mit: „ent/gegenwehr/graben/gestein/grab/töten“ (vollständige Transkription siehe ebd. S.798-799). Die ‚Flucht‘ der morphologisch komprimierten Wörter erweist auch semantisch als eine Flucht in den oder vor dem Tod.
Als eines der letzten Werke Bayers vor seinem Selbstmord unterliegt die flucht als Lesesäule oder Spirale einer fast schon wieder trivialen, biographisch-mimetischen Deutungsverlockung, die Bayers ‚Flucht‘ in den Tod zur Konsequenz sprachphilosophischer Probleme ästhetisiert und zugleich den Wirklichkeitsverlust der Sprache durch den Tod Bayers auf tragische Weise dementiert. Sprachlich „‘wirklichkeit‘ aus[zu]stellen, und damit, in konsequenz, abzustellen“ (Oswald Wiener), erweist sich als unlösbares, nur aufschiebbares Problem, an dem, so die verbreitete Interpretation, Konrad Bayer zerbrochen sei (was aber seinen Selbstmord nicht hinreichend erklärt).
[Oswald Wiener, das ‘literarische cabaret’ der wiener gruppe, in: Gerhard Rühm (Hrsg.), Die Wiener Gruppe, Reinbek 1967, S.403]
Schon 1953 hat Artmann den sogenannten „poetischen act“ als Ausdruck einer spontanen Handlung definiert, die gerade nicht an ein Aufzeichnungsmedium gebunden sei, diesem Dilemma aber ebenso wenig entgeht – bedarf diese ‚Handlung‘ doch solcher Medien, um überhaupt als ‚Kunst‘ sichtbar zu werden. Artmanns Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes (1953) gehört zu den Gründungsmanifesten der späteren Gruppierung und reproduziert einige der Dilemmata und Selbstwidersprüche radikaler Avantgarden, die uns bereits bei Dada und dem Surrealismus begegnet sind. Die ‚Reinheit‘ der ‚Akte‘ mündet in bloßes Denken oder unentdeckte Zufälligkeit, tendiert also zu einer Art immaterieller concept art – oder wird als verdinglichte ‚Kunst‘ mit ihren materiellen Artefakten kommerzialisierbar, aber auch überhaupt nur so gesellschaftlich und politisch wirkmächtig und skandalfähig. Artmann vertritt also einen erweiterten Kunstbegriff, dessen frühromantische Anklänge nicht zu leugnen sind – erinnern Sie sich bitte an Friedrich Schlegels Forderung nach einer ‚progressiven Universalpoesie‘, die jede Lebensäußerung potentiell zur ‚Kunst‘ rechnet:
Ein statischer Werkbegriff wird aktionistisch und situationistisch aufgelöst zugunsten des poetischen, a-logischen, zeitlich flüchtigen und vergänglichen ‚Aktes‘ einer nur mehr erinnerbaren, singulären und unwiederholbaren Situation. Angekündigt wird unmittelbar nach der ‚Proklamation‘ auch ein „erster act“ nach „den großen ferien“, nämlich eine „soirée aux amants funèbres“ (trauernde Verliebte), die als öffentliche, dekadente Trauer-Prozession durch Wien vom Goethedenkmal zur Illusionsbahn auf dem Prater-Jahrmarkt projektiert wird – sich also von der klassischen Hochliteratur zur illusionistischen Volksunterhaltung bewegen soll und dabei Baudelaire, Trakl, Nerval und Poe zitiert und zu Grabe trägt und ihnen zugleich die Ehre erweist, sie als Ahnen heraufbeschwört – wie Nero und Don Quichote. Einmal mehr wird der paradoxe Traditionsbezug der Nachkriegsavantgarden erkennbar: Der Verweis auf Cervantes‘ Don Quichote als den Meister der Amadis-Ritterroman-Nachahmer, der Kunst unmittelbar und naiv in Leben überführen will, weil er ganz in der fiktiven Welt lebt, so dass ‚Leben‘ und ‚Kunst‘ für diesen Realitäts-Leugner und -Verkenner zusammenfallen – und: Tiberius Claudius Nero Drusus Germanicus Caesar als anti-christlich ‚schwarzer’ ‚Künstler‘ und vermeintlicher ‚verrückter‘ Vertreter des ‚poetischen Gewaltaktes‘ (was in Teilen bekanntlich ein historisch falsches Nero-Klischee darstellt).
In seiner eingehenden Interpretation der Proklamation als Produkt der Surrealismus-Rezeption erkennt Michael Backes darin Ironie-Signale, die die Mystifikation des unwiederholbaren ‚Akts‘ brechen (bibliographischer Nachweis siehe elfter Themenabschnitt; Backes, S.132-156). Sehr bald ist die ‚Wiener Gruppe‘ jedenfalls das subkulturelle Zentrum experimenteller Literatur in Wien und tritt mit Monsterlesungen (1957), literarischen Cabarets (1958/59), Maskenumzügen und anderen skandalträchtigen Aktionen hervor (à la Cabaret Voltaire). Ihre Mitglieder pflegen eine Art von ‚Individualanarchismus‘ und inthronisieren auch keine Führungsfiguren wie Breton oder Marinetti, sondern parodieren solche Formen autoritärer Selbstinszenierung, etwa durch den Jux eines (folgenlosen) Ausschluss von Konrad Bayer aus der Gruppe wegen unsittlichen Lebenswandels. Ab Mitte der 1950er Jahre nimmt die ‚Gruppe‘ auch zu politischen Fragen Stellung, protestiert z.B. gegen die mit dem Staatsvertrag 1955 bevorstehende Wiederbewaffnung Österreichs mit einem von Konrad Bayer verfassten Manifest.
Das Österreich der Nachkriegszeit
Wie die Avantgarden vor, während und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg erweisen sich auch deren neo-avantgardistische Nachfahren stark kontextabhängig, die ‚Wiener Gruppe‘ also vom politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Umfeld in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg, d.h. von Provinzialismus, Anti-Modernismus und Wertkonservativismus. Die Lebenslüge des von der NS-Herrschaft ‚befreiten’ Österreich, das sich als Opfer, weniger als Täter zu definieren versucht und dessen Literatur auch – anders als in der Nachkriegs-BRD – keine ‚Kahlschlag‘- oder ‚Stunde-Null‘-Trümmerliteratur, auch keine vergleichsweise eher traditionell eingefärbte, lockere Formation wie die ‚Gruppe 47‘ (Celan, Bachmann, Grass, Hildesheimer u.v.a.) hervorbringt, katalysiert offenkundig umso mehr extreme Gegenreaktionen der Neo-Avantgarde. Abgesehen von ‚Fluxus‘, wobei es sich jedoch um eine internationale Strömung handelt, sind solche radikalen Ausprägungen umgekehrt in Westdeutschland kaum zu beobachten. Und dass gerade in Wien die von Artmann und anderen favorisierte ‚experimentelle Dialektdichtung‘ besonders erfolgreich und zugleich skandalisierend wirkt, wird vor diesem traditionalistischen Hintergrund ebenso verständlich wie ihre Entstehung gerade dort – und nicht in einer der deutschen Dialektregionen.
Umgang mit der Avantgarde-,Tradition’
Neben Sprachskepsis, Sprachkritik und Sprachphilosophie (mit Bezug auf Nietzsche, Hugo von Hofmannsthal, Fritz Mauthner oder Ludwig Wittgenstein) zeichnet sich die ‚Wiener Gruppe‘ jedoch – anders als die Vertreter der ‚konkreten Poesie‘ – auch durch eine starke performative, ja aktionistische Komponente aus, schöpft als das multimediale Spektrum der inzwischen ‚klassischen’ Ausdrucksformen der Avantgarden weitgehend aus.
Und auch hier scheint das Dilemma der Avantgarden auf, die den individuellen Originalitätsanspruch der Gruppenmitglieder einem erweiterten Kunstbegriff unterordnen oder auf aleatorische oder seriell-kombinatorische Verfahrensweisen der Werkgenese verlagern, deren dadaistische und ‚konkretistische‘ (Gomringer u.a.) Vorbilder die ‚Wiener Gruppe‘ damals aber noch gar nicht gekannt haben will (etwa die Texte von Hans Arp), und deren Verfahren sie nun exzessiv reproduziert. Einerseits reduzieren sie also den subjektiv-künstlerischen Originalitätsanspruch zugunsten von Mechanisierung und Demokratisierung (‚jeder kann dichten’; „dichtung als volkssport“: Fischer/Jäger 1989, S.631, siehe unten) und andererseits versuchen sie umso mehr, auf diesem Feld originell zu sein, sich also nicht nur als Fortsetzer dessen zu verstehen, was schon Dada und die ‚konkrete Poesie‘ vorgemacht hat.
In der Gründungsphase, begegnet Oswald Wiener diesem Dilemma durch das Postulat einer ‚coolen‘ ästhetischen Indifferenz in einem das Das Coole Manifest genannten, programmatischen Text aus dem Jahre 1954, der allerdings verschollen ist. Propagiert wird darin laut späteren Aussagen Wieners und Rühms eine literatur- und kunstgeschichtslose Distanzierung von und Reduktion der eigenen kulturellen Identität (zu der die Vorkriegs-Avantgarden nun bereits gehören) und das Bekenntnis zu einem ethisch-ästhetischen Relativismus. Man bedient sich aller avantgardistischen und nicht-avantgardistischen Stilmittel: vom Dialekt bis zum Kalauer, vom Nonsens bis zum unverhohlenen Zitat, zur Kopie traditioneller, avantgardistischer wie volkstümlicher, karnevalistischer ritueller Formen und Inhalte – eine in der Tat ‚coole‘ Lösung des Traditions-Originalitäts-Dilemmas: ‚originell‘ ist nun allenfalls die Selbstbeglaubigung als unoriginell.
Die letzte Aktivität der Gruppe vor ihrer Selbstauflösung (nach dem Selbstmord Bayers) ist übrigens eine ‚Kinderoper‘, die am 10.4.1964 als ‚Abschiedsvorstellung‘ der ‚Wiener Gruppe‘ zur Aufführung kommt. Deren fröhliche Fress-, Sauf- und Sing-Orgien einschließlich infantiler Fäkalwitze und Unflätigkeiten ähneln durchaus dem Verhalten der rüpelhaften Wiener Hanswurst-Figur des Joseph Anton Stranitzky aus dem späten 17. und frühen 18. Jahrhundert, so dass auch hier ein Traditions- und Gattungsbezug (Wiener Volkstheater, Komiker-Genres seit der Aufklärung) lauert, der ‚cool‘ zu ignorieren ist. Die Neo-Avantgarde degradiert sich zur ‚Arrière-Garde‘ der alten Wiener Volkskomik, welche allenfalls einem entwöhnten Publikum aus Unkenntnis noch Irritation und Provokation bereiten könnte.
Und die Regression zum Infantilen, ein inszeniert naiver (also eigentlich nicht naiver, nur simulierter) Zustand des Kindlichen, erinnert einmal mehr an bereits zitierte Positionen der Frühromantik, an Novalis und Schlegel, also an die Utopie einer geschichtlich unbelasteten, kindlich-kreativen ‚progressiven Universalpoesie‘.
Anything goes, alles wird anverwandelt und genutzt, aber nicht nur, wie vor dem Zweiten Weltkrieg, als Kontext, den es provokant zu brechen gilt, sondern als imitierbares und zitierbares Reservoir von Stilen, Verfahren und Gattungen und befreit von jeglichem Originalitätsanspruch – die spätere Selbstreflexion der Moderne als ‚Postmoderne‘ bereitet sich vor: Was ‚schön’ ist, bestimmt jeder für sich, das Banale ist ästhetisch genauso wertvoll wie das ‚Hohe‘.
Ernst Fischer und Georg Jäger charakterisieren die ‚Wiener Gruppe‘ als „kunstsoziologisches Experiment“ und konkretisieren dies mit Blick auf das ‚coole Manifest‘ (S.661 ff) wie folgt:
Die Befreiung von den Fesseln des eigenen, d.h. in Wahrheit immer gesellschaftlich vermittelten (Kunst-)Geschmacks wird zu einer unerschöpflichen und letztlich unlösbaren Aufgabe: das Endziel wäre ein Auskoppeln aus dem zivilisatorischen Prozeß. In der Kunstpraxis der Wiener Gruppe manifestierte sich dieser Vorstoß in Richtung einer kulturellen De-Identifikation in künstlerischen Setzungshandlungen: O. Wiener „bediente sich des formularstils, sammelte aufzählungen, notierte geschäftsschilder“, Rühm „signierte schriftliche anschläge, partezetteln, gebrauchte löschpapiere usw., kombinierte ausgefallene fotos aus illustrierten und (medizinischen) büchern mit schrecklich passenden texten“ [Zitat Rühm]. In der Technik des „objet trouvé“ wird Vorgefundenes, Beliebiges im Rahmen einer bewußtseinsmäßigen Einstellungsänderung („es kommt ja nur auf die betrachtungsweise an“) in den Kunstzusammenhang gerückt.
[Ernst Fischer / Georg Jäger: Von der Wiener Gruppe zum Wiener Aktionismus – Problemfelder zur Erforschung der Wiener Avantgarde zwischen 1950 und 1970, in: Herbert Zeman (Hrsg.), Die österreichische Literatur. Ihr Profil von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart (1880-1980). Teil 1. Graz: Akademische Verlagsanstalt 1989, S.617-683, hier S.634;]
Fischer und Jäger bieten übrigens auch eine prägnante Interpretation des „Bewusstseinstheaters im Kopf“, das der einzige, abgeschlossene Prosatext (‚Roman‘) von Konrad Bayer, der kopf des vitus bering (1958-1960), veranstaltet, der an die Extremsituationen und Grenzerfahrungen bei den Expeditionen des Polarforschers Vitus Bering (geb. 1681, gest. 1741) anknüpft und sich im Vorwort auf den Surrealisten André Breton bezieht.
[der kopf des vitus bering, in: Konrad Bayer: Sämtliche Werke. Hrsg. von Gerhard Rühm [1985]. Überarbeitete Neuausgabe. Wien: ÖBV–Klett-Cotta 1996, S.531-572; Interpretation in: Fischer / Jäger 1989, S. 653-661].].
Mit seriellen, algorithmischen Verfahren experimentieren Bayer und Rühm dagegen u.a. in einem Gemeinschaftswerk aus dem Jahre 1958, bissen b r o t, das das vorgegebene Sprachmaterial strengen Permuationen unterwirft:
[die ‚Wiener Gruppe‘] griff […] in einigen der seit 1956 entstandenen Gemeinschaftsarbeiten direkt auf „inventionistische“ Verfahren zurück, etwa 1958 bei bissen b r o t . Bayer und Rühm bedienten sich hier eines streng seriellen Verfahrens, mit dem Ziel, ein „ästhetisches modell von sprachwerdung” vorzuführen. Nach einem numerischen Parameter auf Grundlage der arithmetischen Reihe des goldenen Schnitts werden Satz, Wörter und Silben nach und nach aufgelöst; in der endgültigen Anordnung im Krebsgang ergibt sich dann tatsächlich ein auf 13 Zeilen zusammengedrängter, von anfänglichem Lautgestammel wieder zu Silben, Wörtern und schließlich zum Satzgefüge fortschreitender Prozeß der Sprachgenerierung – ein Strukturmodell des Übergangs von Anarchie zu Ordnung.
[Fischer / Jäger 1989, S.633-634; Goldener Schnitt: Teilungsverhältnis einer Strecke, bei dem das Verhältnis des Ganzen zu seinem größeren Teil dem Verhältnis des größeren zum kleineren Teil entspricht.]
Auch hier wird der ‚endgültige‘ Text durch Skizzenblätter ergänzt, die als Prozess-‚Partituren‘ seine experimentelle Herstellung dokumentieren und so die determinierte Struktur des Produktionsprozesses mit paradigmatischen Alternativen konfrontieren – und ästhetischen Eigenwert aufweisen:
Die programmatischen und ästhetischen Bemühungen der ‚Wiener Gruppe‘ kulminieren im nachträglich publizierten Hauptwerk ihres theoretischen ‚Kopfes‘ Oswald Wiener, der 1958 seine zwischen 1954 und 1958 entstandenen „literarischen Versuche“ vernichtet, ab 1960 jedoch an seinem Prosatext die verbesserung von mitteleuropa. roman arbeitet, der in einzelnen Folgen in der österreichischen Literaturzeitschrift manuskripte erscheint und 1969 als Buch (Neuausgabe 1985).
Thema dieses Riesen-Manifestes, das seine Postulate auch gleich selbst literarisch zu realisieren beansprucht, ist ausgehend von Ludwig Wittgenstein die Macht der Sprache, die das Bewusstsein manipuliere und wogegen die Literatur nun selbst paradoxerweise nur mit Hilfe von Sprache anzukämpfen in der Lage ist. Ein Anhang „Zur Konzeption des Bioadapters“ projektiert schließlich einen „Glücksanzug“ als eine Maschine, die Körper und Geist des darin Befindlichen steuert – eine erste Vorahnung von „Cyberspace“ und zugleich ein abschließender, ironischer Kommentar zur Aufhebung der Grenzen von Außenwelt und Innenwelt, von ‚Leben‘ und ‚Kunst‘.
Wieners Text ‚dekonstruiert‘, parodiert, ironisiert und zerlegt die Gattung ‚Roman‘ parallel zum linguistic turn der ‚Geisteswissenschaften‘ – ich hatte im Anschluss an Nietzsche Jacques Derrida und Paul de Man als Protagonisten der Dekonstruktion erwähnt. Konsequente Selbstbeobachtung und Selbstreferenz erscheinen nun aber als Basisoperationen von Kybernetik und Literatur – und Avantgarde schlägt von Provokation, Protest und Bedeutungszerstörung in Modernismus und (ironische?) Technikgläubigkeit um. Die gesellschaftlichen Utopien einer „verbesserung von mitteleuropa“ erweisen sich als entschärft und optimistisch – und erinnern nicht umsonst an Eugen Gomringers Thesen zur erhofften „organischen Funktion [der Dichtung] in der [modernen Kommunikations-]Gesellschaft“ (1954 in der Programmschrift der ‚konkreten Poesie‘ vom vers zur konstellation).
Werfen wir einen Blick in diese verbesserung von mitteleuropa von Oswald Wiener – ich überlasse die Auszüge Ihrer eigenständigen Lektüre; Vergleiche mit den früher zitierten Manifesten der Futuristen, der Dadaisten und von Schwitters sowie der Surrealisten bieten sich an; auch hier dominiert das Problem des Traditionsbezuges – von Humboldt bis Schwitters – und die Konkurrenz im zeitgleichen literarischen Feld der (Neo-)Avantgarden (Bense!):
,Wiener Aktionismus’
Im Anschluss an die ‚Wiener Gruppe‘ und am Ende der Vorlesung möchte ich Sie auf eine weitere, folgenreiche Gruppierung hinweisen und damit noch einmal das engere Feld der Literatur zugunsten aktionistischer und multimedialer Kunst verlassen.
Schon Artmanns Proklamation löst den ‚poetischen Act‘ von der Fixierung auf bestimmte Verbreitungs- und Speichermedien – Schrift, Bild, Ton – und favorisiert die unwiederholbare Aktion, den Prozess, das Konzept – ohne dass dieses Programm allerdings konsequent von der ‚Wiener Gruppe‘ umgesetzt worden wäre. In Anlehnung an dadaistische und surrealistische Aktionen, aber auf radikalere, exzessive und keineswegs nur ‚konzeptuelle‘ Art und Weise werden die Vorläufer von den Vertretern des sogenannten Wiener Aktionismus überboten, der zwischen 1962 und etwa 1970 in den Aktionen und Happenings von Rudolf Schwarzkogler (geb. 1940, gest. 1969), Günter Brus (geb. 1938) Otto Muehl (geb. 1925, gest. 2013) und Hermann Nitsch (geb. 1938) Furore macht. Im Gegensatz zu Artmanns ‚reinem poetischen Act‘ handelt es sich jedoch um unreine, materiell-schmutzige und keineswegs medienscheue Inszenierungen, deren besudelte, blutige Relikte ebenso museumsfähig geworden sind wie all die nicht-jugendfreien Filmchen, die die jeweilige Aktion dokumentieren.
Als Urahn solcher Inszenierungen wird oft das von Antonin Artaud (geb. 1896, gest. 1948) in den 1920er und 1930er Jahren konzipierte ‚Theater der Grausamkeit‘ genannt, das im Nachkriegsdeutschland und -österreich allerdings erst spät rezipiert worden ist. Es fordert ein schwer realisierbares ‚postdramatisches‘ Aktionstheater, das die Grenzen zwischen Bühne und Zuschauer einebnet und die performance für Schauspieler und Publikum zu einer körperlichen, emotionalen und singulären Erfahrung machen möchte – es sind aber weniger körperliche als affektive und kognitive ‚Grausamkeiten‘ gemeint, was in der voreiligen Zurechnung des körperbetonten ‚Wiener Aktionismus‘ auf Artaud übersehen wird. [zu Artauds ‚alchimistischem‘ und ‚metaphysischem Theater‘, auch ‚Theater der Prüfung‘: siehe das erste ‚Manifest‘ 1932, später publiziert in: Das Theater und sein Double, 1938; dt. 1969].
Die Wiener Aktionisten kommen meist aus dem Bereich von Malerei und Skulptur – erstere wird durch auf die Leinwand praktizierte Objekte (Robert Rauschenberg [geb. 1925, gest. 2008]: combine painting) und durch den Körper als Malfläche dreidimensional, letztere (die Skulptur) wird durch den realen Körper zur Aktion, zur ‚sozialen Plastik‘, wie Joseph Beuys (geb. 1921, gest. 1986) es nennt. Soziale (emotionale) ‚Ansteckung‘ durch Schock und Tabubruch, Happening und Performance ermöglichen, so die Hoffnung, ‚kathartische‘, ‚reinigende‘ Wirkungen: Ich verweise auf den zweiten Themenabschnitt und Cornelia Zumbuschs Immunität der Klassik! Erinnert sei v.a. an Hermann Nitschs ‚Orgien-Mysterien-Theater’ im österreichischen Prinzendorf, das mit Lamm-Schlachtungen und Ausweidungen – später inklusive simulierter Kreuzigungen und Blut-Schüttbildern – an den kultisch-religiösen Ursprung von Theater und Tragödie (tragos = der Opferbock der Dionysos-Festspiele des antiken Athen) zurückgeht – einschließlich der später in Aristoteles‘ Poetik formulierten ‚Katharsis‘: aus Affekterregung, Schock und Körpergrenzerfahrung wird Sublimierung und Heilung zivilisatorischer Deformationen durch Reinigung. Otto Muehl dagegen setzt eher auf Komödiantisch-Rüpelhaftes bis zur Ekelgrenze, und Günter Brus, der radikalste, agiert ego- und körperbezogen selbstverletzend (vgl. (externer Link) Aktion Zerreißprobe 1970).
Aktions- und Raumkunst in den USA
Abgesehen vom Dadaismus, dessen multimediale Aktionen sich ebenso nachhaltig tradieren, wie Schwitters‘ Merz-Bau inzwischen das Vorbild vieler begehbarer Rauminstallationen ist, speist sich die in den USA schon Ende der 1950er Jahre einsetzende Aktions- und Raumkunst aus zwei älteren aktionistischen Quellen und Vorbildern aus der Musik und der abstrakten Malerei der frühen 1950er Jahre. Das New Yorker Aktionstheater, all die Happenings von Allan Kaprow (geb. 1927, gest. 2006; von ihm stammt der Begriff des ‚Happenings‘), die Rauminstallationen (‚Environments‘) und Objekte von Ed Kienholz (geb. 1927, gest. 1994), Claes Oldenburg (geb. 1929, Pop Art) u.a. verbünden sich Anfang der 1960er Jahre zu Formaten multimedialer Aktionskunst, die bis heute in vielerlei rituell-theatralen oder improvisierten Varianten praktiziert wird und manchmal auch noch provoziert – und um nur die weltweit prominentesten zu nennen: Marina Abramović (geb. 1946), Valie Export (d.i. Waltraut Stockinger, geb. 1940), der Regisseur und Autor Christoph Schlingensief (geb. 1960, gest. 2010) oder der Musiker, Komponist und Aktionskünstler Wolfgang Flatz (geb. 1952).
Wenn Sie die großen Kunstmuseen besuchen, werden Sie genug ‚anschauliche‘ und anhörbare Beispiele, Videos und Relikte der genannten Richtungen und Künstler/innen finden – und in den bereits empfohlenen Studien von Thomas Dreher (Performance Art nach 1945, 2001) und Oliver Jahraus (Die Aktionen des Wiener Aktionismus, 2001) können Sie akribische Analysen der Aktionen und Happenings als sprachanaloge ‚Text‘-Syntagmen nachlesen und die Unterscheidung diverser aktionistischer Genres wie Aktion, Performance, Happening usf. kennenlernen – je nach Art des Publikumsbezuges (entgrenzt oder nicht) und der theateranalogen Inszenierung (festgelegter Ablauf oder spontan aleatorische Interaktion, abnehmende Fiktionalität).
Inspiration aus Malerei und Musik
Wer aber sind aber nun die beiden angekündigten frühen Anreger und Inspiratoren aus Malerei und Musik?
Zum einen Jackson Pollock (geb. 1912, gest. 1956), dessen abstrakte expressive Farbfleckengemälde (‚Tachismus‘) als Relikte, als Spuren – ‚drippings‘ – ihres exzessiv eruptiven Produktionsprozesses zu interpretieren sind, der das eigentliche Kunst-Happening darstellt (action painting). Ähnlich verfahren Georges Mathieu (geb. 1921, gest. 2012) und Yves Klein (geb. 1928, gest. 1962; (externer Link) Anthropometrien, 1958-1962) mit seinen kobaltblauen Körperabdrücken auf Leinwand.
Zum anderen ist der bereits zu Beginn der ‚Vorlesung’ zitierte Komponist John Cage (geb. 1912, gest. 1992) erneut zu nennen – einer der vielseitigsten und – neben Arnold Schönberg – prägendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts, der von Klavierstücken und Streichquartetten bis zur Oper in allen Gattungen produktiv war. Sein Beitrag zur medienübergreifenden Aktionskunst in den 1950er Jahren besteht u.a. darin, Duchamps ready-made-Verfahren – Sie erinnern sich an das Urinal als Fontäne! – verzeitlicht, also in zeitliche Prozesse integriert zu haben. Er findet sein ‚konkretes‘ Material (objets trouvés) für Kompositionen also auch in den akustischen, visuellen und sozialen Geschehnissen und Aktionen der Außenwelt bzw. innerhalb einer Kunstperformance selbst, z.B. in den Geräuschen des Publikums, dessen Verhalten aleatorisch integriert werden, soll heißen: vorgefunden und als dynamisches ready-made einbezogen wird: Das Konzert wird zum multimedialen Happening von akustischen, visuellen und performativen Zufallsfunden (objet-trouvés, ‚konkrete Musik‘).
,Fluxus’
In der 1960/61 in den USA vom litauischen Emigranten George Maciunas (geb. 1931, gest. 1978) konzipierten Fluxus-Bewegung fließen nunmehr all die genannten Strömungen zusammen; die Bewegung erweist sich – zumal mit Blick auf ihre kurze Dauer von zwei bis drei Jahren – als bis heute erstaunlich stilbildend, verwirklicht ihre exemplarischen Kunstaktionen 1962 und 1963 in Deutschland, und zieht vorübergehend alles, was Rang und Namen und Avantgarde-Affinität aufweist, in seinen Bann. Um nur die bekanntesten Fluxus-Komponisten und Medienkünstler zu nennen: die Komponisten John Cage, La Monte Young (geb. 1935; minimal music) und Karlheinz Stockhausen (geb. 1928, gest. 2007), der Komponist und Video- und Installationskünstler Nam June Paik (geb. 1932, gest. 2006) oder im Bereich der bildenden Kunst Yoko Ono (geb. 1933), die Witwe John Lennons, und Joseph Beuys (geb. 1921, gest. 1986) sowie der Maler und Happening-Künstler Wolf Vostell (geb. 1932, gest. 1998).
„Fluxus“ (vom lat. Adjektiv und Partizip für ‚vergänglich, flüssig, fließend, haltlos, schwankend‘; ‚fluere‘: ‚fließen‘) meint – wieder einmal – den fließenden Übergang zwischen ‚Kunst‘ und ‚Leben‘ und deren dynamische Einheit: „Es geht um in das Leben einwirkende Produktionsprozesse und nicht um die Abschottung der Kunst vor dem Leben.“ „Das Leben ist ein Kunstwerk, und das Kunstwerk ist Leben“ – (Zitate sinngemäß von Emmett Williams [geb.1925, gest. 2007], einem Vertreter der ‚konkreten Poesie‘ und Mitbegründer von Fluxus).
Fluxus integriert in seine Aktionen Videomaterial, Musik, Licht, Geräusche, Bewegung, Handlungen und Objekte des Alltags, Künstler und Publikum bleiben jedoch, anders als im Happening, wie im Theater oder Konzert getrennt (‚vierte Wand‘), das Publikum wird nicht zum Akteur. Fluxus-Konzerte erweitern den Musik- und Kompositionsbegriff jedoch um Objekt- und ready-made-Kunst: Alles kann Instrument der Klangerzeugung werden. So wirft Wolf Vostell z.B. 200 Glühlampen gegen eine Plexiglaswand zwischen Bühne und Publikum – performance und musique concrète in einem! Fluxus-Konzerte erweisen sich als Panorama der konsumorientierten Wirtschaftswunder-Wohlstandsgesellschaft, deren Kunst- und Waren-Fetische lustvoll zerstört und beschmutzt werden. Provokation sollte insofern erzieherisch und aufklärend, emanzipatorisch auf die Gesellschaft einwirken.
George Maciunas‘ Manifesto (Düsseldorf 1963: „Festum Fluxorum Fluxus“) fasst diese Absichten und Forderungen zusammen und propagiert gleichsam alchemistische ‚purgatorische‘, also läuternde Verschmelzungsprozesse, die im künstlerischen ‚Akt‘ zusammenfließen: „Purge the world of bourgeois sickness“, „Purge the world of dead art“, „Purge the world of Europanism“. „Promote a revolutionary flood and tide in art“.
Eine der berühmtesten Fluxus-Aktionen fand 1962 in Wiesbaden statt, wo Philip Corners Komposition piano activities – der Konzertflügel wird nicht traditionell bespielt, sondern entfaltet als materielles Objekt sehr viel mehr Klangpotential! – an vier Wochenenden in die Zerstörung eines Flügels mündete – in Szene gesetzt vom George Maciunas, Dick Higgins, Ben Patterson, Alison Knowles, Wolf Vostell und Emmett Williams. Seine Teile werden am Ende an das Publikum versteigert, um den Abtransport des Wracks nicht bezahlen zu müssen.
[Philip Corner (geb. 1933): piano activities, Fluxus Festspiele Neuester Musik, Wiesbaden 1962;
Gunnar Schmidt: Klavierzerstörungen in Kunst und Popkultur. Berlin: Reimer 2012]
Siehe auch die Internetseite Piano-Activities (externer Link)
Fast mutet es an, als hätte sich der Protagonist in Luis Buñuels Le Chien andalou, der sich unter dem Joch der beiden mit Kadavern und Priestern belasteten Flügel abstrampelt, seiner kulturellen Über-Ich-Belastung entledigt und sich in einem Akt der Destruktion vom ehrwürdigen bürgerlichen Musik-Fetisch befreit. Die Destruktion der Musik als Klaviermusik, die in Demontagegeräusche von Säge, Hammer, Bohrer, Steinen und Küchenutensilien übergeht… – die Provokation des Publikums hält sich dennoch in Grenzen, es ist mehr Jux als Verstörung!
Der Komponist selbst merkt nachträglich an, dass das, was zur Aufführung gebracht worden ist, ein anderes als sein Stück sei. Maciunas habe ein ernst gemeintes Stück Musik in ein Ulk-Ereignis verwandelt. Corner hingegen wollte im Anschluss an John Cage (prepared piano, 1940 f) aus dem Klangreservoir des Instrumentes ein kohärentes Werk hervorbringen. Die Partitur besteht aus einer Reihe von Spielanweisungen – zum Beispiel Kratzen auf den Saiten, Reißen und Schlagen –, aus Anleitungen zum Präparieren des Flügels sowie aus Direktiven, wie man sich gegenüber den Mitspielern zu verhalten habe. Corner war jedoch nicht gekränkt, sondern reflektiert die destruktive Veränderung seiner Intention, die er als zu aggressiv und gefährlich ablehnt: (Philip Corner: „Die Katharsis wird uns nicht von den Aggressionen in der Welt erlösen – ein gefährliches Spiel.“).
Wolf Vostell
Auch Verfahren der ‚De-Collage‘ (frz. ‚décoller‘: ‚abheben, losmachen, trennen, abkratzen, abschaben‘), die der Fluxus nahestehende multimediale Bild- und Videokünstler Wolf Vostell (geb. 1932, gest. 1998) praktiziert, ‚zerstören‘ und fragmentieren, allerdings nun wieder im engeren Sinne der Montage-Prinzipien der Avantgarden, d.h.: sie greifen v.a. auf selbst schon primär semantisches Zeichenmaterial zurück (und nicht nur auf sekundär konnotativ belastete Objekte, wie im Falle des Konzertflügels bei Maciunas und Corner). So gewinnen die Dé-Collagen aus der Rekombination der Teile künstlerischen Mehrwert. Aus de-collage, also aus dem Destruieren, Zerreißen, Zerschneiden gegebener Bedeutungszusammenhänge, wird re-collage mit neuen Bedeutungen, auch wenn sie nicht absichtsvoll zu einer Collage re-arrangiert werden. Beim Festum Fluxorum Fluxus verwischte Wolf Vostell z.B. mit Tetrachlormethan Abbildungen in verschiedenen Zeitschriften und schuf so seine erste ‚Verwischung‘ mit dem Titel Kleenex.
Und natürlich bilden die begleitenden ‚Manifeste‘ wieder einen wesentlichen Bestandteil des Werkes, dessen Herstellungspartituren – seien die Ergebnisse der Prozesse aleatorisch oder nicht – Kunstwerke eigener Qualität bilden, wie Vostells ‚Manifest‘ ‚Dé-coll/age‘ (Wuppertal 1963) verdeutlicht. Gefolgt wird es von einer selbstreferentiellen Rezeptionsanweisung, die den Prozesscharakter des erst durch Rezeption entstehenden Werkes betont, gleichwohl aber auf plakative, proklamatorische Verlautbarungen in statischer Schriftform angewiesen bleibt:
Hier finden Sie weitere Beispiele, die Einblick in Vostells Werk und seine produktions- und rezeptionsästhetische Selbstreflexion geben – sie bieten sich zum gelegentlichen Selbstversuch an – erinnern Sie sich bitte an Tzaras ‚Anleitung‘ zur Herstellung eines aleatorischen Gedichtes (fünfter Themenabschnitt).
Dass ‚Manifeste‘ als Kunst ihre Leseanweisungen auch im Kurzschluss auf sich selbst anwenden und Selbstreferentialität potenzieren, kann schließlich kaum überraschen:
Dass derart medienübergreifende Werkzusammenhänge aus Texten, Bildern und ‚Theorien‘ interdisziplinäre wissenschaftliche Anstrengungen erfordern, versteht sich spätestens seit den ‚klassischen‘ und oft auch international agierenden Avantgarden von selbst – Musik-, Kunst- und Literaturwissenschaften eröffnet sich eine vielfältige Landschaft von lohnenden Objektbereichen über die Fächergrenzen hinweg – und das gilt natürlich auch für die Themenwahl von Abschlussarbeiten. Auch in dieser Hinsicht will die Vorlesung Anregungen bieten.
Berührungspunkte von Fluxus und Vostells Dé-Collagen mit der experimentellen Literatur der Neo-Avantgarden sind zahlreich, und es wären weitere prägende Autoren und Autorinnen ohne explizite ‚Gruppen‘-Zugehörigkeit zu nennen, die hier leider vernachlässigt und mit bloßen Hinweisen bedacht werden müssen – stellvertretend seien die Dichter Jürgen Becker (geb. 1932), Ror Wolf (geb. 1932, gest. 2020; Pseudonym: Raoul Tranchirer) und der Designer, Bild- und Medienkünstler, Autor, Hörspiele-Macher und Theoretiker Ferdinand Kriwet (geb. 1942, gest. 2018) genannt.
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Jürgen Becker (mit Wolf Vostell): Phasen. Vorwort von Max Bense. Köln: Galerie Der Spiegel 1960.
Jürgen Becker: Felder. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1964; Neuausgabe 1988.
Jürgen Becker: Ränder. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1968.
Jürgen Becker: Bilder, Häuser, Hausfreunde. Drei Hörspiele. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1969.
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Anne-Rose Meyer-Eisenhut / Burkhard Meyer-Sickendiek (Hrsg.): Fluxus und/als Literatur. Zum Werk Jürgen Beckers. München: München: edition text + kritik, Boorberg 2014 (= neoAvantgarden, hrsg. von Hans-Edwin Friedrich und Sven Hanuschek),
darin u.a.:
Klaus Gereon Beuckers: ,dé-coll/age ist mobile collage’. Statik, Dynamik und Zeit bei Wolf Vostell. S.3-14.
Christoph Zeller: Wolf Vostell und die experimentelle Literatur. S.15-34.
Hans-Edwin Friedrich: „[…] als Avantgarde noch kein Aufkleber, sondern ein Abenteuer war“ – Jürgen Becker als Theoretiker der Avantgarde. S.127-149.
Klaus Gereon Beuckers / Hans-Edwin Friedrich (Hrsg.): Ferdinand Kriwet. Visuelle Poesie und ihre Medialität. München: edition text + kritik, Boorberg 2019 (= neoAvantgarden, hrsg. von Hans-Edwin Friedrich und Sven Hanuschek),
darin:
Claus-Michael Ort: Kontingenz und ‚poetische Funktion‘: „Rotor“ (1961) von Ferdinand Kriwet. S.13-33.
Jill Thielsen: Medialität und ihre Funktion – Bemerkungen zu Ferdinand Kriwets Rundscheiben und „leserattenfaenge“. S.34-51.
Zu Vostell siehe ansonsten:
Wolf Vostell: Dé-Coll/Age als Manifest – Manifest als Dé-Coll/Age. Manifeste, Aktionsvorträge, Essays. Hrsg. von Klaus Gereon Beuckers u. Hans-Edwin Friedrich. München: edition text + kritik, Boorberg 2014 (= neoAvantgarden, hrsg. von Hans-Edwin Friedrich und Sven Hanuschek).
Klaus Gereon Beuckers (Hrsg.): Dé-Coll/Age und Happening. Studien zum Werk von Wolf Vostell (1932-1998). Kiel: Ludwig 2012
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Dieter Schnebel
Ein letztes Beispiel dafür, wie auch und gerade die Neo-Avantgarden Werkstrukturen hervorbringen, die die Literaturwissenschaft auf bildkünstlerischem und musikalischem Feld herausfordern, mag diesen Rundgang durch die Avantgarden und Neo-Avantgarden – ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit! – beschließen: Gemeint ist der u.a. von John Cage ausgehende Komponist, Theologe und Musikwissenschaftler Dieter Schnebel (geb. 1930, gest. 2016), der neben Sinfonien, Kammermusik, Sprechstücken und geistlicher Musik experimentelle Werkzyklen geschaffen hat, die die stimmliche und die visuelle Seite musikalischer Performanz systematisch ausloten.
Neben visualisierter Musik, die in bildlichen ‚Partituren‘ lesbar wird (Music to read, visible music) gehört insbesondere Glossolalie (1959; d.h. unverständliches Sprechen; pfingstliches ‚Zungensprechen‘) derjenigen Werkgruppe von Stücken an, die bewusst nicht als auskomponiertes Resultat, sondern als detailliertes Konzept für den Interpreten vorliegen – oder, mit den Worten Schnebels: „als präpariertes Material zur Hervorbringung von Musik.“
Für ein Ensemble solistisch agierender Sprecher und Instrumentalisten geschrieben, organisiert Glossolalie eine Vielzahl von Sprachen und Sprachverwandten unter den Gesichtspunkten musikalischer und semantischer Parameter. Es finden Verbindungen und Überschichtungen von sprachlichen, lautlichen, geräuschhaften, instrumentalen und gestischen Prozessen statt. Im Gegensatz zu der von Schnebel selbst auskomponierten Fassung Glossolalie 61 (1960-1965) kommt die Glossolalie als Konzeptkunst selten zur Aufführung. Die hochgradig selbstreferentielle ‚Partitur‘ erweist sich jedoch als ein Bild-Text-Buch, das auch die auf sie gerichteten Lese-Erwartungen und Rezeptionsweisen und seine dadaistischen Wurzeln reflektiert –Selbstreflexion als eine sanfte Art des Traditionsbezuges, anders als Oswald Wieners aggressive ‚Coolness‘. Einige ‚Zitate‘ aus Glossolalie 61 mögen dies vor Augen führen – das Zitat aus Christian Morgensterns Großem Lalula (aus den Galgenliedern, 1905: Kroklowafzi Sememi […]“) wird Ihnen bei sorgfältiger Lektüre sicher nicht entgehen:
Glossolalie durchmisst die gesamte Skala vom intertextuellem Zitat über Bedeutungsreduktionen und typografisch-skripturale Formen bis zur tradierten Notenschrift und bildlich-grafischen Visualierungsversuchen von Klang. Auch Schnebels Maulwerke für Artikulationsorgane (und Reproduktionsgeräte) (1968-1974), die locker aber stimmphysiologisch und phonetisch systematisierend und nachgrade enzyklopädisch erweitert an Schwitters‘ Ursonate anknüpfen, beruhen auf einer Anweisungspartitur mit bildkünstlerischen Qualitäten:
I Atemzüge / II Kehlkopf-Spannungen, Zungenschläge, Lippenspiel / III Mundstücke / IV Maulwerke-Sprache-Musik.
Die Körperbewegungen des ‚Lautierens‘, Hören und Sehen werden gleichermaßen zu Ausdrucksmedien seelischer Vorgänge:
[…]Der Vorgang aber ist ebenso seelisch, denn er umschließt und befördert Gefühle. Sie erscheinen sowohl sichtbar wie hörbar; zeigen sich etwa im verzerrten oder im freundlich gerundeten Maul; werden vernehmlich im Klang etwa der Untertöne – und überhaupt macht der Ton die Musik. Solche Schwingungen suchen Resonanz, stimulieren sie im Angesprochenen, sei es als heftiger Impuls oder aber als sanfte Harmonie. […]. Schließlich ist jener Vorgang des Lautierens geistig, birgt Inhalte, die sagen – und singen. Sie kommen heraus im Geformten: in den Zusammenhängen, welche Sprache bilden oder Musik – oder gar beides. Die dermaßen gestalteten Lautströme teilen mit und wollen vernommen werden – übers Auge und Ohr. Zugleich fordern sie die Antwort eines Gegenparts heraus, führen also zum Dialog und stiften Gemeinschaft.
[Dieter Schnebel, zitiert nach der Internetseite des Ensembles maulwerker].
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Dieter Schnebel: Glossolalie 61 […]. Mainz u.a.: Schott 1974 (Spielpartitur ED 6414).
Dieter Schnebel: MO-NO. Musik zum Lesen [1969]. Köln: DuMont Schauberg 2018 (= Edition MusikTexte 016).
Dieter Schnebel: Anschläge – Ausschläge. Texte zur Neuen Musik. München, Wien: Hanser 1993.
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Simone Heiligendorff: Experimentelle Inszenierung von Sprache und Musik. Vergleichende Analysen zu Dieter Schnebel und John Cage. Freiburg/Br.: Rombach 2001 (= Reihe Cultura 16).
Simone Heiligendorff: glossolalie: eine „Sprache der Freiheit“. Anmerkungen zur Konstruktion, in: Werner Grünzweig / Gesine Schröder / Martin Supper (Hrsg.): SchNeBeL 60. Hofheim: Wolke 1990, S.320-345.
Asja Jarzina: Gestische Musik und musikalische Gesten. Dieter Schnebels „visible music“. Analyse musikalischer Ausdrucksgesten am Beispiel von „Abfälle 1,2. Für einen Dirigenten und einen Instrumentalisten“ und „Nostalgie. Solo für einen Dirigenten“. Berlin: Weidler 2005.
Gisela Nauck: Schnebel. Lesegänge durch Leben und Werk. Mainz u.a.: Schott 2001.
Hans-Joachim Neubauer: „frei von Harmonie“. Hörspiele von Dieter Schnebel, Mauricio Kagel und John Cage, in: Heinz-Klaus Metzger / Rainer Riehn (Hg.): Autoren-Musik. Sprache im Grenzbereich der Künste. München: edition text + kritik 1993, S.66-89 (= Musik-Konzepte 81).
[u.a. zu Schnebels Radiostücken I – V und zu Cage’s Roaratorio – An Irish Circus on Finnegans Wake].
Reinhard Oehlschlägel: Klang und Bedeutung. Versuch über das Vokale bei Dieter Schnebel, in: Harmut Krones (Hrsg.): Stimme und Wort in der Musik des 20. Jahrhunderts. Wien u.a.: Böhlau 2001, S.367-373.
Theda Weber-Lucks (Hrsg.): Dieter Schnebel. Querdenker der musikalischen Avantgarde. München: edition text + kritik 2015.
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Dieter Gutknecht: Sprache, Sprachklang, Sprachlosigkeit. Einige Beobachtungen zu Stockhausens Sprachbehandlung von „STIMMUNG“ (1967) bis „LICHT“ (1977), in: Harmut Krones (Hrsg.): Stimme und Wort in der Musik des 20. Jahrhunderts. Wien u.a.: Böhlau 2001, S.357-366.
Helmut Heißenbüttel: Sprachmusik, in: Heinz-Klaus Metzger / Rainer Riehn (Hrsg.): Autorenmusik. Sprache im Grenzbereich der Künste. München: edietion text + kritik 1993, S.10-15 (= Musik-Konzepte 81).
Gerhard Rühm: zu meiner musik. von der zwölftonreihe zur laut-ton-zuordnungsreihe, in: Harmut Krones (Hrsg.): Stimme und Wort in der Musik des 20. Jahrhunderts. Wien u.a.: Böhlau 2001, S.237-248.
Gerhard Rühm: zur geschichte und typologie der lautdichtung, in: Harmut Krones (Hrsg.): Stimme und Wort in der Musik des 20. Jahrhunderts. Wien u.a.: Böhlau 2001, S.217-236.
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Zu Gerhard Rühm siehe auch neuerdings:
Thomas Eder / Paul Pechmann (Hrsg.): Die Sprachkunst Gerhard Rühms. München: edition text + kritik, Boorberg 2021 (= neoAvantgarden, hrsg. von Hans-Edwin Friedrich und Sven Hanuschek).
Resümee und Ausblick
Mehr als ein einführender Parcours durch die Vielfalt medienübergreifender Gattungen und Genres der Avantgarden und Neo-Avantgarden des 20. Jahrhunderts in Literatur, Theater, Film, bildender Kunst und Musik, mehr als ein erster Einblick in die Ästhetik und die poetologischen Selbstdefinitionen der Avantgarden und die dabei auftretenden Analyseschwierigkeiten und einige wenige literaturwissenschaftliche, erzähl- und zeichentheoretische Beschreibungskategorien war in zwölf Themenwochen nicht möglich und auch nicht beabsichtigt.
Die Ausdrucksmittel und Verfahren der Desemantisierung und der konnotativen, oft selbstreferentiell paradoxen Bedeutungskonstitution gehören inzwischen zum Repertoire der späten Moderne (einschließlich der sogenannten ‚Postmoderne‘) und der Gegenwartskunst – und zwar ganz unabhängig davon, ob diese Dada oder den Surrealismus und deren kanonische Hauptwerke (z.B. Schwitters‘ Ursonate, den Merz-Bau, Un chien andalou, Balls Lautgedichte usf.) ausdrücklich als Traditionshorizont aufrufen und zitieren oder experimentelle (aleatorische oder serielle) Verfahren ‚stillschweigend‘ anwenden.
Festzuhalten ist ferner zum einen, dass die europäischen / anglo-amerikanischen multimedialen Avantgarden einen erheblichen künstlerischen Mehrwert aus den krisenhaften gesellschaftlichen und politischen Bedingungen ihrer Entstehung abschöpfen, dessen ‚Nachhaltigkeit‘ kaum zu unterschätzen ist – ganz unabhängig von unseren je persönlichen, subjektiven Geschmacksurteilen. Zum anderen zeigt sich auch im Falle der Nachkriegs- und Neo-Avantgarden, dass die Avantgarden in besonders hohem Maße kontextabhängig sind. Sie bedürfen eines manifesten Erwartungsrahmens, in dem sie ihr beabsichtigtes ‚revolutionäres‘, z.T. politisch zweifelhaftes, psychoanalytisch spekulatives Potential entfalten können, also ‚kathartische‘ Provokationen – durchaus im alten Sinne von Aristoteles‘ Poetik: eleos und phobos, ‚Jammern‘ und ‚Schaudern‘ –, Erwartungsbrüche und Kommunikationsirritationen, schockierende ‚Aktionen‘ oder bewusstseinserweiternde ästhetische Selbsterfahrungen verwirklichen können.
Die Paradoxien und Selbstwidersprüche der Avantgarde-Programmatiken und die paradox verwickelten Versuche, die Grenzen von ‚Kunst‘ und ‚Leben‘ (Nicht-Kunst), von ‚Kunst‘/Selbstbezug und ‚Wirklichkeit‘/Fremdbezug innerhalb der ‚Kunst‘ selbst aufzulösen oder zumindest zu verschieben und neu zu ziehen, scheinen inzwischen jedenfalls weitgehend ausgelotet und am Ende des kreativen Spielraumes angekommen.
Ob sich zukünftige Neo-Neo-‚Avantgarden‘ deshalb in bloßem Traditionalismus erschöpfen werden, bleibt abzuwarten – jedenfalls gehören heute, ein halbes bis ein ganzes Jahrhundert später, ‚Avantgarden‘ selbst zu dieser abzulehnenden oder fortzusetzenden ‚Tradition‘, was neue Reflexionsräume eröffnet.
Und ein letztes:
Anstatt politischer, kollektivpsychologischer oder gesellschaftskritischer ‚Rahmungen‘ und Instrumentalisierungen ‚avantgardistischer‘ Kunstmittel als Mittel zum, ‚revolutionären‘, therapeutischen und jedenfalls kunstfremden Zweck, nehmen meiner Beobachtung nach in ‚postmodernen‘ Zeiten phantastische und religiöse Kontextualisierungen (Konnotationen!) zu. Religiöse und mythologische Subtexte und eine selbstreferentielle Zeichen-Mystik, in der Signifikanten und Signifikate (‚Kunst‘ und bezeichnete ‚Welt‘) tendenziell zusammenfallen, bedienen sich experimenteller und sprachspielerischer Verfahren, die auch die mittelalterliche und frühneuzeitliche ars combinatoria und die Literatur der Mystik längst praktizieren (exzessiv zuletzt in Michael Lentz‘ 1000-Seitenroman Schattenfroh. Ein Requiem. Frankfurt/M.: Fischer 2018).
Der Zusammenhang der Avantgarden mit solchen tradierten Kontexten ist enger, als es scheint und bedürfte weitergehender historischer Erhellung (über evidente Romantik-Bezüge hinaus).
Historisches Anschauungsmaterial bietet auf fast 1000 Seiten überreich:
Ulrich Ernst (Hrsg.): Visuelle Poesie. Historische Dokumentation theoretischer Zeugnisse. Bd. 1: Von der Antike bis zum Barock. Berlin, Boston: de Gruyter 2012.
Siehe zur Literatur ab 1960, u.a. auch zu Michael Lentz:
Wilhelm Haefs / Stefan Brückl / Max Wimmer (Hrsg.): Metafiktionen. Der experimentelle Roman seit den 1960er Jahren. München: edition text + kritik, Boorberg 2021 (= neoAvantgarden, hrsg. von Hans-Edwin Friedrich und Sven Hanuschek).