Professor Dr. Claus-Michael Ort
Vorlesung: Literatur der Avantgarden (Wintersemester 2020/21)

Surrealismus I

André Breton und andere (écriture automatique)

Traditionsbildung der Avantgarde

Bevor ich Ihnen in den folgenden Themenabschnitten noch drei Strömungen und Gruppierungen der Avantgarde bzw. Neo-Avantgarde anhand exemplarischer Werke und Programme vorstellen werde – neben dem Surrealismus v.a. die in den späten 1950er Jahren entstehenden Formationen der ‚Wiener Gruppe‘ (einschließlich Seitenblicken u.a. auf die ‚konkrete Poesie‘) und des ‚Fluxus‘ –, sei daran erinnert, dass mit Futurismus und Dadaismus das Spektrum formaler und inhaltlicher Strategien und das Repertoire der Verfahrensweisen je kontextabhängiger, gesellschaftlicher Provokationen weitgehend ausgeschöpft scheint. Surrealismus und Neo-Avantgarden reagieren darauf jeweils mit unterschiedlichen – politischen, psychoanalytischen, (pseudo-)wissenschaftlichen und ästhetischen Kontextualisierungen, um den Stachel im Fleisch sozialer und sprachlicher Sinn- und Kohärenz-Erwartungen einerseits zu schärfen, andererseits aber auch kunstbetriebs-intern zu institutionalisieren, und – wie allein schon die Bezeichnungen ‚klassische Avantgarde‘ und ‚Neo-Avantgarde‘ ahnen lässt – die ‚Avantgarde‘ selbst zu historisieren und – paradoxerweise – als ihren eigenen, jederzeit und wiederholt abrufbaren Traditionskontext zu definieren.

Erinnern Sie sich an die erste Woche: Wo ‚Avantgarde‘ bereits erwartet wird und ihre Verfahrensweisen bereits tradiert und konventionalisiert sind, werden ‚Erwartungen‘ nicht enttäuscht, sondern bestätigt.

Die unten abgebildete schematische Übersicht, die aus einer früheren Fassung der Vorlesung stammt und die ich dennoch– trotz ihrer Unbeholfenheit – nicht unterdrücken wollte – siedelt diese intendierten sprachlichen, semantischen und pragmatischen Erwartungsenttäuschungen, Kommunikationsunterbrechungen als De-Kontextualisierungen, Kohärenzbrüche und (vermeintliche) Sinn-Zerstörungen oder Sinn-Befreiungen auf Seiten der KUNST zwischen zwei semiotischen Polen an: dem akustisch-auditiven Pol (innersprachlich: Laute; außersprachlich: Musik) und dem optisch-visuellen Pol (innersprachlich: Schrift, Typographie; außersprachlich: Bildende Kunst, Objekt-Kunst).

Die synästhetische (‚simultane‘) Kombination der Medienkanäle / Zeichensysteme in performativen und ‚theatralen‘ Formaten von Happening‘ und Aktionskunst versucht schließlich mehr oder weniger direkt performativ ins öffentliche ‚LEBEN‘ einzugreifen und durch Provokation sinnliche Erfahrungsbereiche zu erweitern und/oder zu kritischer (Selbst-)Reflexion von Kunst, Gesellschaft, Körperlichkeit, Raum und Zeit und der je eigenen Wahrnehmungsweisen und Wahrnehmungsvoraussetzungen anzuregen. International prominente Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit bis heute sind die OEuvres des deutschen Theater- und Filmemachers und Performers Christoph Schlingensief (1960-2010), der serbischen Aktionskünstlerin Marina Abramović (*1946) und des schweizer Theaterautors und Regisseurs Milo Rau (*1977). Alle Varianten können dabei jeweils auf intentionaler oder aleatorischer Werkgenese oder Kombinationen aus beiden beruhen.

Beachten Sie bitte ferner:

1) dass in der Darstellung links flüchtige Zeitkunst wie gesprochene Sprache, Musik, theatrale Performance angesiedelt ist und rechts deren materiell fixierbare, statische Aufzeichnungen (Partituren, Texte) sowie die schriftliche Seite der Sprache, die über den Zwischenschritt der Typographie in objekthaft fixierbare Kunst übergehen kann– Malerei, Skulpturen, Collagen, Objekte (wie das Urinoir von Duchamp) oder auch Manifeste und Theorien (Konzepte / concept art: die Idee zählt, nicht die Verwirklichung), Aufzeichnungen und Relikte von performances;

und 2) dass mit Blick auf die Unterscheidung von Denotation und Konnotation (Roland Barthes) jede Inkohärenz durch Isolierung sprachlicher Elemente (Laute, Buchstaben, Wörter) oder durch Versetzung in einen neuen Kontext, der den Gebrauch der Elemente erschwert oder verunmöglicht, Erwartungen verletzt und Bedeutungen getilgt werden (De-Semantisierung durch De-Kontextualisierung), zugleich aber auch neue Bedeutungen hervorgebracht werden.

Neben kunstexternen Bedeutungshorizonten (Fremdreferenz) – Kritik am Kommerz, an der Politik, an falschen Sinnangeboten (Erster Weltkrieg!) ‚bedeutet‘ insbesondere der Dadaismus immer auch sich selbst und das von ihm benutzte sprachliche und bildliche Material (Selbstreferenz), reflektiert implizit also auch seinen prekären Kunststatus und seine – intentionale oder zufällige – Werkgenese. Wie wir sehen werden, erweisen sich die Bedeutungsstiftungen des Surrealismus dagegen zusehends als tiefenpsychologisch geprägt, fangen den anarchisch spielerischen Wildwuchs und den unkalkulierbaren Zufall nachträglich ‚wissenschaftlich‘ auf und entwickeln neue, traum-analoge Kohärenzebenen (wie z.B. im berühmten Film Le chien andalou [1929] von Luis Buñuel und Salvador Dalí).

Aber auch schon Futurismus und Dadaismus begnügen sich auf die Dauer nicht mit der spielerisch experimentellen Erweiterung der Materialbasis für Kunst und einer bloßen Erweiterung – Öffnung – des Werk-Begriffs (Readymades, objets trouvés). Denken Sie an die politischen, religiösen (Johannes Baader) und die pseudo-philosophischen und naturwissenschaftlich-technischen Weiterungen von Raoul Hausmann.

Und schließlich ist 3) zum Verhältnis intentionaler und nicht-intentionaler Werkgenese (‚Zufall‘) anzumerken: Auch wenn Dada und der Surrealismus behaupten, ‚Leben‘ sei unkalkulierbarer ‚Zufall‘ und ‚Kunst‘ und ‚Leben‘ (als Wirklichkeit jenseits der Kunst) kämen zur Deckung, wenn der ‚Zufall‘ als künstlerisches Produktionsprinzip regiere, so ist doch das meiste – bei Jean Arp, bei Tristan Tzara und jedenfalls bei Kurt Schwitters, der beide Aspekte unterschiedlich akzentuiert und innerhalb der ‚Kunst‘ ironisch zu integrieren versucht – als eine Synthese beider werkgenetischer Verfahren zu interpretieren. Vorgängig beabsichtigte Zufallseinschränkung wird von aleatorischer oder unbewusster – ‚automatistischer‘ – Variation und Kombination des Materials gefolgt, die erneut in eine intentional gestaltende Nacharbeitung, Kohärenzstiftung und Wiederholung von Elementen mündet. Wie in der letzten Themenwoche gezeigt, fordert Schwitters dies ausdrücklich und reklamiert für sich, mit seinen Werken auf der Seite der Kunst zu bleiben – einer Kunst also, die Kunst und Nicht-Kunst, schöpferische Intention und Zufall, innerhalb des Werkes ausbalanciert.

Wie wir sehen werden, wiederholt sich die Geschichte der Avantgarden im Neo-Dadaismus und in den Neo-Avantgarden nach dem Zweiten Weltkrieg – auch das Inventar der künstlerischen Materialien und Gestaltungsmöglichkeiten verändert sich nicht mehr wesentlich.

Gründungslegende des Surrealismus’

Zunächst wird anzudeuten und zu vertiefen sein, wie sich der ‚Surrealismus‘ historisch und ‚logisch‘ aus Dada entwickelt – konzeptuell und gruppendynamisch.

Das Wort „sur-réalisme‘ – Überwirklichkeit – leitet sich vom Adjektiv ‚surréaliste‘ ab, das der bereits im Zusammenhang mit dem Futurismus erwähnte Guillaume Apollinaire erstmals verwendet, und zwar im Untertitel seines Dramas Les mamelles de Tirésias. Drame surréaliste en deux actes et un prologue (UA 1917, Erstdruck 1918; dt. ‚Die Brüste des Teiresias‘). Als Priester des Zeus wird der blinde Seher Teiresias, der durch mehrere griechische Tragödien geistert, darunter auch durch Sophokles‘ König Ödipus, in eine Frau verwandelt, nachdem er von zwei sich begattenden Schlangen die weibliche tötet. Er heiratet, gebiert Kinder und wird erst wieder zum Mann, nachdem er dieselbe Handlung mit einem männlichen Opfer vollzogen hat.

Holger Schulze schildert anschaulich anlässlich von Les Champs magnétiques (1919) von André Breton und Philippe Soupault die Entstehung oder ‚Entdeckung‘ der den Surrealismus prägenden Spezialvariante von Aleatorik, nämlich des ‚automatischen Schreibens‘ als „fluktuierende Selektion“, so dass ich auf eine Nacherzählung in eigenen Worten verzichte:

Ein Weltkrieg ist vorüber, Weltkrieg Nummer eins. Zwei junge Autoren um die zwanzig sitzen in getrennten Zimmern und schreiben vor sich hin. Der eine von beiden, ein Jurist, schreibt in seinem Büro des Commissariat des essences et pétroles. Der andere, ein Medizinstudent, sitzt auf seinem Zimmer im Hôtel des Grands Hommes. Während des Krieges hatten sie sich kennen gelernt, der Medizinstudent war als Hilfsarzt im Militärhospital Val des Grâce eingesetzt und der Jurist wurde als Artillerist in ein naheliegendes Lazarett eingeliefert. Der erkrankte Jurist lieh dem Mediziner sein Exemplar der Chants du Maldoror (1869) des Comte de Lautréamont alias Isidor Ducasse (1846-1878) und dies begründete ihre Freundschaft. Begeistert rezitieren sie gemeinsam diese Gesänge, berauschten sich an ihrem unwirklichen, überwirklichen Stil – und beschlossen, nach dem Ende des Krieges ebenfalls Schriftsteller zu werden.

Der Mediziner André Breton lernt im Ersten Weltkrieg nicht nur den Juristen Philippe Soupault kennen, sondern dieser macht ihn auch bekannt mit dem gleichermaßen kunst- wie kriegsbegeisterten Guillaume Apollinaire (1880-1918) und 1917 mit der neuen Züricher Zeitung DADA und dem dadaistischen Cabaret Voltaire. Gemeinsam begegnen sie auch Jacques Vaché [1895-1919; C.-M.Ort]. Seine Ungerührtheit inmitten der Schrecken des Krieges, seine eigensinnige Lebensführung und sein zynisch verspielter ‚umour’ inmitten der Maschinerie einer Armee beindruckten Breton und Soupault. Die Bedeutung solcher Weltkriegserfahrungen und -begegnungen wird in Legendenbildungen zwar überhöht; doch hat der erste Weltkrieg tatsächlich nicht nur die Produktionsverfahren in Wirtschaft und Wissenschaft beschleunigt und radikalisiert, sondern auch in der Kunst.

Das schon in den Frühavantgarden starke Bewusstsein, dass viele Phänomene lediglich historisch kontingent und beliebig seien, erlebt in den Gewalt- und Zerstörungsexzessen des Weltkrieges eine ungeahnte Steigerung. Konnte doch tatsächlich jedes Phänomen allein durch Kriegsereignisse in sein Gegenteil umschlagen. Aus Familienvätern wurden Soldaten, aus Verhandlungspartnern Feinde, Labyrinthe des Stellungskrieges entstanden dort, wo zuvor noch eine Waldlichtung war und aus Schulabgängern wurden Kriegsversehrte. Künstler der Avantgarde erklärten diese existentielle Kontingenzerfahrung des Weltkrieges umgekehrt zum entscheidenden Auslöser für Verfahren, die die Kontingenz im Kunstwerk steigern – nichtintentionale Verfahren der Werkgenese.

Anders als Vaché oder Apollinaire empfand Breton diese Gewaltexzesse nur als eine weitere Form unerträglicher Autorität – und dennoch wurden der Nonkonformist Vaché und der subtil affirmative Apollinaire zu Vorbildern und Schutzheiligen für das, was er wenig später Surrealismus nennen sollte. War seine Künstlertheorie bis dahin von der symbolistischen Frühavantgarde Rimbauds und Mallarmés bestimmt, entwickelte Breton nun selbst ein gesteigertes Kontingenzbewusstsein. Im Automatismus und der Nichtintentionalität erkennt er eine neue und gesteigerte Verbindung des rimbaudschen „dérèglement des tous les sens“ [Befreiung des Sinns / von Sinn] mit dem mallarméschen Ideal eines reinen Artefaktes. Mit Soupault und Louis Aragon (1897-1982) gründet er 1919 eine literarische Zeitschrift Littérature; André Gide, Jules Romains und Paul Valéry gewinnt er als Beiträger und kann auch Lautréamont, Rimbaud und Vaché einer größeren Leserschaft bekannt machen. […] der ehemalige Medizinstudent [erinnert sich] schließlich an ein Buch, in dem der psychische Automatismus beim Schreiben als Möglichkeit erwähnt wurde, sich eine überwirkliche Welt zu erschließen – eine Welt wie sie der Maldoror präsentiert. Soupault und Breton erproben […] diese psycholiterarische Technik in einem Selbstversuch. Acht bis vierzehn Tage soll er dauern, wobei sie anfangs noch getrennt schreiben, jeder auf seinem Zimmer. […]

Die folgenden Kapitel entstehen gemeinsam. Die Schreibgeschwindigkeit steigt immer mehr an und wie in einem Frage-Antwort-Spiel wechseln sich die Schreibenden bei jeder Passage ab. Nach rund zwei Wochen legen sie die Ergebnisse ihren Freunden vor, allen voran Louis Aragon. Sie hören begeisterte Komplimente über die überraschende Bildlichkeit, die unvorhersehbaren Erzählwendungen – und dies bestärkt sie darin, ihr Werk zu veröffentlichen unter dem Titel Les Champs magnétiques, eine klangliche Anspielung auf die Chants des Maldoror. Von Oktober bis Dezember 1919 erscheinen die ersten drei automatisch entstandenen Texte der beiden in der Zeitschrift Littérature – und ein gutes Jahr später werden sie als Buch veröffentlich. Die Dokumentation eines parawissenschaftlichen Experiments wird Literatur.

[Holger Schulze: Das aleatorische Spiel. Erkundung und Anwendung der nichtintentionalen Werkgenese im 20. Jahrhundert. München: W. Fink 1999, S. 67 und S. 68-69]

Diese Gründungslegende, die auf die Protagonisten selbst zurückgeht und die Schulze mit der „Kontingenzerfahrung“ des Weltkrieges in Verbindung bringt, welche das Kriegsgeschehen als willkürliches und blind-sinnloses Wüten deutet, verdeutlicht Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu ähnlichen Varianten nicht-intentionaler Werkgenese, die als Aleatorik bereits zuvor im Züricher Dadaismus (Jean Arps wolkenpumpe, 1917, Erstpublikation 1920) und gleichzeitig u.a. bei Tristan Tzara (1920) zu beobachten sind (vgl. den Fünften Themenabschnitt!). Als écriture automatique stilisiert sie sich jedoch von Anfang an zum psychologischen Experiment, das über bloße Ästhetik hinausgeht und sich ebenso tiefenpsychologischen (unbewusste Assoziationen) wie ontologischen (‚Überwirklichkeit‘, ‚Sur-Realismus‘) Erkenntnis- und (Selbst-)Erfahrungsinteressen verdankt. Die ‚zufällig‘ und mutwillig anmutende Desemantisierung der Champs versteht sich jedoch explizit als Medium, als Zugang zu oberflächlich verhüllten (über-wirklichen) Tiefen des Unbewussten, die das vermeintlich Kontingente, Widersinnige als insgeheim motiviert und determiniert und keineswegs als ‚zufällig‘ versteht.

Die Anknüpfungspunkte an die nicht-aleatorischen Chants de Maldoror (1869) des Comte de Lautréamont (d.i. Isidore Lucien Ducasse, 1846-1870), der – wie die in Paris ansässige, amerikanische Schriftstellerin und Kunstsammlerin Gertrude Stein (1874-1946) – um und ab 1910 als früher Wegbereiter der Avantgarde gedeutet wird und ein literarisches Erweckungserlebnis für die junge Generation darstellt, beschränken sich auf intentionale ‚absolute Metaphern‘ und hermetische ‚Vergleiche‘:

Der berühmte, vielzitierte Vergleich aus den ‚Gesängen‘ „Er [ein Jüngling ] ist schön wie das zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch!“ (6/3) reduziert das tertium comparationis, also die merkmalssemantische Vergleichsgrundlage zwischen menschlicher ‚Schönheit‘ und einem ‚zufälligen‘ und höchst unwahrscheinlichen Zusammentreffen von Regenschirm und Nähmaschine auf einem Seziertisch massiv – und behauptet sie zugleich umso mehr. Wie Morgensterns ‚Wiesel‘ sein Verhalten nach der Reimstruktur der Sprache richtet, in der es thematisiert wird und der es seine textinterne Existenz verdankt, so treffen die drei Objekte auch nur deshalb sprachlich zusammen, um inkommensurable, allenfalls im poetischen Vergleich erfahrbare Schönheit auszudrücken. [Verwiesen wird darüber hinaus auf die eingehende Analyse der Champs magnétiques von Breton / Soupault durch Holger Schulze: Das aleatorische Spiel. […]. 1999, S. 82-94]

Neben den geschilderten Produktionsumständen, die 1919 zu Bretons und Soupaults Champs magnétiques führen, mit deren Verfahren der Pariser Dadaismus anfangs sympathisiert, ist eine zweite, gruppendynamische Episode zu nennen, die von Hans Richter, Breton und Tzara und allen Beteiligten als Zeichen für das Ende von Dada als Gruppe – nicht seiner Ästhetik und seiner künstlerischen Verfahren! – gedeutet wird; in Berlin war die Erste Internationale Dada-Messe bereits 1920 ein solcher finaler Höhe- und Endpunkt! Wie stellt sich also diese Weggabelung, an der sich Dadaismus und Surrealismus endgültig trennen, Dada ausläuft und sich der Surrealismus machtvoll formiert und als Gruppe institutionalisiert, aus der Perspektive des konsequenten Dadaisten Tristan Tzara dar?

Dada-Schauprozess

Ein Blick auf den fingierten Dada-Schauprozess gegen den rechtskonservativen, national-katholischen Schriftsteller Maurice Barrès (1862-1923) erweist sich durchaus als erhellend. Als ‚Anti-Dreyfusard‘ in der antisemitisch belasteten Dreyfus-Affaire (1894-1906) opponiert Barrès gegen die ‚dekadenten‘ Bohémiens des Fin de siècle, publiziert 1897 bis 1901 eine zivilisationskritische Roman-Trilogie unter dem Titel Le Roman de l’énergie nationale (‚Der Roman der nationalen Energie‘) und fungiert seit 1914 als Anführer der antideutschen, antisemitischen und antiparlamentarischen Ligue des Patriotes (‚Liga der Patrioten‘). Aufgrund seines sprachlich ‚modernen‘ Raffinements wird Barrès allerdings von linken Intellektuellen wie Louis Aragon oder François Mitterrand weiterhin gelesen und geschätzt.

André Breton veranstaltet 1921 einen fingierten Schau- und Spottprozess gegen Barrès als dadaistisches Happening mit Gruppenexkursionen, an dem alle prominenten Dadaisten als Rollenspieler – Zeugen, Anwälte, Ankläger, Breton als Richter (versteht sich!), Tzara als Zeuge – teilnehmen und der in einem persönlichen Zerwürfnis von Tzara und Breton endet und zugleich das Ende von Dada in Paris markiert.

Im Anschluss daran formiert sich eine ‚surrealistische‘ Gruppierung, die sich nicht mehr durch anarchisch entfesselte, progressive Ironie gegenüber allem und jedem einschließlich sich selbst auszeichnet, sondern sich auf ‚wissenschaftlich‘ ernsthafte, tiefenpsychologisch motivierte écriture-automatique-Experimente beruft. Der inszenierte ‚Schauprozess‘ gerät pubertär ‚ernst‘ und wird von Tristan Tzara nach Kräften lächerlich gemacht:

Dieser Prozess wurde […] von einem Teil der Dadaisten durchaus ernst genommen. Barrès hatte vielen der Dadaisten in ihrer Jugend als Vorbild […] gegolten und hatte sich dann zu einem ‚Verräter‘ entwickelt, der dem reaktionären ‚L’Echo de Paris‘ als Sprachrohr diente. Vorsitzende dieses Gerichts war Breton, Beisitzer Fraenkel und Dermée, Staatsanwalt Ribemont-Dessaignes, Verteidiger Aragon und Soupault, Zeugen Tzara, Rigaut, Péret etc.. Unter ihnen befand sich auch der italienische Poet Giuseppe Ungaretti. Barrès selbst wurde durch eine Kleiderpuppe dargestellt und in Abwesenheit angeklagt. Er […] wurde des „Verbrechens gegen die Sicherheit des Geistes“ beschuldigt.
[…]
Tzara und Picabia, der schon vor Ende des Prozesses den Saal verließ, waren grundsätzlich gegen diese mit so viel Ernsthaftigkeit beladene Veranstaltung gewesen und hatten das Ganze nur als eine neue Gelegenheit zur ‚kannibalistischen Provokation‘ betrachtet [Bezug auf das Manifest Cannibale Dada des Schriftstellers und Malers Francis Picabia, das auf einer der letzten großen Dada-Soirées in Paris 1920 verlesen worden ist; C.-M. Ort]. Es war also nur verständlich, dass Tzara versuchte, das ganze im Stile Dadas ins Absurd-Lächerliche zu ziehen […].

[Hans Richter: DADA Kunst und Antikunst. Mit einem Nachwort von Werner Haftmann. Köln: DuMont Schauberg 1964, 4. Auflage 1978, S.189 und 190]

Ein Auszug aus der ‚Zeugenaussage‘ Tzaras in der öffentlichen Verhandlung vom 13. Mai 1921 – Banderole über der Bühne: „Unwissenheit schützt vor Dada nicht“ – mag Tzaras Strategie illustrieren (Prozessakten publiziert in Littérature Nr. 20. August 1921):

Zeuge (Tzara):
Ist die gesellschaftliche Ebene für Sie der Staat, das Land, das Volk oder die Armee? Da ich selbst der Staat, das Land, das Volk und die Armee bin, wird meine Aussage Sie in diesem Falle sehr erfreuen.
Präsident (Breton):
Glauben Sie denn, Sie sind allein in diesem Saal?
Z:
Mein lieber Herr Präsident, zu Beginn meiner Aussage habe ich Ihnen gesagt, dass wir alle Mistkerle sind: ich bin es ein bißchen weniger als die übrigen in diesem Saal, der Beweis dafür ist, dass ich mich noch nicht umgebracht habe, […].
P:
Wissen Sie, warum man Sie um Ihre Aussage gebeten hat?
Z:
Natürlich, weil ich Tristan Tzara bin. Obwohl ich davon noch nicht ganz überzeugt bin.
P:
Was ist Tristan Tzara?
Z:
Das genaue Gegenteil von Maurice Barrès.
P:
Da die Verteidigung davon überzeugt ist, dass der Zeuge den Angeklagten um sein Schicksal beneidet, fragt sie, ob der Zeuge dies zuzugeben wagt.
Z:
Der Zeuge scheißt auf die Verteidigung.
P:
Offensichtlich wagt es der Zeuge nicht zuzugeben, dass er den Angeklagten um sein Schicksal beneidet.
Z:
Jawohl, ich habe kein Auto, würde aber gern eines haben.
[…]. […]
[…]. […]
P:
Besteht der Zeuge darauf, dass man ihn für einen Vollidioten hält, bzw. ist ihm daran ge-legen, in eine geschlossene Anstalt eingewiesen zu werden?
Z:
Jawohl, ich bestehe darauf, für einen Vollidioten gehalten zu werden, versuche aber nicht, aus der geschlossenen Anstalt auszureißen, in der ich mein Leben zubringe.
[…]. […]
[…]. […]
P:
Ein für allemal: Was halten Sie von der Logik?
Z:
Die Logik ist das bewegungslose Gerippe des Denkens. Die Logik ist eine Konvention, übernommen durch das Minimum an Fähigkeiten, die diese schmutzige Halluzination ausmacht, welche sich Mensch nennt. Also existiert die Logik nicht. Diese kleinen Barrès‘ benutzen sie nur, um sich einen Platz als Abgeordnete zu verschaffen.
[…]. […]
[…]. […]
Z.
[…]. Ich schließe mit einem kleinen Dada-Lied.
Das Lied eines Fahrstuhls / Der Dada im Herzen trug / Strengte seinen Motor an zu sehr / Der Dada im Herzen trug //
Im Fahrstuhl fuhr ein König / Schwer zerbrechlich autonom / Er schnitt seinen langen rechten Arm ab / und schickte ihn dem Papst in Rom // […].
[…]. […]
[…]. […]
Trinkt Vogelmilch / Wascht Eure Schokolade / Dada / Dada / Eßt Kalbfleisch.

[Unda Hörner/Wolfram Kiepe (Hrsg. und aus dem Französischen übersetzt): DADA gegen DADA. Die Affaire Barrès [1987]. Hamburg: Edition Nautilus 1997; S. 14; S. 29-30; S. 31-32; S.33-34; S. 35-36; S. 37]

Die implizite Paradoxie von Dada, der wir bereits mehrfach begegnet sind, wird einmal mehr evident: Wenn Dada auf diese parodistische Art und Weise mit den Mitteln seiner Gegner gegen diese, also gegen Stützen der ‚Gesellschaft‘ wie Barrès prozessiert, führt es zugleich wider Willen einen ‚Prozess‘ gegen sich selbst und seine künstlerischen Mittel. Dada richtet sich so deutlich wie nie zuvor gegen sich selbst und gegen seinen eigenen Obrigkeitsgestus, den es vom bürgerlichen Gegner, also von der durch Barrès repräsentierten Gesellschaft geborgt hat. Dada führt diesen Gestus nicht mehr nur als sinnentleert vor, sondern droht ihm nun selbst zu erliegen. Wenn Dada, so die Botschaft Tzaras, die selbstkritische Reflexion der Kontextabhängigkeit seines Provokationspotentials verweigert, habe der Gegner, von dem Dada abhängig ist, gewonnen, und die ‚Kunst‘ das Nachsehen, den ‚Prozess‘ verloren.

Der Umgang Bretons und der Surrealisten mit diesem Dilemma wird indes ein grundsätzlich anderer sein – Breton psychologisiert und politisiert Dada, nimmt sich wissenschaftlich ernst und vollzieht den Bruch mit Dada und Tzara. Tzara diagnostiziert später (im Gespräch mit dem Schriftsteller Georges Ribemont-Dessaignes (1884-1974) das Ende von Dada wie folgt:

Es besteht Anlass, das Ende Dadas genauer zu beschreiben. Unter dem Vorwand, dass unsere Demonstrationen allem zum Trotz eine Wendung ins Künstlerische nahmen, entgegen aller Verachtung, die wir der Kunst gegenüber sonst zeigten, wollte Breton unsere Aktivitäten zu Unternehmungen hin lenken, die viel direkter auf das Leben bezogen waren. Seiner Initiative verdankte sich der Prozess Barrès, bei dem letzterer, der als Angeklagter persönlich nicht zu erscheinen wagte, durch eine Puppe repräsentiert wurde. Es gab Zeugenaussagen. Du selbst warst es, der die Anklage erhob, während Soupault und Aragon die Verteidigung übernahmen. Als Péret, der den Unbekannten Soldaten darstellte, zu seiner Aussage aufgefordert wurde und auf deutsch antwortete, brach ein heftiger Skandal aus, der bereits schwelte.

[Unda Hörner/Wolfram Kiepe (Hrsg. und aus dem Französischen übersetzt): DADA gegen DADA. Die Affaire Barrès [1987]. Hamburg: Edition Nautilus 1997; S. 14; S. 29-30; S. 84]

écriture automatique

Vor diesem Hintergrund ist noch einmal auf das zweifellos künstlerische Mittel der ‚automatistischen‘ Poesie, auf das ‚automatische Schreibens‘ (écriture automatique) im Kontext surrealistischer Programmatik zurückzukommen, das mit der Aleatorik des Gefundenen oder Zerschnipselten die Art der Werkgenese teilt – beide sind nicht-intentional, entziehen sich also dem planvollen Gestalten des Künstlers.

Eine Quelle der écriture automatique ist der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts verbreitete Spiritismus und das vermeintlich fremdbestimmte Schreiben des in Trance befindlichen Mediums, dem Verstorbene Botschaften diktieren, die es willenlos aufzeichnet und darüber hinaus vor allem die Tiefenpsychologie, und zwar insbesondere die Schrift des Psychologen Pierre Janet: L’Automatisme Psychologique (1889).

Der Philosoph, Psychiater und Psychotherapeut Pierre Janet (geb. 1859 in Paris; gest. 1947 ebenda) gilt als Begründer der modernen ‚dynamischen Psychiatrie‘, die sich als prägend für Sigmund Freud, Alfred Adler und Carl Gustav Jung und für die Psychologie des Unbewussten erweist (vgl. auch Janet: État mental des hystériques. Vol 1: Les stigmates mentaux [Préface de Charcot] ; dt. 1894: Der Geisteszustand der Hysterischen). Breton definiert im ersten Manifest des Surrealismus von 1924 den neu ‚erfundenen‘ Surrealismus im Gestus des Lexikons, der Enzyklopädie wie folgt:

Ich definiere es [das Wort S.] also ein für allemal:
SURREALISMUS, Subst., m. – Reiner psychischer Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung.
ENZYKLOPÄDIE. Philosophie. Der Surrealismus beruht auf dem Glauben an die höhere Wirklichkeit gewisser, bis dahin vernachlässigter Assoziationsformen, an die Allmacht des Traumes, an das zweckfreie Spiel des Denkens. Er zielt auf die endgültige Zerstörung aller anderen psychischen Mechanismen und will sich zur Lösung der hauptsächlichen Lebensprobleme an ihre Stelle setzen.

[André Breton: Die Manifeste des Surrealismus. Deutsch von Ruth Henry. Reinbek: Rowohlt 1986; S.9-43, hier S. 26-27]

Im selben Manifest gibt Breton eine Art Anleitung zum automatischen Schreiben als Medium des Unbewussten, einer tieferen (oder höheren) ‚sur-réalité‘. Ich zitiere Bretons Meditationsanweisung im ersten Manifest von 1924 – Sie sind zum Selbstversuch eingeladen, um die Realisierbarkeit zu überprüfen:

Lassen Sie sich etwas zum Schreiben bringen, nachdem sie es sich irgendwo bequem gemacht haben, wo Sie Ihren Geist soweit wie möglich auf sich selber konzentrieren können. Versetzen Sie sich in den passivsten oder den rezeptivsten Zustand, dessen Sie fähig sind. Sehen Sie ganz ab von Ihrer Genialität, von Ihren Talenten und denen aller anderen. Machen Sie sich klar, dass die Schriftstellerei einer der kläglichsten Wege ist, die zu allem und jedem führen. Schreiben Sie schnell, ohne vorgefasstes Thema, schnell genug, um nichts zu behalten, oder um nicht versucht zu sein, zu überlesen. Der erste Satz wird ganz von allein kommen, denn es stimmt wirklich, dass in jedem Augenblick in unserem Bewusstsein ein unbekannter Satz existiert, der nur darauf wartet, ausgesprochen zu werden. Ziemlich schwierig ist es, etwas darüber zu sagen, wie es mit dem folgenden Satz geht; ohne Zweifel gehört er unserer bewussten Tätigkeit und zugleich der anderen an – wenn man annimmt, dass die Tatsache, einen ersten Satz geschrieben zu haben, ein Minimum an Wahrnehmung mit sich bringt. Es spielt übrigens keine Rolle: gerade darin liegt zum großen Teil der Wert des surrealistischen Spiels. Immerhin wird sich die Interpunktion dem völlig kontinuierlichen Wortfluss zweifelsohne widersetzen, obgleich sie so unerlässlich scheint, wie die Bildung von Knoten auf der vibrierenden Saite. Fahren Sie solange fort, wie Sie Lust haben. Verlassen Sie sich auf die Unerschöpflichkeit dieses Raunens. Wenn ein Verstummen sich einzustellen droht, weil Sie auch nur den kleinsten Fehler gemacht haben: einen Fehler, könnte man sagen, der darin besteht, dass Sie es an Unaufmerksamkeit haben fehlen lassen – brechen Sie ohne Zögern bei einer zu einleuchtenden Zeile ab. Setzen Sie hinter das Wort, das Ihnen suspekt erscheint, irgendeinen Buchstaben, den Buchstaben l zum Beispiel, immer den Buchstaben l, und stellen Sie die Willkür dadurch wieder her, dass Sie diesen Buchstaben zum Anfangsbuchstaben des folgenden Wortes bestimmen.

[André Breton: Die Manifeste des Surrealismus. Deutsch von Ruth Henry. Reinbek: Rowohlt 1986; S.9-43, hier S. 29-30]

Breton verweist außerdem auf eine Automatismus-Erfahrung, die der norwegische Autor Knut Hamsun (1859-1952, Nobelpreis 1920) in seinem ersten Roman Sult (1890; dt. Hunger) beschreibt:

Morgens wachte ich sehr zeitig auf.. […]. Plötzlich fallen mir zwei drei gute Sätze ein, zur Verwendung in einer Skizze, […], scharfe sprachliche Glückstreffer, wie ich sie noch nie gehabt hatte. Ich wiederhole mir dauernd diese Worte und finde, sie sind ausgezeichnet. Bald fügen sich weitere hinzu, ich bin mit einemmal hellwach, […]. […]. Ich schreibe wie ein Besessener und fülle eine Seite nach der anderen, ohne einen Augenblick Pause. […]. Es drängt fortgesetzt auf mich ein, ich bin mit meinem Stoff angefüllt, und jedes Wort, das ich schreibe, wird mir in den Mund gelegt.

[zitiert nach Holger Schulze: Das aleatorische Spiel. Erkundung und Anwendung der nichtintentionalen Werkgenese im 20. Jahrhundert. München: W. Fink 1999, S. 72; auch Breton: Die Manifeste des Surrealismus. 1986, S. 24]

Durch die „motorische Technik der Werkgenese“ werden „Artefakte kohärenzfrei improvisiert“ und zu „unwillkürliche[n] Lebensäußerungen“: „Die avantgardistische Forderung schlechthin [als ‚romantische‘, siehe Schlegels ‚progressive Universalpoesie‘, C.-M. Ort] wäre damit eingelöst. Alltagsäußerungen sind Kunstäußerungen, Kunst ist Leben.“

[alle Zitate aus: Holger Schulze: Das aleatorische Spiel. Erkundung und Anwendung der nichtintentionalen Werkgenese im 20. Jahrhundert. München: W. Fink 1999, S. 72-73; vgl. auch S. 73-78 zu Bretons Romanen Nadja (1928) und L‘Amour fou (1937) sowie zum Surrealismus S.67-94]

Eine andere – polyintentionale – Variante bildet das, der Legende nach, von den Surrealisten um Breton oder von Breton um 1925 aus einem Kinderspiel entwickelte Spiel Cadavre exquis: mehrere Einzel-‚Intentionen‘ ohne Kenntnis des sprachlichen Kontextes, also ohne Kenntnis der Wortwahl des Vorgängers, wirken nacheinander zusammen und bilden eine Art von ‘kollektivem Automatismus’: Der erste Satz, der der Legende nach entstanden sei, lautet: „Le Cadavre – exquis – boira – le – vin – nouveau“ (siehe Holger Schulze: Das aleatorische Spiel. […]. 1999, S. 80 ; „Der vorzügliche Leichnam wird den neuen Wein trinken.“). ‚Onkel Fritz sitzt in der Badewanne …‘ – Papier falten, weiterreichen, Sie kennen das Kinderspiel, nehme ich an.

Ob Objets trouvés collagiert oder montiert, sprachliche oder andere Funde – Papier-Schnipsel, Ausrisse, Ausschnitte – gemischt werden und die Anordnung dem Zufall bzw. dem freien Fall (Hans Arp) – überlassen wird: in allen ‚Fällen‘ handelt es sich um nicht-intentionale Werkgenesen. In der surrealistischen und das heißt ‚automatistischen’ Spielart ist es jedoch der Produzent selbst, der zum Medium eines Automatismus wird, welcher sich seinem gestalterisch bewussten Einfluss entzieht und dessen mechanische Determinanten ihm unbekannt sind. Die objets trouvés des eigenen Inneren, also Sätze, die auf Formulierung warten und den Geist auf sich selber konzentrieren, werden psychologisiert.

Und um ein Textbeispiel (‚Gedicht‘) aus Bretons Manifest zu geben: Bretons Collage aus aleatorisch kombinierten Zeitungsschlagzeilen Un éclat de rire / de saphir dans l’ile de ceylan unterscheidet sich kaum von dadaistischen Varianten:

Im übrigen sollten die surrealistischen Mittel erweitert werden. Alles ist geeignet, um von bestimmten Assoziationen den erwünschten Überraschungseffekt zu erlangen. Die Papier-Collagen von Picasso und Braque besitzen den gleichen Wert wie die Einführung eines Gemeinplatzes in eine stilistisch zurechtgefeilte literarische Abhandlung. Man darf sogar GEDICHT nennen, was man durch eine so zufällig wie möglich gemachte Assemblage erhält (berücksichtigen wir, wenn Sie wollen, die Syntax), und zwar von Titeln und Titelfragmenten, die man aus Zeitungen ausgeschnitten hat:

[André Breton: Die Manifeste des Surrealismus. Deutsch von Ruth Henry. Reinbek: Rowohlt 1986; S.9-43, hier S. 38-40]

Berücksichtigen wir also die Syntax, das – intentionale oder zufällige? – inkohärente Nacheinander der Reihenfolge, der Anordnung der Elemente. Die von der Syntagmatik abstrahierende Paradigmatik semantisch äquivalenter oder zusammengehöriger Elemente enthüllt darüber hinaus die thematische Struktur des ‚Gedichts‘, das sowohl (indirekt selbstreferentiell) von ‚Kunst‘ und ‚Aleatorik‘ handelt („irrender Sänger“, „Tanzen“, „Die erste weisse Zeitung / des Zufalls“) als auch von ‚Schönheit‘ und Erotik („Das schönste Stroh / hat welke Haut“, „Handwerker ihrer Schönheit“, „Madame“, „Seidenstrümpfe“, „Zuerst die Liebe“, „Ball der einsamen Herzen“) sowie von ‚Religion‘ und ‚Natur[wissenschaft]‘ („Das Café / predigt für seinen Heiligen“, „Das Gebet / für Schön-Wetter“, „Die ultravioletten Strahlen“). Es kontrastiert ‚Stadt‘ („Paris“) und (exotisches) ‚Land‘ („Insel Ceylon“, „In einsamem Bauernhaus“, „Hirsch“, „[…] ist ein großes Dorf“) und fragt nach dem „irrenden Sänger“ („Wo ist er?“), der „in der Erinnerung“ / in seinem Hause“ angesiedelt wird.

Breton selbst bekennt als ‚irrender‘ und heroisch suchender ‚Sänger‘ und prophetischer ‚Führer‘, der in die ‚tiefen‘ unbewussten Quellen-Regionen der ‚Erinnerung‘ und ‚dichterischen Imagination‘ ‚hinabsteigt‘ ebenfalls im Ersten Surrealistischen Manifest (1924; hier erneut zitiert aus André Breton: Die Manifeste des Surrealismus. 1986; S.9-43):

Wir leben noch unter der Herrschaft der Logik – […]. [S.15]

Ich glaube an die künftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität. Nach ihrer Eroberung strebe ich, sicher, sie nicht zu erreichen […]. [S.18]

Man gebe sich doch nur die Mühe, die Poesie zu praktizieren. […]. Es ging darum, zu den Quellen der dichterischen Imagination hinabzusteigen und vor allem dort zu bleiben. Ich behaupte nicht, dies getan zu haben. Man muss viel auf sich nehmen, will man sich in jene entfernten Bereiche zurückziehen, wo alles zuerst so schwer zu gehen scheint, und noch schwieriger ist es, wenn man jemanden dorthin führen will. Dabei ist man niemals sicher, wirklich ganz dort zu sein. [S. 21]

Die Initiations-Narrationen des klassischen und romantischen Bildungsromans oder auch Fausts Abstieg ins ‚Reich der Mütter‘ (Johann Wolfgang Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil. 1832) lassen grüßen. Als Zeugen zitiert Breton neben Novalis (d.i. Friedrich von Hardenberg, 1772-1801; Manifest S.37) und den Früh-Romantikern u.a. auch die phantastische Literatur, so z.B. die Gothic novel des 18. Jahrhunderts (explizit Matthew Gregory Lewis‘ Roman The Monk, 1796; Manifest S. 19): „Es bleiben noch Märchen zu schreiben für Erwachsene“ (Manifest, S.19)
und: „Der Geist, der in den Surrealismus eintaucht, erlebt mit höchster Begeisterung den besten Teil seiner Kindheit wieder“ (Manifest S.37); das „Bewundernswerte am Phantastischen ist, dass es nichts Phantastisches daran mehr gibt [unter surrealistischen Voraussetzungen; C.-M. Ort]: es gibt nur noch das Wirkliche“ [das Über-Wirkliche = wirklich; C.-M. Ort] (Manifest S.19).

Nach dem Erscheinen des Manifestes 1924 wird die Zeitschrift Littérature durch ein Organ mit dem Titel La Révolution surréaliste ersetzt.

Wie die Präambel ankündigt, bietet die erste Nummer Resultate des ‚automatischen Schreibens‘ und der ‚Traumerzählung‘ („résultats obtenus par l’écriture automatique, le récit de rêve“). Der ‚Surréalisme‘-Fisch legt außerdem eine kunstreligiöse, christologische Konnotation dieser ‚Revolution‘ nahe, gelten doch die ‚eucharistischen Fische‘ in den Wandmalereien frühchristlicher Katakomben als Christussymbole, die auf das griechische Wort für ‚Fisch‘ (ΙΧΘΥΣ: ICHTHYS) zurückgehen und es als Akronym deuten: I–Ch–Th–Y–S (Iesous – Christos – Theou – Hyios – Soter: Jesus Christus Gottes Sohn Erlöser).

Und statt des sich selbst und die Gesellschaft parodierenden Dada-Zentralamtes und des Oberdada als Präsidenten des Erdballes (Sie erinnern sich) versteht nun ein ernst gemeintes (para-)wissenschaftliches Bureau des recherches surréalistes keinen Spaß mehr und führt pseudo-wissenschaftliche Versuchsreihen automatischen Schreibens durch. Bretons Zweites Manifest des Surrealismus aus dem Jahre 1930 wird diese Tendenz fortsetzen und noch sehr viel theoretischer, weniger poetisch und stärker politisch argumentieren.

In einer politischen Erklärung des Büros für surrealistische Forschungen vom 27. Januar 1925 heißt es:

Surrealismus und Psychoanalyse

Eine ‚verzweifelte‘, aussichtslose aber permanente Revolution aller politischen, psychisch-mentalen und ästhetischen Lebensverhältnisse also – insofern erweist sich der Surrealismus als gesellschaftstherapeutische Parallelaktion zu einer gesellschaftskritisch gewendeten Psychoanalyse. Neben dem Bezug auf Pierre Janet und den oben angedeuteten Anklängen an die Romantik fungiert Freuds Psychoanalyse in der Tat als die zentrale und tragende Säule des programmatischen Surrealismus, die der Mediziner Breton bereits früh für sich entdeckt, wie er im Ersten Manifest des Surrealismus (1924) ausführt (zu Freud siehe auch ebd. S.15 ff):

Ich beschäftigte mich damals noch eingehend mit Freud und war mit seinen Untersuchungsmethoden vertraut, die ich im Kriege gelegentlich selbst bei Kranken hatte anwenden können, und beschloss nun, von mir selbst das zu erreichen, was man von ihnen haben wollte: nämlich einen so rasch wie möglich fließenden Monolog, der dem kritischen Verstand des Subjekts in keiner Weise unterliegt, der sich infolgedessen keinerlei Zurückhaltung auferlegt und der so weit wie nur möglich gesprochener Gedanke wäre.

[André Breton: Die Manifeste des Surrealismus. 1986, S.24].

Wenn das ‚Unbewusste‘ so funktioniert, wie es Sigmund Freud in seiner Traumdeutung (1900) darstellt, es also die verdrängte unbewusste Wirklichkeit symbolisch bis zur Unkenntlichkeit des vermeintlichen Nonsens verschlüsselt (enkodiert), dann bedarf es des umgekehrt dekodierenden, entschlüsselnden Rückweges, um aus Traumprotokollen, Zufallspoemen, aleatorischen Collagen und v.a. aus den Ergebnissen automatischen Schreibens die verborgenen Bedeutungen – ‚sur-réalité‘ – ans Licht zu bringen:

Traumarbeit und Deutungsarbeit verhalten sich also als inverse, spiegelbildliche Prozesse. Der Surrealismus steht insofern unter permanentem Bedeutungszwang, besser: unter Interpretationszwang – die pure Lust am Erwartungsbruch, am spielerischen Erproben des sprachlichen Materials, von Readymade-Objekten usf. weicht einer strikten, tiefenpsychologischen Instrumentalisierung künstlerischer Techniken.

De-Semantisierung durch Kontextbruch wird zu konsequenter Neu-Semantisierung und wissenschaftlicher Re-Kontextualisierung, was den Werken der Surrealisten ihren Provokationscharakter aus der Außenperspektive zwar nicht nimmt, den Autoren und Autorinnen selbst aber, die sich – allen voran Breton – als Wissenschaftler/innen und Politiker/innen verstehen, zusehends weniger wichtig zu sein scheint.

Um noch einmal und abschließend aus der Erklärung des Büros für surrealistische Forschungen (1925) zu zitieren (s.o.): „Der Surrealismus ist keine Form der Poesie. Er ist ein Schrei des Geistes, der zu sich selber zurückfindet und fest entschlossen ist, voller Besessenheit seine Fesseln zu sprengen / notfalls mit richtigen Hammern!“ – und der sich „notfalls“ auch der „Literatur“ bedient.