Wahre Verbrechen?! – Kriminalfallgeschichten in der deutschen Literatur
Die (narrative) Rekonstruktion ‚wahrer Verbrechen‘ erlebt seit einigen Jahren in der gegenwärtigen Populärkultur einen regelrechten Boom. Im Zentrum dessen, was heute gemeinhin unter dem Label ‚True Crime‘ zusammengefasst wird, stehen oft auditive oder audiovisuelle Formate (z.B. Podcast, Serie), aber auch literarische Texte widmen sich der erzählerischen Gestaltung ‚realer‘ Kriminalfälle.
Schon im 18. Jahrhundert wurden ‚wahre‘ Kriminalfälle über ‚Geschichten‘ einem breiteren Publikum zugänglich gemacht, so etwa in sogenannten Fallgeschichten, die dokumentarisches Material (z.B. aus Akten, Protokollen) unter Anwendung literarischer Verfahren gestalten; oder in Form von (genuin literarischen) Kriminalerzählungen, die zwar auf ‚authentische Fälle‘ rekurrieren, aber im Kern einen künstlerischen Ansatz verfolgen. Gemeinsam ist beiden Formen, dass sie auf unterschiedliche Wissensbereiche ihrer Entstehungszeit rekurrieren: Sie verhandeln juristische, psychologische oder anthropologische Konzepte und soziale Konstellationen ihrer Entstehungszeit; sie geben Aufschluss über die gesellschaftliche Wahrnehmung von Verbrechern und Verbrechen, über die Relation von Moral und Recht sowie den Umgang mit normativen Verstößen durch das Justizsystem.
Später, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, herrschte in der Weimarer Republik ein enormes Interesse an besonders aufsehenerregenden Kriminalfällen und ‚monströsen‘ Tätern: Die Presse berichtete ausführlich und unmittelbar aus den Gerichtssälen über die spektakulärsten Fälle. Doch auch Schriftsteller griffen die Fälle ihrer unmittelbaren Gegenwart auf, die ihnen als Material für ihre Erzählungen und Romane dienten. Besonders in der von Rudolf Leonhard herausgegebenen Reihe Außenseiter der Gesellschaft (1924/25) literarisieren namhafte Autoren zeitaktuelle Kriminalfälle publikumswirksam.
Täterin oder Opfer?
Hermann Ungars Die Ermordung des Hauptmann Hanika – Tragödie einer Ehe (1925)
Wir haben uns mit einer Gerichtsreportage von Hermann Ungar aus dem Jahr 1925 auseinandergesetzt und die Schilderung der Ermordung des Hauptmann Hanikas unter dem Aspekt: ‚Täterin oder Opfer? Die Tragödie der Frau in der Weimarer Republik‘ untersucht.
Wir haben herausgefunden, dass Hilde Hanika, die als Mittäterin verurteilt wurde, zwar ein gewisser Teil der Schuld zugeschrieben werden kann, aber sie sich doch eher als Opfer ihrer Lebensumstände begreifen lässt. So urteilt auch der Autor in Bezug auf ihre Moralvorstellungen und Bezugspersonen
und kritisiert somit die Reaktion der Gesellschaft auf die Tat und das Gerichtsurteil.
(Emma Krämbring, Devin Kneusels, Louisa Wierig, Celina Werner)
Über die Möglichkeit der literarischen Wahrheits(re)konstruktion schreibt Bertolt Brecht in seinem kurzen Essay Über die Popularität des Kriminalromans: „Nur die Geschichte kann uns belehren über die[] eigentlichen Geschehnisse – soweit es den Akteuren nicht gelungen ist, sie vollständig geheimzuhalten. Die Geschichte wird nach den Katastrophen geschrieben.“ Bezieht sich der ‚Katastrophenberichterstatter‘ hierbei auf einen historischen Fall mit echtem Opfer und einem hinter Gitter sitzenden Täter, dann arbeitet der Kriminalroman demnach immer auch an der Erschließung der Zusammenhänge mit, die zur Tat geführt haben.
Verlorenes Kind, verlorenes Buch?!
Rahel Sanzaras Das verlorene Kind (1926)
Das verlorene Kind thematisiert auf verschiedenen Ebenen den Aspekt der Verlorenheit, sowohl in der Geschichte als auch paratextuell.
Die Geschichte beginnt mit dem Verlust eines Kindes, welches auf einem Hof ermordet wurde und nicht gefunden wird. Aber auch andere Verluste werden thematisiert. Diese müssen andere Hofbewohner:innen durchleben. Der Vater verliert seine anderen beiden Kinder an ein besseres Leben und seine Frau an den Tod. Die Mutter des Mörders verliert den Willen zu leben, als sie herausfindet, dass ihr Sohn der Mörder ist und erkennt ihren Sohn nicht mehr als ihr Kind an. Fritz, der Mörder verliert immer wieder seine Kontrolle, weshalb er das Kind umbringt. Nach der Gefängnisstrafe wird er wieder vom Vater des ermordeten Kindes aufgenommen, soll aber unter anderem Namen leben und verliert somit seine eigene Identität.
Paratextuell geht das Buch 1933 verloren, weil es auf der schwarzen Liste der verbrannten Bücher steht.
(Alexandra Pede, Laura Dieckmann, Marle Möhring, Aysen Baskurt)
Zielsetzung des Projektseminars
Im Sommersemester 2024 haben sich zwei Proseminare des Bachelorstudiengangs Deutsch die Aufgabe gestellt, die historischen Ursprünge und Entwicklungen (wahrer) Kriminalfallgeschichten zu untersuchen. Das Seminar Kriminal(fall)geschichten des 18. und 19. Jahrhunderts, das von Dr. Ingo Irsigler geleitet wurde, arbeitete mit Texten und Falldarstellungen von August Gottlieb Meißner, Anselm Ritter von Feuerbach sowie Friedrich Schiller.
Parallel dazu beschäftigte sich das Seminar True Crime in der Weimarer Republik (Leitung: Dr. Simon Hansen) vor allem mit Kriminalerzählungen, die im Kontext der Reihe Außenseiter der Gesellschaft erschienen sind: Alfred Döblins Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord (1924), Egon Erwin Kischs Der Fall des Generalstabschefs Redl (1924), Theodor Lessings Haarmann – Die Geschichte eines Werwolfs (1925) oder Hermann Ungars Die Ermordung des Hauptmann Hanika (1925). Die Studierenden forschten aber auch zu Kriminalerzählungen, die heute kaum noch bekannt sind: Zu Harry Domelas Der falsche Prinz. Leben und Abenteuer von Harry Domela (1927) oder zu Rahel Sanzaras großartigem Roman Das verlorene Kind (1926).