Vorlesung: Philosophie und Poesie der Postmoderne (WS 2014/15)
Professor Dr. Albert Meier

Jürgen Habermas: »Die Moderne – ein unvollendetes Projekt« (1980)

Der Sozialphilosoph Jürgen Habermas (*1929) zählt zu den bedeutendsten Intellektuellen der deutschen Gegenwart. Als Schüler Adornos und Horkheimers hält Habermas an der kritischen Philosophie der Frankfurter Schule fest und steht dem postmodernen Denken daher entschieden kritisch gegenüber.

Idee des ›herrschaftsfreien Diskurses‹

Das Festhalten an zentralen Gedanken der Aufklärung (Fortschritt, Perfektibilität, Optimismus und Monismus der Vernunft) zeigt sich deutlich in seinem zweibändigen Hauptwerk Theorie des kommunikativen Handelns (1981), worin Habermas die Idee eines ›herrschaftsfreien Diskurses‹ formuliert, bei dem durch ›kommunikative Rationaliät‹ ein ›Konsens‹ erreicht werden soll, d. h. das Ergebnis einer gleichberechtigt und rational geführten Kommunikation soll auf allgemeine Zustimmung treffen und zu gesellschaftlichem Fortschritt führen.

Mit dieser Position bildet Habermas einen Gegenpol zu Lyotard und Derrida, die in ihren Theorien einen Vernunft-Skeptizismus und Dissens formulieren.

Kritik an der Postmoderne

In seiner Rede Die Moderne – ein unvollendetes Projekt (11.9.1980) zur Verleihung des Adorno-Preises der Stadt Frankfurt hat Habermas seine Kritik an der Postmoderne offen geäußert und später in seiner Vorlesungsreihe Der philosophische Diskurs der Moderne (1985) weiter ausgeführt.

Als ›Neokonservativismus‹ wende sich die Postmoderne bewusst gegen die Ideale der Aufklärung und bringe damit die Gefahr eines Rückfalls in das autoritäre Prinzip vor der Epoche der Aufklärung mit sich. Da sie das Streben nach Einheit und Ganzheit verneine, könne die postmoderne Theorie keine Lösungsansätze anbieten, um die Zersplitterung der modernen Gesellschaft zu beenden.

Das Problem der ›subjektiven Freiheit‹ bleibe damit weiterhin bestehen und kann für Habermas nur durch eine kritisch reflektierte Denkweise der Aufklärung gelöst werden – die Theorie eines herrschaftsfreien Diskurses auf Basis der Vernunft mit dem Ziel eines Konsens stellt einen Lösungsvorschlag für die Probleme der Realität dar und ist zugleich Habermas’ Beitrag zur Weiterentwicklung aufklärerischen Denkens.

Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne (1987)

»Das alte Sonnen-Modell – die eine Sonne für alles und über allem – gilt nicht mehr, es hat sich als unzutreffend erwiesen. Wenn man diese Erfahrung nicht verdrängt, sondern wirksam werden läßt, gerät man in die ›Postmoderne‹. Fortan stehen Wahrheit, Gerechtigkeit, Menschlichkeit im Plural«

[Welsch, Wolfgang: Unsere postmoderne Moderne. Vierte Auflage. Berlin 1993 (Acta humaniora), S. 5.]


Jacques Derrida: De la grammatologie (1967)

»Il n’y a pas de hors-texte.«

[Derrida, Jacques : De la grammatologie. Paris 1967, S. 227.]


»Ein Text-Äußeres gibt es nicht.«

[Derrida, Jacques: Grammatologie. Übersetzt von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler. Frankfurt am Main 1983 (stw. 417),
S. 274.]


Jacques Derrida: La voix et le phénomène (1967)

»Il faut d’abord passer par le problème du langage.«

[Derrida, Jacques: La voix et le phénomène. Introduction au problème du signe dans la phénoménologie de Husserl. Paris 4/2009 (zuerst 1967), S. 9.]


»Man muß zunächst einmal durch das Problem der Sprache hindurchgehen.«

[Derrida, Jacques: Die Stimme und das Phänomen. Einführung in das Problem des Zeichens in der Phänomenologie Husserls. Aus dem Französischen von Hans-Dieter Gondek. Frankfurt am Main 2003 (es 2440), S. 18.]


Jean-François Lyotard: La condition postmoderne (1979)

»Où peut résider la légitimité, après les métarécits? Le critère d’opérativité est technologique, il n’est pas pertinent pour juger du vrai et du juste. Le consensus obtenu par discussion, comme le pense Habermas ? Il violente l’hétérogénéité des jeux de langage. Et l’invention se fait toujours dans le dissentiment. Le savoir postmoderne n’est pas seulement l’instrument des pouvoirs. Il raffine notre sensibilité aux différences / en renforce notre capacité de supporter l’incommensurable. Lui-même ne trouve pas sa raison dans l’homologie des experts, mais dans la paralogie des inventeurs.«

[Lyotard, Jean-François: La condition postmoderne. Rapport sur le savoir. Paris 1979, S. 8f.]


»Wovon kann die Legitimation nach den Metaerzählungen ausgehen? Das Kriterium der Operabilität ist ein technologisches, es taugt nicht, um über die Wahrheit und das Rechte zu urteilen. Der durch Diskussion erreichte Konsens, wie Habermas denkt? Er tut der Heterogenität der Sprachspiele Gewalt an. Und die Erfindung entsteht immer in der Meinungsverschiedenheit. Das postmoderne Wissen ist nicht allein das Instrument der Mächte. Es verfeinert unsere Sensibilität für die Unterschiede und verstärkt unsere Fähigkeit, das Inkommensurable zu ertragen. Es selbst findet seinen Grund nicht in der Übereinstimmung der Experten, sondern in der Paralogie der Erfinder.«

[Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Aus dem Französischen von Otto Pfersmann. Herausgegeben von Peter Engelmann. 3., unveränderte Neuauflage. Wien 1994 (Edition Passagen 7), S. 16.]


Jean-François Lyotard: Le Postmoderne expliqué aux enfants (1979)

»Mon argument est que le projet moderne (de réalisation de l’universalité) n’a pas été abandonné, oublié, mais détruit, ‹ liquidé ›. Il y a plusieurs modes de destruction, plusieurs noms qui en sont les symboles. ‹ Auschwitz › peut être pris comme un nom paradigmatique pour l’‹ inachèvement › tragique de la modernité.«

[Lyotard, Jean-François: Le Postmoderne expliqué aux enfants. Correspondance 1982-1985. Paris 1988, S. 36.]


»Meine Annahme besteht dagegen [gegen Habermas] darin, daß das Projekt der Moderne (die Verwirklichung der Universalität) nicht aufgegeben, vergessen, sondern zerstört, ›liquidiert‹ worden ist. Es gibt mehrere Modi der Zerstörung, mehrere Namen, die sie symbolisieren. ›Auschwitz‹ kann alsein paradigmatischer Name für die tragische ›Unvollendetheit‹ der Moderne genommen werden.«

[Lyotard, Jean-François: Postmoderne für Kinder. Briefe aus den Jahren 1982-1985. Herausgegeben von Peter Engelmann. Aus dem Französischen von Dorothea Schmidt unter Mitarbeit von Christine Pries. Wien 1987 (Edition Passagen 13), S. 33.]


Lyotard: La condition postmoderne

»D’autre part, le principe du consensus comme critère de validation paraît lui aussi insuffisant. Ou bien il est l’accord des hommes en tant qu’intelligences connaissantes et volontés libres obtenu par le moyen du dialogue. C’est sous cette forme qu’on le trouve élaboré par Habermas. Mais cette conception repose sur la validité du récit de l’émancipation.«

[Lyotard: La condition postmoderne (Anm. 6), S. 98.]


»Andererseits scheint auch das Prinzip des Konsens als Gültigkeitskriterium ungenügend. Entweder ist er die durch den Dialog erzielte Übereinstimmung von Menschen als erkennende Intelligenzen und freie Willen. In dieser Form findet man es bei Habermas ausgearbeitet. Diese Konzeption beruht aber auf der Gültigkeit der Emanzipationserzählung.«

[Lyotard: Das postmoderne Wissen (Anm. 7), S. 175.]


Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne (1985)

»Die religiösen Kräfte der sozialen Integration sind infolge eines Aufklärungsprozesses erlahmt, der so wenig rückgängig gemacht werden kann, wie er willkürlich produziert worden ist. Der Aufklärung ist die Irreversibilität von Lernprozessen eigen, die darin begründet ist, daß Einsichten nicht nach Belieben vergessen, sondern nur verdrängt oder durch bessere Einsichten korrigiert werden
können. Deshalb kann die Aufklärung ihre Defizite nur durch radikalisierte Aufklärung wettmachen; deshalb müssen Hegel und seine Schüler ihre Hoffnung auf eine Dialektik der Aufklärung setzen, in der sich die Vernunft als ein Äquivalent für die vereinigende Macht der Religion zur Geltung bringt. Sie haben Vernunftkonzepte entwickelt, die ein solches Programm erfüllen sollten. Wir haben gesehen, wie und warum diese Versuche gescheitert sind.«

[Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Dritte Auflage. Frankfurt am Main 1985, S. 104f.]


»Die Herausforderung durch die neostrukturalistische Vernunftkritik bildet […] die Perspektive, aus der ich den philosophischen Diskurs der Moderne schrittweise zu rekonstruieren suche.«

[Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne (Anm. 12), S. 7.]


»Wir können nicht von vornherein ausschließen, daß der Neokonservatismus oder der ästhetisch inspirierte Anarchismus im Namen eines Abschieds von der Moderne erneut den Aufstand gegen sie proben. Es könnte ja sein, daß sie ihre Komplizenschaft mit einer ehrwürdigen Tradition der Gegenaufklärung als Nachaufklärung lediglich bemänteln.«

[Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne (Anm. 12), S. 13.]


»Das moderne Zeitalter steht vor allem im Zeichen subjektiver Freiheit.«

[Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne (Anm. 12), S. 104.]


»Um meine These vorwegzunehmen: auch Derrida entwindet sich den Zwängen des subjektphilosophischen Paradigmas nicht.«

[Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne (Anm. 12), S. 197.]


»Die zunächst unauffällige Abwandlung der ›Destruktion‹ in die ›Dekonstruktion‹ der philosophischen Tradition versetzt also die radikale Vernunftkritik in den Bereich der Rhetorik und weist ihrdamit einen Weg aus der Aporie der Selbstbezüglichkeit heraus: wer der Metaphysikkritik nach diesem Formwandel immer noch Paradoxien vorrechnen möchte, hätte sie szientistisch mißverstanden. Dieses Argument sticht freilich nur, wenn folgende Annahmen zutreffen:
1) die Literaturkritik ist kein primär wissenschaftliches Unternehmen, sondern gehorcht denselben rhetorischen Maßstäben wie ihre literarischen Gegenstände;
2) zwischen Philosophie und Literatur besteht so wenig ein Gattungsunterschied, daß sich philosophische Texte in ihren wesentlichen Gehalten literaturkritisch erschließen lassen;
3) der Vorrang der Rhetorik vor der Logik bedeutet die Generalzuständigkeit der Rhetorik für die allgemeinen Qualitäten eines alles einbegreifenden Textzusammenhanges, in dem sich letztlich alle Gattungsunterschiede auflösen: so wenig wie Philosophie und Wissenschaft eigene Universen bilden, so wenig bilden Kunst und Literatur ein Reich der Fiktion, das seine Autonomie gegenüber
dem allgemeinen Text behaupten könnte.«

[Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne (Anm. 12), S. 224f.]


Jacques Derrida: Positions (1971)

»[…] je dirai que mes textes n’appartiennent ni au registre ‹ philosophique › ni au registre ‹ littéraire › […].«

übersetzt etwa: ˃˃[… ich würde sagen, dass meine Texte weder dem ›philosophischen‹ noch dem ›literarischen‹ Register angehören …]<< [Derrida, Jacques: Positions. Entretiens avec Henri Ronse, Julia Kristeva, Jean-Louis Houdebine, Guy Scarpetta. Paris 1972, S. 95.]


Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne

»Ein ästhetischer Kontextualismus macht Derrida blind für den Umstand, daß die kommunikative Alltagspraxis dank der ins kommunikative Handeln eingebauten Idealisierungen Lernprozesse in der Welt ermöglichen, an denen sich die welterschließende Kraft der interpretierenden Sprache ihrerseits bewähren muß.«

[Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne (Anm. 12), S. 241.]


»Wie einst bei Bergson, Dilthey und Simmel ›Leben‹ zum transzendentalen Grundbegriff einer Philosophie erhoben worden ist, die noch den Hintergrund für Heideggers Daseinsanalytik bildete, so erhebt nun Foucault ›Macht‹ zum transzendental-historistischen Grundbegriff einer vernunftkritischen Geschichtsschreibung.«

[Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne (Anm. 12), S. 298.]


»Heidegger und Derrida wollten Nietzsches Programm der Vernunftkritik auf dem Wege einer Destruktion der Metaphysik, Foucault will es mit einer Destruktion der Historik fortführen. Während jene die Philosophie durch ein beschwörend evozierendes Denken jenseits der Philosophie überboten haben, überschreitet Foucault die Humanwissenschaften durch eine als Antiwissenschaft auftretende Geschichtsschreibung.«

[Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne (Anm. 12), S. 298.]


»Foucault entwickelt in einem großen Bogen, der über Kant und Fichte bis zu Husserl und Heidegger reicht, seinen Grundgedanken, daß die Moderne durch die selbstwidersprüchliche und anthropozentrische Wissensform eines strukturell überforderten Subjekts, eines sich ins Unendliche transzendierenden endlichen Subjekts ausgezeichnet ist.«

[Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne (Anm. 12), S. 307.]


»Foucaults Einwände gegen das Freudsche Modell von Triebunterdrückung und Emanzipation durch Bewußtwerdung haben eine vordergründige Plausibilität; sie verdanken diese nur dem Umstand, daß sich Freiheit, als das Prinzip der Moderne, in den Grundbegriffen der Subjektphilosophie nicht wirklich fassen läßt.«

[Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne (Anm. 12), S. 342.]


Jürgen Habermas: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt (1980)

»Dieser Satz gilt für eine affektive Strömung, die in die Poren aller intellektuellen Bereiche eingedrungen ist und Theorien der Nachaufklärung, der Postmoderne, der Nachgeschichte usw., kurz einen neuen Konservativismus auf den Plan gerufen hat. Damit kontrastieren Adorno und sein Werk.«

[Habermas, Jürgen: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. In: Habermas, Jürgen: Kleine politische Schriften (I-IV). Frankfurt am Main 1981, S. 444-464, hier S. 444.]


»Ist die Moderne so passé, wie die Postmodernen behaupten? Oder ist die vielstimmig ausgerufene Postmoderne ihrerseits nur phony [= ein Schwindel; A.M.]? Ist ›postmodern‹ ein Schlagwort, unter dem sich unauffällig jene Stimmungen beerben lassen, die die kulturelle Moderne seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gegen sich aufgebracht hat?«

[Habermas: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt (Anm. 24), S. 444f.]


»Der Neokonservativismus verschiebt nämlich die unbequemen Folgelasten einer mehr oder weniger erfolgreichen kapitalistischen Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft auf die kulturelle Moderne. Weil er die Zusammenhänge zwischen den willkommenen Prozessen der gesellschaftlichen Modernisierung einerseits, der catonisch beklagten Motivationskrise andererseits ausblendet; weil er die sozialstrukturellen Ursachen für veränderte Arbeitseinstellungen, Konsumgewohnheiten, Anspruchsniveaus und Freizeitorientierungen nicht aufdeckt, kann er, was nun als Hedonismus, mangelnde Identifikations- und Folgebereitschaft, als Narzißmus, Rückzug von Status- und Leistungskonkurrenz erscheint, unmittelbar einer Kultur zuschieben, die in diese Prozesse doch nur auf eine höchst vermittelte Weise eingreift. Die Stelle der nichtanalysierten Ursachen müssen dann jene Intellektuellen einnehmen, die sich dem Projekt der Moderne immer noch verpflichtet fühlen.«

[Habermas: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt (Anm. 24), S. 450f.]


»So bringen die neopopulistischen Proteste weitverbreitete Ängste vor einer Zerstörung von urbanen und natürlichen Milieus, der Zerstörung von Formen des humanen Zusammenlebens nur pointiert zum Ausdruck. Die vielfältigen Anlässe des Unbehagens und des Protestes entstehen überall dort, wo eine einseitige, an Maßstäben der ökonomischen und der administrativen Rationalität ausgerichtete Modernisierung in Lebensbereiche eindringt, die um Aufgaben der kulturellen Überlieferung, der sozialen Integration und der Erziehung zentriert und daher auf andere Maßstäbe, nämlich auf die einer kommunikativen Rationalität angelegt sind. Gerade von diesen gesellschaftlichen Prozessen ziehen die neukonservativen Lehren aber die Aufmerksamkeit ab; sie projizieren die Ursachen, die sie nicht ans Licht bringen, auf die Ebene einer eigensinnig subversiven Kultur und ihrer Anwälte.«

[Habermas: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt (Anm. 24), S. 451f.]


»Das Projekt der Moderne, das im 18. Jahrhundert von den Philosophen der Aufklärung formuliert worden ist, besteht nun darin, die objektivierenden Wissenschaften, die universalistischen Grundlagen von Moral und Recht und die autonome Kunst unbeirrt in ihrem jeweiligen Eigensinn zu entwickeln, aber gleichzeitig auch die kognitiven Potentiale, die sich so ansammeln, aus ihren esoterischen Hochformen zu entbinden und für die Praxis, d. h. für eine vernünftige Gestaltung der Lebensverhältnisse zu nützen. Aufklärer vom Schlage eines Condorcet hatten noch die überschwengliche Erwartung, daß Künste und Wissenschaften nicht nur die Kontrolle der Naturkräfte, sondern auch die Welt- und Selbstdeutung, den moralischen Fortschritt, die Gerechtigkeit der gesellschaftlichen Institutionen, sogar das Glück der Menschen befördern würden. Von diesem Optimismus hat das 20. Jahrhundert nicht viel übriggelassen. Aber das Problem ist geblieben, und nach wie vor scheiden sich die Geister daran, ob sie an den Intentionen der Aufklärung, wie gebrochen auch immer, festhalten, oder ob sie das Projekt der Moderne verloren geben, ob sie zum Beispiel die kognitiven Potentiale, soweit sie nicht in technischen Fortschritt, ökonomisches Wachstum und rationale Verwaltung einfließen, so eingedämmt sehen wollen, daß eine auf erblindete Traditionen verwiesene Lebenspraxis davon nur ja unberührt bleibt.«

[Habermas: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt (Anm. 24), S. 453f.]


»Ich meine, daß wir eher aus den Verirrungen, die das Projekt der Moderne begleitet haben, aus den Fehlern der verstiegenen Aufhebungsprogramme lernen, statt die Moderne und ihr Projekt selbst verloren geben sollten.«

[Habermas: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt (Anm. 24), S. 460.]


»Eine differenzierte Rückkoppelung der modernen Kultur mit einer auf vitale Überlieferungen angewiesenen, durch bloßen Traditionalismus aber verarmten Alltagspraxis wird freilich nur gelingen, wenn auch die gesellschaftliche Modernisierung in andere nichtkapitalistische Bahnen gelenkt werden kann, wenn die Lebenswelt aus sich Institutionen entwickeln kann, die die systemische Eigendynamik des wirtschaftlichen und des administrativen Handlungssystems begrenzt.«

[Habermas: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt (Anm. 24), S. 462.]


»Dafür sind, wenn ich mich nicht täusche, die Aussichten nicht gut. So ist ein Klima entstanden, mehr oder weniger in der gesamten westlichen Welt, das modernismus-kritische Strömungen fördert. Dabei dient die Ernüchterung, die die gescheiterten Programme der falschen Aufhebung von Kunst und Philosophie hinterlassen haben, dienen die sichtbar gewordenen Aporien der kulturellen
Moderne als Vorwand für konservative Positionen. Lassen Sie mich den Antimodernismus der Jungkonservativen vom Prämodernismus der Altkonservativen und dem Postmodernismus der Neukonservativen kurz unterscheiden.«

[Habermas: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt (Anm. 24), S. 463.]


»Die Jungkonservativen machen sich die Grunderfahrung der ästhetischen Moderne, die Enthüllung der dezentrierten, von allen Beschränkungen der Kognition und der Zwecktätigkeit, allen Imperativen der Arbeit und der Nützlichkeit befreiten Subjektivität zu eigen – und brechen mit ihr aus der modernen Welt aus. Mit modernistischer Attitüde begründen sie einen unversöhnlichen Antimodernismus. Sie verlegen die spontanen Kräfte der Imagination, der Selbsterfahrung, der Affektivität ins Ferne und Archaische, und setzen der instrumentellen Vernunft manichäisch ein nur noch der Evokation zugängliches Prinzip entgegen, ob nun den Willen zur Macht oder die Souveränität, das Sein oder eine dionysische Kraft des Poetischen. In Frankreich führt diese Linie von George Bataille über Foucault zu Derrida. Über allen schwebt natürlich der Geist des in den 70er Jahren wiedererweckten Nietzsche.«

[Habermas: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt (Anm. 24), S. 463.]


»Die Altkonservativen lassen sich von der kulturellen Moderne gar nicht erst anstecken. Sie verfolgen den Zerfall der substantiellen Vernunft, die Ausdifferenzierung von Wissenschaft, Moral und Kunst, das moderne Weltverständnis und deren nur noch prozedurale Rationalität mit Mißtrauen und empfehlen (worin Max Weber den Rückfall in materiale Rationalität gesehen hatte) eine Rückkehr zu Positionen vor der Moderne. Einen gewissen Erfolg hat vor allem der Neuaristotelismus, der sich heute durch die ökologische Problematik zur Erneuerung einer kosmologischen Ethik anregen läßt. Auf dieser Linie, die von Leo Strauss ausgeht, liegen beispielsweise interessante Arbeiten von Hans Jonas und Robert Spaemann.«

[Habermas: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt (Anm. 24), S. 463.]


»Die Neukonservativen verhalten sich zu den Errungenschaften der Moderne noch am ehesten affirmativ. Sie begrüßen die Entwicklung der modernen Wissenschaft, soweit diese ihre eigene Sphäre nur überschreitet, um den technischen Fortschritt, das kapitalistische Wachstum und eine rationale Verwaltung voranzutreiben. Im übrigen empfehlen sie eine Politik der Entschärfung der explosiven Gehalte der kulturellen Moderne. Eine These lautet, daß die Wissenschaft, wenn man sie recht versteht, für die Orientierung in der Lebenswelt ohnehin bedeutungslos geworden ist. Eine weitere These ist, daß die Politik tunlichst von Forderungen moralisch-praktischer Rechtfertigung freizuhalten ist. Und eine dritte These behauptet die reine Immanenz der Kunst, bestreitet ihr den utopischen Gehalt, beruft sich auf ihren Scheincharakter, um die ästhetische Erfahrung im Privaten einzukapseln. Man könnte den frühen Wittgenstein, den mittleren Carl Schmitt und den späten Gottfried Benn als Zeugen anführen.«

[Habermas: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt (Anm. 24), S. 463f.]


»Mit der definitiven Eingrenzung von Wissenschaft, Moral und Kunst in den autonomen, von der Lebenswelt abgespaltenen, spezialistisch verwalteten Sphären bleibt von der kulturellen Moderne nur noch zurück, was von ihr unter Verzicht auf das Projekt der Moderne zu haben ist. Für den freigewordenen Platz sind Traditionen vorgesehen, die nun von Begründungsforderungen verschont bleiben; freilich ist nicht recht zu sehen, wie diese in der modernen Welt anders denn durch die Rückendeckung von Kulturministerien überdauern sollten.«

[Habermas: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt (Anm. 24), S. 464.]


»Wie ich fürchte, gewinnen die Ideen des Antimodernismus, mit dem Zusatz einer Prise von Prämodernismus, im Umkreis der grünen und der alternativen Gruppen an Boden. Im Bewußtseinswandel der politischen Parteien zeichnet sich hingegen ein Erfolg der Tendenzwende, und das heißt des Bündnisses der Postmodernen mit den Prämodernen ab. Auf Intellektuellenschelte und
Neukonservativismus, so scheint mir, hat keine der Parteien ein Monopol.«

[Habermas: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt (Anm. 24), S. 464]