Philosophie und Poesie der Postmoderne (WS 2014/15)
Professor Dr. Albert Meier
Jean-François Lyotard: La condition postmoderne – Le différend – Le postmoderne expliqué aux enfants
Der französische Literaturtheoretiker und Philosoph Jean-François Lyotard (1924–1998) hat das Schlagwort ›Postmoderne‹ in die philosophische Theorie der Gegenwart eingeführt und vor allem in den Hauptwerken La condition postmoderne (1979) und Le différend (1983) die Bedingungen der Postmoderne formuliert; eine vergleichsweise ›populäre‹ Einführung in sein Theorie-Konzept bietet die Sammlung Le postmoderne expliqué aux enfants (1986).
Lyotards Begriff des ›Erhabenen‹
Zwei Aufsätze in L’inhumain. Causeries sur le temps (1988) befassen sich mit dem ›Erhabenen‹, welches im Zusammenhang mit moderner Kunst ein zentraler Begriff ist. In L’instant, Newman (1984) beantwortet Lyotard in Reaktion auf Barnett Newmans Text The Sublime is Now (1948) die Frage, wie auf ›moderne‹ = nicht mehr ›darstellende‹ Kunst zu reagieren sei. Lyotard zufolge (re)präsentieren die strikt abstrakte Gemälde Newmans keine Gegenstände, sondern lediglich ihre eigene Präsenz; sie lassen sich daher zwar beschreiben, aber nicht deuten. Die traditionelle Kategorie ›Schönheit‹ ist in dieser Kunst obsolet geworden und macht dem ›Erhabenen‹ Platz: Kunst kann nicht mehr gefällig/angenehm sein, sondern bezieht ihre Wirkung wesentlich aus der Verweigerung konventioneller Erwartungen.
Le postmoderne expliqué aux enfants
In Le postmoderne expliqué aux enfants – einer Sammlung von ›Briefen‹ – reflektiert Lyotard den Begriff ›Postmoderne‹ explizit. Der einleitende ›Brief‹ Réponse à la question: Qu᾿est-ce que le postmoderne? (Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?) spielt im Titel auf Immanuel Kants programmatischen Aufsatz Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784) an und setzt sich kritisch mit dem Versprechen der Aufklärung auseinander, die Kulturgeschichte der Menschheit werde durch beständige Steigerung der Vernünftigkeit zu einem guten Ende führen; Lyotard sieht seine Aufgabe darin, »sich der strengen Prüfung zu unterziehen, die die Postmoderne dem Denken der Aufklärung auferlegt, der Vorstellung eines einheitlichen Ziels der Geschichte und eines Subjekts.«
La condition postmoderne
Ein solches ›Ganzes‹ gebe es genauso wenig wie ein ›Subjekt‹. Die Sehnsucht nach einer solchen Geschlossenheit sei jedoch gefährlich, da sie zu einer Ideologie führe, die alles, was dem ›Ganzen‹ widerspricht, nicht gelten lasse. Normatives Denken sei per se zurückzuweisen. La condition postmoderne, Lyotards Hauptwerk, ist die Untersuchung der Möglichkeiten des Wissens und der Wissensvermittlung im Zusammenhang mit den neuen technologischen Voraussetzungen der Wissensspeicherung.
Leitender Gedanke ist dabei die ›Krise der Erzählungen‹: Bis ins 20. Jahrhundert hinein sei Wissen stets durch Metaerzählungen legitimiert gewesen, d. h. man habe sich die Inhalte und Ziele der jeweiligen Denkansätze stets im Bild eines sinnvollen Prozesses vorgestellt (als ›erzählbaren‹ Entwicklungsgang von einem Anfangbis zu seinem Ende). Diese Art der Wissenslegitimierung sei jetzt jedoch nicht mehr zeitgemäß, da sich die ›Spielregeln‹, also die Ordnungsprinzipien der Wahrheits(be)schaffung, geändert hätten. Sei Wissen zuvor durch den Metadiskurs der konsensuellen Vernunftentwicklung legitimiert gewesen zeigt Lyotard nun den totalitären Impetus dieses aufklärerischen Ansatzes auf. Im postindustriellen Zeitalter führe nicht mehr der Konsens, sondern der Dissens zu neuen Erkenntnissen: An die Stelle der herkömmlichen ›Enzyklopädie‹ treten nun die vielfältigen Datenbanken; gleichzeitig werde das Wissen zu einem entscheidenden Machtfaktor, um den künftig vergleichbar heftig gekämpft werde wie einst um billige Arbeitskräfte und Rohstoffe.
Le différend
Auch in seinem philosophischen Hauptwerk Le différend bezieht sich Lyotard u. a. auf die ›Krise der Erzählungen‹ ein und belegt sie mit konkreten historischen Beispielen. Anhand der absurden Argumentation eines Holocaust-Leugners und z. B. an einer Auflistung von niedergeschlagenen Arbeiteraufständen in sozialistischen Staaten widerlegt er die vernunftbasierten Geschichtsphilosophien des 19. und 20. Jahrhunderts und zeigt damit, dass keine Doktrin je krisenfrei sein kann und die Versprechen solcher Erzählungen stets gebrochen würden.
Den Versuch einer Lösung bietet in dieser Hinsicht der Begriff des ›Widerstreits‹, der zwar sprachphilosophisch begründet ist, gleichzeitig aber ein Gesellschaftsmodell vorstellt, in dem der Begriff der ›Gerechtigkeit‹ eine große Rolle spielt. Der ›Widerstreit‹ steht in Opposition zum Rechtsstreit und ist im Unterschied zu diesem nicht durch einen übergeordneten Richter entscheidbar, da beide Streitseiten gleichermaßen legitim sind (mit dem Recht der einen Partei ist nicht zwangsläufig das Unrecht der anderen verbunden). Diesem Denken liegt die Einsicht zugrunde, dass soziales Handeln durch bestimmte ›Spielregeln‹ gekennzeichnet ist: Handlungen sind dabei mit Sätzen vergleichbar, die einer bestimmten Grammatik folgen und nicht ohne Weiteres in andere grammatische Systeme übersetzbar sind.
Ein übergeordnetes Regelsystem gibt es dabei nicht. Gerechtigkeit kann daher nicht auf dem ›Wahren‹ beruhen, sondern entsteht aus einer gesellschaftlichen Praxis, die sich der Diversität der ›Spielregeln‹ bewusst sein muss. Aus einer Deskription könne also keine Präskription (=Vorschrift) gezogen werden, ohne die moralische Komponente einzubeziehen. Aus dieser Ablehnung einer konsensuellen Gesellschaftspraxis lässt sich außerdem ableiten, dass die Weltgeschichte kein sinnvoller Prozess ist, sondern eine von Brüchen gekennzeichnete Abfolge von Ereignissen
Quellennachweis
Lyotard, Jean-François: Beantwortung der Frage: Was ist postmodern? In: Die Postmoderne für Kinder. Briefwechsel aus den Jahren 1982- 1985. Herausgegeben von Peter Engelmann. Wien 1987, S. 11-31, hier S. 14.
Zitate
Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784)
»Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.«
[Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Was ist Aufklärung? Kant, Erhard, Hamann, Herder, Lessing, Mendelssohn, Riem, Schiller, Wieland. Thesen und Definitionen. Herausgegeben von Ehrhard Bahr. (rub 9714) Stuttgart 1974, S. 9-17, hier S. 9.]
Alexander Pope: An Essay on Man (1733/34)
»Know then thyself, presume not God to scan; The proper study of mankind is Man.«
[Pope, Alexander: Vom Menschen / Essay on Man. Übersetzt von Eberhard Breidert. Mit einer Einleitung herausgegeben von Wolfgang Breidert. Englisch − deutsch. Hamburg 1993 (Philosophische Bibliothek 454), S. 38.]
Umberto Eco: Il nome della rosa (1980)
»Ma di colpo entrò nella cripta Salvatore, fiammeggiante come un diavolaccio, e gridò: ›Stupido! Non vedi tu che questa è la grande bestia liotarda del libro di Job! […]‹.«
[Eco, Umberto: Il nome della rosa. Mailand 1980, S. 436.]
»Da aber stürmte auf einmal Salvatore herein, lodernd wie ein Flammenteufel, und schrie: ›Dummkopf, merkst du denn nicht, dies ist bloß die lyotardische Bestie des Buches Job‹!«
[Eco, Umberto: Der Name der Rose. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. 44. Auflage. München/Wien 1982, S. 552.]
Jean-François Lyotard: L’Inhumain. Causeries sur le temps. (1988)
L’Instant, Newman:
»Tout est là, dimensions, couleurs, traits, sans allusion. Au point qu’elle est un problème pour le commentateur. Que dire, qui ne soit donné ? La description est aisée, mais plate comme une paraphrase. La meilleure glose consiste dans l’interrogation : que dire ?, dans l’exclamation : ah !, dans la surprise : ça alors !«
[Lyotard, Jean-François: L’instant, Newman. In: Lyotard, Jean-François : L’inhumain. Causeries sur le temps. O.O. O.J. S. 89-99, hier S. 91.]
»Alles ist da, Dimensionen, Farbe, Linien, ohne Anspielung. Das macht die Sache problematisch für den Kommentator. Was soll man sagen, was nicht schon vorgegeben ist? Die Beschreibung ist leicht, aber platt wie eine Paraphrase. Die beste Deutung ist die Frageform: Was soll man sagen? Oder ein Ausruf: Ah! Oder Überraschung: Na sowas!«
[Lyotard, Jean-François: Der Augenblick, Newman. In: Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit. Aus dem Französischen von Christine Pries. Wien 1989, S. 141-157, hier S. 144.]
»Le message est la présentation, mais de rien, c’est-à-dire de la présence.«
[Lyotard, Jean-François : L’instant, Newman (Anm. 6), S. 92.]
»Die Botschaft ist die Präsentation, aber von nichts, das heißt von der Präsenz.«
[Lyotard, Jean-François: Der Augenblick, Newman (Anm. 7), S. 144.]
Le sublime et l’avant-garde:
»Le sublime est peut-être le mode de la sensibilité artistique qui caractérise la modernité. (Le sublime et l’avant-garde)«
[Lyotard, Jean-François : Le sublime et l’avant-garde. In : Lyotard, Jean-François : L’inhumain. Causeries sur le temps. O.O. O.J. S. 101-118, hier S. 105.]
» […] und vielleicht ist das Erhabene die Weise künstlerischer Sensibilität, die die Moderne kennzeichnet.«
[Lyotard, Jean-François: Das Erhabene und die Avantgarde. In: Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit. Aus dem Französischen von Christine Pries. Wien 1989, S. 159-187, hier S. 166.]
Jean-François Lyotard: Le postmoderne expliqué aux enfants (1986)
»[…] le sévére réexamen que la postmodernité impose à la pensée des Lumières, à l’idée d’une fin unitaire de l’histoire, et à celle d’un sujet.«
[Lyotard, Jean-François: Le Postmoderne expliqué aux enfants. Correspondance 1982-1985. Paris 1988, S. 16.]
»[…] sich der strengen Prüfung zu unterziehen, die die Postmoderne dem Denken der Aufklärung auferlegt, der Vorstellung eines einheitlichen Ziels der Geschichte und eines Subjekts.«
[Lyotard, Jean-François: Beantwortung der Frage: Was ist postmodern? (Anm. 1), S. 14.]
»Nous avons payé la nostalgie du tout et de l’un, de la réconciliation du concept et du sensible, de l’expérience transparente et communicable. Sous la demande générale de relâchement et d’apaisement, nous entendons marmonner le désir de recommencer la terreur, d’accomplir le fantasme d’étreindre la réalité.«
[Lyotard, Jean-François: Le Postmoderne expliqué aux enfants (Anm. 12), S. 32.]
»Wir haben die Sehnsucht nach dem Ganzen und dem Einen, nach der Versöhnung von Begriff und Sinnlichkeit, nach transparenter und kommunizierbarer Erfahrung teuer bezahlt. Hinter dem allgemeinen Verlangen nach Entspannung und Beruhigung vernehmen wir nur allzu deutlich das Raunen des Wunsches, den Terror ein weiteres Mal zu beginnen, das Phantasma der Umfassung der Wirklichkeit in die Tat umzusetzen.«
[Lyotard, Jean-François: Beantwortung der Frage: Was ist postmodern? (Anm. 1) S. 30.]
»La réponse est : guerre au tout, témoignons de l’imprésentable, activons les différends, sauvons l’honneur du nom.«
[Lyotard, Jean-François: Le Postmoderne expliqué aux enfants (Anm. 12), S. 34.]
»Die Antwort darauf lautet: Krieg dem Ganzen, zeugen wir für das Nicht-Darstellbare, aktivieren wir die Differenzen, retten wir die Differenzen, retten wir die Ehre des Namens.«
[Lyotard, Jean-François: Beantwortung der Frage: Was ist postmodern? (Anm. 1), S. 31.]
Jean-François Lyotard: La condition postmoderne: rapport sur le savoir (1979)
»Cette étude a pour objet la condition du savoir dans les sociétés les plus développées. On a décidé de la nommer ‹ postmoderne ›. Le mot […] désigne l’état de la culture après les transfor-mations qui ont affecté les règles des jeux de la science, de la littérature et des arts à partir de la fin du XIXe siècle. Ici, on situera ces transfor-mations par rapport à la crise des récits.«
[Lyotard, Jean-François: La condition postmoderne. Rapport sur le savoir. Paris 1979, S. 7.]
»Diese Untersuchung hat die Lage des Wissens in den höchstentwickelten Gesellschaften zum Gegenstand. Man hat sich entschieden, sie ›postmodern‹ zu nennen. Dieses Wort […] bezeichnet den Zustand der Kultur nach den Transformationen, welche die Regeln der Spiele der Wissenschaft, der Literatur und der Künste seit dem Ende des 19. Jahrhunderts getroffen haben. Hier orten wir diese Transformationen im Verhältnis zur Krise der Erzählungen.«
[Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Aus dem Französischen von Otto Pfersmann. Herausgegeben von Peter Engelmann. 3., unveränderte Neuauflage. Wien 1994 (Edition Passagen 7), S. 13.]
»Copernic déclare que la trajectoire des planètes est circulaire.«
[Lyotard, Jean-François: La condition postmoderne (Anm. 18), S. 43.]
»Kopernikus behauptet, die Planetenbahnen seien kreisförmig.«
[Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen (Anm. 19), S. 76.]
»Mais, comme on ne peut savoir ce qu’il [le référent (= la trajectoire des planètes)] est que par des énoncés de même ordre que celui de Copernic, la règle d’adéquation fait problème: ce que je dis est vrai parce que je le prouve; mais qu’est-ce qui prouve que ma preuve est vraie?«
[Lyotard, Jean-François: La condition postmoderne (Anm. 18), S. 44.]
»Da man aber nur durch Aussagen derselben Ordnung wie die des Kopernikus wissen kann, was er [der Referent (=die Planetenbahnen)] ist, stellt die Adäquationsregel ein Problem: Was ich sage, ist wahr, weil ich es beweise; aber was beweist, daß mein Beweis wahr ist?«
[Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen (Anm. 19), S. 77.]
»Rien ne prouve que, si un énoncé qui décrit ce qu’est une réalité est vrai, l’énoncé prescriptif, qui aura nécessairement pour effet de la modifier, soit juste. Soit une porte fermée. De La porte est fermée à Ouvrez la porte, il n’y a pas de conséquence au sens de la logique propositionnelle.«
[Lyotard, Jean-François: La condition postmoderne (Anm. 18), S. 66.]
»Nichts beweist, daß, wenn eine Aussage wahr ist, die beschreibt, was eine Realität ist, die präskriptive Aussage gerecht ist, die notwendiger-weise die Wirkung hat, sie zu verändern. Es sei eine geschlossene Tür angenommen. Es gibt im Sinne der Aussagenlogik keine Schlußfolgerung von Die Tür ist geschlossen zu Öffnen Sie die Tür.«
[Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen (Anm. 19), S. 117f.]
»Quand ce métadiscours [la philosophie] recourt explicitement à tel ou tel grand récit, comme la dialectique de l’Esprit, l’herméneutique du sens, l’émancipation du sujet raisonnable ou travailleur, le développement de la richesse, on décide d’appeler ‹ moderne › la science qui s’y réfère pour se légitimer.«
[Lyotard, Jean-François: La condition postmoderne (Anm. 18), S. 7.]
»Wenn dieser Metadiskurs [Philosophie] explizit auf diese oder jene große Erzählung zurückgreift wie die Dialektik des Geistes, die Hermeneutik des Sinns, die Emanzipation des vernünftigen oder arbeitenden Subjekts, so beschließt man, ›modern‹ jene Wissenschaft zu nennen, die sich auf ihn bezieht, um sich zu legitimieren.«
[Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen (Anm. 19), S. 13.]
»C’est ainsi par exemple que la règle du consensus entre le destinateur et le destinataire d’un énoncé à valeur de vérité sera tenue pour acceptable si elle s’inscrit dans la perspective d’une unanimité possible des esprits raison-nables : c’était le récit des Lumières, où le héros du savoir travaille à une bonne fin éthico-politique, la paix universelle.«
[Lyotard, Jean-François: La condition postmoderne (Anm. 18), S. 7.]
»So wird etwa die Konsensregel zwischen Sender und Empfänger bei einer Aussage mit Wahrheitswert für annehmbar gehalten, wenn sie sich in die Perspektive einer möglichen Einstimmigkeit der mit vernünftigem Geist Begabten ein-schreibt: das war die Erzählung der Aufklärung, worin der Heros der Wissenschaft an einem guten ethisch-politischen Ziel, dem universellen Frieden, arbeitet.«
[Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen (Anm. 19), S. 14.]
»Où peut résider la légitimité, après les métarécits? Le critère d’opérativité est technologique, il n’est pas pertinent pour juger du vrai et du juste. Le consensus obtenu par discussion, […] ? Il violente l’hétérogénéité des jeux de langage. Et l’invention se fait toujours dans le dissentiment.«
[Lyotard, Jean-François: La condition postmoderne (Anm. 18), S. 8f.]
»Wovon kann die Legitimation nach den Metaerzählungen ausgehen? Das Kriterium der Operabilität ist ein technologisches, es taugt nicht, um über die Wahrheit und das Rechte zu urteilen. Der durch Diskussion erreichte Konsens, […]? Er tut der Heterogenität der Sprachspiele Gewalt an. Und die Erfindung entsteht immer in der Meinungsverschiedenheit.«
[Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen (Anm. 19), S. 16.]
»Notre hypothèse de travail est que le savoir change de statut en même temps que les sociétés entrent dans l’âge dit postindustriel et les cultures dans l’âge dit postmoderne.«
[Lyotard, Jean-François: La condition postmoderne (Anm. 18), S. 11.]
»Unsere Arbeitshypothese ist die, daß das Wissen in derselben Zeit, in der die Gesellschaften in das sogenannte postindustrielle und die Kulturen in das sogenannte postmoderne Zeitalter eintreten, sein Statut wechselt.«
[Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen (Anm. 19), S. 19.]
»Avec l’hégémonie de l’informatique, c’est une certaine logique qui s’impose, et donc un ensemble de prescriptions portant sur les énoncés acceptés comme ‹ de savoir ›.«
[Lyotard, Jean-François: La condition postmoderne (Anm. 18), S. 13.]
»Mit der Hegemonie der Informatik ist es eine bestimmte Logik, die sich durchsetzt, und daher auch ein Gefüge von Präskriptionen über die als ›zum Wissen‹ gehörig akzeptierten Aussagen gegeben.«
[Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen (Anm. 19), S. 23.]
»Sous sa forme de marchandise informationnelle indispensable à la puissance productive, le savoir est déjà et sera un enjeu majeur, peut-être le plus important, dans la compétition mondiale pour le pouvoir. Comme les États-nations se sont battus pour maîtriser des territoires, puis pour maîtriser la disposition et l’exploitation des matières premières et des mains-d’œuvre bon marché, il est pensable qu’ils se battent à l’avenir pour maîtriser des informations.«
[Lyotard, Jean-François: La condition postmoderne (Anm. 18), S. 15.]
»Wissen ist in der Form einer für die Produktionspotenz unentbehrlichen informationellen Ware zunehmend ein bedeutender, ja vielleicht der wichtigste Einsatz im weltweiten Konkurrenzkampf um die Macht. Es ist denkbar, daß die Nationalstaaten in Zukunft ebenso um die Beherrschung von Informationen kämpfen werden, wie sie um die Beherrschung der Territorien und dann um die Verfügung und Ausbeutung der Rohstoffe und billigen Arbeitskräfte einander bekämpft haben.«
[Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen (Anm. 19), S. 26.]
»La grande affaire devient et deviendra de disposer des informations […]. La disposition des informations est et sera du ressort d’experts en tous genres.«
[Lyotard, Jean-François: La condition postmoderne (Anm. 18), S. 30.]
»Das große Problem wird zunehmend in der Verfügung über die Informationen liegen […]. Die Verfügung über die Informationen fällt immer mehr in die Zuständigkeit von Experten aller Art.«
[Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen (Anm. 19),, S. 52f.]
»Chaque fois que l’efficience, c’est-à-dire l’obtention de l’effet recherché, a pour ressort un ‹ Dis ou fais ceci, sinon tu ne parleras plus ›, on entre dans la terreur, on détruit le lien social.«
[Lyotard, Jean-François: La condition postmoderne (Anm. 18), S. 76.]
»Jedesmal, wenn die Effizienz, das heißt die Durchsetzung der angestrebten Wirkung, ein ›Sage oder mache dies, andernfalls wirst du nicht mehr sprechen‹ als Triebfeder hat, betritt man den Bereich des Terrors, zerstört man das soziale Band.«
[Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen (Anm. 19), S. 136.]
»Le consensus est devenu une valeur désuète, et suspecte. Ce qui ne l’est pas, c’est la justice. Il faut donc parvenir à une idée et à une pratique de la justice qui ne soit pas liée à celles du consensus.«
[Lyotard, Jean-François: La condition postmoderne (Anm. 18), S. 106.]
»Der Konsens ist ein veralteter und suspekter Wert geworden, nicht aber die Gerechtigkeit. Man muß also zu einer Idee und einer Praxis der Gerechtigkeit gelangen, die nicht an jene des Konsens gebunden ist.«
[Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen (Anm. 19), S. 190.]
»L’Encyclopédie de demain, ce sont les banques de donnés. Elles excèdent la capacité de chaque utilisateur. Elles sont la ‹ nature › pour l’homme postmoderne.«
[Lyotard, Jean-François: La condition postmoderne (Anm. 18), S. 84f.]
»Die Enzyklopädie von morgen, das sind die Datenbanken. Sie übersteigen die Kapazität jeglichen Benutzers. Sie sind die ›Natur‹ für den postmodernen Menschen.«
[yotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen (Anm. 18), S. 150f.]
Jean-François Lyotard: Le différend (1983)
»Les ‹ philosophies de l’histoire › qui ont inspiré le XIXe et le XXe siècles prétendent aussurer les passages sur l’abîme de l’hétérogénéité ou de l’événement. Les noms qui sont ceux de ‹ notre histoire › opposent des contre-exemples à leur prétention. – Tout ce qui est réel est rationnel, tout ce qui est rationnel est réel : ‹ Auschwitz › réfute la doctrine spéculative. Au moins ce crime, qui est réel […], n’est pas rationnel.«
[Lyotard, Jean-François: Le différend. Paris 1983, S. 257.]
»Die ›Geschichtsphilosophien‹, die das 19. und 20. Jahrhundert begeistert haben, geben vor, Übergänge über die Kluft der Heterogenität oder des Ereignisses garantieren zu können. Die Namen unserer Geschichte halten ihrem Anspruch Gegenbeispiele entgegen. Alles wirkliche ist vernünftig, alles Vernünftige ist wirklich: ›Auschwitz‹ widerlegt die spekulative Doktrin. Dieses reale Verbrechen zumindest […] ist nicht vernünftig.«
[Lyotard, Jean-François: Der Widerstreit. Übersetzt von Joseph Vogel. 2. Auflage 1989, S. 295.]
»Tout ce qui est prolétarien est communiste, tout ce qui est communiste est prolétarien : ‹ Berlin 1953, Budapest 1956, Tchécoslovaquie 1968, Pologne 1980 › (j’en passe) réfutent la doctrine matérialiste historique : les travailleurs se dressent contre le Parti.«
[Lyotard, Jean-François: Le différend (Anm. 46), S. 257f.]
»Alles Proletarische ist kommunistisch, alles Kommunistische ist proletarisch: ›Berlin 1953, Budapest 1956, Tschechoslowakei 1968, Polen 1980‹ (ich lasse einiges aus) widerlegen die historisch-materialistische Doktrin: Die Arbeiter erheben sich gegen die Partei.«
[Lyotard, Jean-François: Der Widerstreit (Anm. 47), S. 296.]
»Tout ce qui est démocratique est par le peuple et pour lui, et inversement : ‹ Mai 1968 › réfute la doctrine du libéralisme parlementaire. Le social quotidien fait échec à l’institution représentative.«
[Lyotard, Jean-François: Le différend (Anm. 46), S. 258.]
»Alles Demokratische geschieht durch und für das Volk und umgekehrt: ›Mai 1968‹ widerlegt die Doktrin des parlamentarischen Liberalismus. Der soziale Alltag läßt die repräsentative Institution scheitern.«
[Lyotard, Jean-François: Der Widerstreit (Anm. 47), S. 296.]
»Tout ce qui est libre jeu de l’offre et de la demande est propice à l’enrichissement général, et inversement : les ‹ crises de 1911, 1929 › réfutent la doctrine du libéralisme économique. Et la ‹ crise de 1974-1979 › réfute l’aménagement post-keynésien de cette doctrine.«
[Lyotard, Jean-François: Le différend (Anm. 46), S. 258.]
»Alles, was dem freien Spiel von Angebot und Nachfrage entspricht, begünstigt die allgemeine Bereicherung und umgekehrt: die ›Krisen von 1911, 1929‹ widerlegen die Doktrin des wirtschaftlichen Liberalismus. Und die ›Krise von 1974-79‹ widerlegt die post-keynesianische Umgestaltung dieser Doktrin.«
[Lyotard, Jean-François: Der Widerstreit (Anm. 46), S. 296.]
»Les passages promis par les grandes synthèses doctrinales s’achèvent sur de sanglantes impasses. De là le chagrin des spectateurs en cette fin du XXe siècle.«
[Lyotard, Jean-François: Le différend (Anm. 46),S. 258.]
»Die Übergänge, die von den großartigen Synthesen dieser Doktrinen verheißen werden, münden in blutige Sackgassen. Daher der Kummer der Zuschauer am Ende dieses 20. Jahrhunderts.«
[Lyotard, Jean-François: Der Widerstreit (Anm. 47), S. 296.]
»À la différence d’un litige, un différend serait un cas de conflit entre deux parties (au moins) qui ne pourrait pas être tranché équitablement faute d’une règle de jugement applicable aux deux argumentations. Que l’une soit légitime n’impliquerait pas que l’autre ne le soit pas. Si l’on applique cependant la même règle de jugement à l’une et à l’autre pour trancher leur différend comme si celui-ci était un litige, on cause un tort à l’une d’elles (au moins, et aux deux si aucune n’admet cette règle).«
[Lyotard, Jean-François: Le différend (Anm. 46), S. 9.]
»Im Unterschied zu einem Rechtsstreit wäre ein Widerstreit ein Konfliktfall zwischen (wenigstens) zwei Parteien, der nicht angemessen entschieden werden kann, da eine auf beide Argumentationen anwendbare Urteilsregel fehlt. Die Legitimität der einen Argumentation schlösse nicht auch ein, daß die andere nicht legitim ist. Wendet man dennoch dieselbe Urteilsregel auf beide zugleich an, um ihren Widerstreit gleichsam als Rechtsstreit zu schlichten, so fügt man einer von ihnen Unrecht zu (einer von ihnen zumindest, und allen beiden, wenn keine diese Regel gelten läßt).«
[Lyotard, Jean-François: Der Widerstreit (Anm. 47), S. 9.]
»Une phrase, la plus ordinaire, est constituée selon un groupe de règles (son régime). Il y a plusieurs régimes de phrases : raisonner, connaître, décrire, raconter, interroger, montrer, ordonner, etc. Deux phrases de régime hétérogène ne sont pas traduisibles l’une à l’autre selon une fin fixée par un genre de discours.«
[Lyotard, Jean-François: Le différend (Anm. 46), S. 10.]
»Ein Satz, selbst der gewöhnlichste, wird nach einer Gruppe von Regeln gebildet (seinem Regelsystem). Es gibt mehrere Regelsysteme von Sätzen. Argumentieren, Erkennen, Beschreiben, Erzählen, Fragen, Zeigen, Befehlen usw. Zwei Sätze ungleichartiger, heterogener Regelsysteme lassen sich nicht ineinander übersetzen.«
[Lyotard, Jean-François: Der Widerstreit (Anm. 47), S. 10.]
»Une phrase ‹ arrive ›. Comment enchaîner sur elle ? Un genre de discours fournit par sa règle un ensemble de phrases possibles, chacune relevant d’un régime de phrases. Mais un autre genre de discours fournit un ensemble d’autres phrases possibles. Il y a un différend entre ces ensembles (ou entre les genres qui les appellent) parce qu’elles sont hétérogènes. Or il faut enchaîner ‹ maintenant ›, une autre phrase ne peut pas ne pas arriver, c’est la nécessité, c’est-à-dire le temps, il n’y a pas de non-phrase, un silence est une phrase, il n’y a pas de dernière phrase.«
[Lyotard, Jean-François: Le différend (Anm. 46), S. 10.]
»Ein Satz ›geschieht‹. Wie läßt er sich weiter verketten? Mit ihrer Regel liefert eine Diskursart einen Komplex möglicher Sätze, und jeder von ihnen gehört einem Satz-Regelsystem an. Eine andere Diskursart aber liefert einen Komplex anderer möglicher Sätze. […] Nun muß diese Verkettung ›jetzt‹ geschehen, ein weiterer Satz kann nicht ausbleiben, das entspricht der Notwendigkeit, das heißt der Zeit, es gibt keinen Nicht-Satz, Schweigen ist ein Satz, es gibt keinen letzten Satz.«
[Lyotard, Jean-François: Der Widerstreit (Anm. 47), S. 10f.]
»En l’absence d’un régime de phrases ou d’un genre de discours jouissant d’une autorité universelle pour trancher, n’est-il pas nécessaire que l’enchaînement, quel qu’il soit, fasse un tort aux régimes ou aux genres dont les phrases possibles restent inactualisées ?«
[Lyotard, Jean-François: Le différend (Anm. 46), S. 10.]
»Mangels eines Satz-Regelsystems oder einer Diskursart, die universale schlichtende Autorität besäßen – fügt nicht die Verkettung, gleich welcher Art, den Regelsystemen oder Diskursarten, deren mögliche Sätze nicht aktualisiert werden, notwendigerweise ein Unrecht zu?«
[Lyotard, Jean-François: Der Widerstreit (Anm. 47), S. 11.]
»‹ J’ai analysé des milliers de documents. J’ai inlassablement poursuivi de mes questions spécialistes et historiens. J’ai cherché, mais en vain, un seul ancien déporté capable de me prouver qu’il avait réellement vu, des ses propres yeux, une chambre à gaz › (Faurisson, in Vidal-Naquet, 1981 : 227). Avoir ‹ réellement vu de ses propres yeux › une chambre à gaz serait la condition qui donne l’autorité de dire qu’elle existe et de persuader l’incrédule.
Encore faut-il prouver qu’elle tuait au moment ou on l’a vue. La seule preuve recevable qu’elle tuait est qu’on en est mort. Mais, si l’on est mort, on ne peut témoigner que c’est du fait de la chambre à gaz.«
[Lyotard, Jean-François: Le différend (Anm. 46), S. 16.]
»›Ich habe Tausende von Dokumenten untersucht. Ich habe Fachleute und Historiker unermüdlich mit meinen Fragen verfolgt. Ich habe – allerdings vergeblich – einen einzigen ehemaligen Deportierten gesucht, der mir beweisen konnte, tatsächlich und mit eigenen Augen eine Gaskammer gesehen zu haben‹ (Faurisson, in: Vidal-Naquet, 1981: 227). ›Tatsächlich und mit eigenen Augen eine Gaskammer gesehen‹ zu haben wäre die Bedingung für die Autorität, ihre Existenz zu behaupten und den Ungläubigen zu belehren.
Zudem muß man beweisen, daß sie in dem Augenblick todbringend war, als man sie sah. Der einzig annehmbare Beweis für ihre tödliche Wirkung besteht darin, daß man tot ist. Als Toter aber kann man nicht bezeugen, daß man in einer Gaskammer umgekommen ist.«
[Lyotard, Jean-François: Der Widerstreit (Anm. 47), S. 17f.]
»[Il] est impossible de déduire une prescription d’une description.
Qu’il y ait deux millions de chômeurs constatés dans un pays n’explique pas qu’il faut porter remède au sous-emploi. Il faut pour cela sous-entendre ou présupposer une mineur, la prescription que tous ceux qui peuvent travailler le doivent. L’aveuglement, ou l’illusion transcendantale, réside dans la prétention à fonder le bien ou le juste sur le vrai, ou ce qui doit être sur ce qui est.«
[Lyotard, Jean-François: Le différend (Anm. 46), S. 160.]
»Eine Vorschrift (Präskription) [kann] unmöglich aus einer Beschreibung abgeleitet werden […].
Daß in einem Land zwei Millionen Arbeitslose festgestellt werden, erklärt nicht, daß bei der Unterbeschäftigung Abhilfe geschaffen werden muß. Dafür muß ein Untersatz (Minor) impliziert oder präsupponiert werden, die Vorschrift nämlich, daß alle, die arbeiten können, auch arbeiten sollen. Die Verblendung oder transzendentale Illusion beruht auf dem Anspruch, das Gute oder Gerechte auf das Wahre oder das Sollen auf das Sein zu gründen.«
[Lyotard, Jean-François: Der Widerstreit (Anm. 47), S. 185.]
Lyotard: La condition postmoderne (1979)
»La nostalgie du récit perdu est elle-même perdue pour la plupart des gens. Il ne s’ensuit nullement qu’ils sont voués à la barbarie. Ce qui les en empêche, c’est qu’ils savent que la légitimation ne peut pas venir d’ailleurs que de leur pratique langagière et de leur interaction communicationnelle. Devant toute autre croyance, la science qui ›sourit dans sa barbe‹ leur a appris la rude sobriété du réalisme.«
[Lyotard, Jean-François: La condition postmoderne (Anm. 18), S. 68.]
»Die Sehnsucht nach der verlorenen Erzählung ist für den Großteil der Menschen selbst verloren. Daraus folgt keineswegs, daß sie der Barbarei ausgeliefert wären. Was sie daran hindert, ist ihr Wissen, daß die Legitimierung von nirgendwo anders herkommen kann als von ihrer sprachlichen Praxis und ihrer kommunikationellen Interaktion. Vor allem anderen Glauben hat sie die Wissenschaft, die ›in ihren Bart lächelt‹, die rauhe Nüchternheit des Realismus gelehrt.«
[Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen (Anm. 19), S. 122.]