Vorlesung: Die Literatur des 20. Jahrhunderts (WS 2016/17)
Prof. Dr. Albert Meier
Die Literatur des 20. Jahrhunderts – Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge
Rainer Maria Rilkes ›Prosabuch‹ Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) kann als erster moderner Roman in deutscher Sprache gelten. Der Schlüsselbegriff ›modern‹ steht in diesem Zusammenhang für einen neuen Stil bzw. eine neue Schreibweise: die Montage. Rilke entfernt sich vom ›natürlichen‹ Erzählen zugunsten einer künstlichen Zusammenstellung heterogenen Materials, wobei ästhetischen Effekten mehr Bedeutung zukommt als der Semantik.
Musikalität der Lyrik
Diese Bevorzugung der Musikalität gegenüber dem Sinngehalt ist auch in Rilkes Gedichten wiederzufinden. Schafft man es, sich von der Suche nach logischen/vernünftigen Zusammenhängen zu lösen und öffnet sich z. B. den Gleichklängen der Wörter bzw. Laute, entfaltet Rilkes Lyrik erst ihre poetische Wirkungskraft. Dass Gedichte wie Der Panther (1903; siehe unten) beim ersten Lesen irritierend wirken, ist kein Zufall: Der Leser muss sich seiner Verständnislosigkeit stellen und nicht sofort interpretieren wollen, da jede Interpretation in einer Rationalisierung besteht, die das Gedicht als poetisches Gebilde zumindest ignoriert, wenn nicht zerstört.
Schreibtechnik der Montage
Das Prinzip der Montage wird in Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) offensichtlich. Der Roman (bzw. in Rilkes Terminologie: das ›Prosabuch‹) enthält 71 unverbundene Textteile, die auf zwei ›Bändchen‹ aufgeteilt sind.
Obwohl es autobiografische Bezüge zwischen dem Protagonisten Malte und dem Autor Rilke gibt, ist nie mit Sicherheit zu entscheiden, was poetische Erfindung (Fiktion) und was Wiedergabe von Fakten ist. Zum einen werden einige reale Schauplätze in Paris genannt, mit denen Malte in Berührung kommt (so wohnt der junge dänische Dichter Malte Laurids Brigge in der Rue Toullier, in der auch Rilke gewohnt hat); zum anderen erzählt der Protagonist auch von fiktiven Personen und Erlebnissen. Folglich sind nicht einmal die Aussagen Maltes über sich selbst als innerhalb der Fiktion ›authentisch‹ anzusehen, sondern können gleichermaßen als seine Poesie gelesen werden.
Der Titel Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge impliziert, dass ein ›Herausgeber‹ das hinterlassene Textmaterial geordnet und in die uns vorliegende Reihenfolge gebracht hat. Diese Annahme wird durch mehrere Fußnoten sowie die abschließende Bemerkung ›Ende der Aufzeichnungen‹ unterstützt. Insofern wird in Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge nie unvermittelt/direkt erzählt: Als Leser hat man immer nur bearbeitetes Textmaterial vor sich.
Zitate
Jandl, Ernst: Rilkes schuh:
»rilkes schuh
war einer
von zweien
[…]«
[Jandl, Ernst: rilkes schuh. In: Jandl, Ernst: Gesammelte Werke. Dritter Band: Stücke und Prosa. Herausgegeben von Klaus Siblewski. Darmstadt 1985 [Anhang (12)].]
Rilke, Rainer Maria: Sie sind es nicht:
»Sie sind es nicht. Sie sind nur die Nicht-Reichen,
die ohne Willen sind und ohne Welt;
gezeichnet mit der letzten Ängste Zeichen
und überall entblättert und entstellt.
Zu ihnen drängt sich aller Staub der Städte,
und aller Unrat hängt sich an sie an.
Sie sind verrufen wie ein Blatternbette,
wie Scherben fortgeworfen, wie Skelette,
wie ein Kalender, dessen Jahr verrann, –
und doch: wenn deine Erde Nöte hätte:
sie reihte sie an eine Rosenkette
und trüge sie wie einen Talisman.
Denn sie sind reiner als die reinen Steine
und wie das blinde Tier, das erst beginnt,
und voller Einfalt und unendlich Deine
und wollen nichts und brauchen nur das Eine:
so arm sein dürfen, wie sie wirklich sind.
Denn Armut ist ein großer Glanz aus Innen,
ein tiefes Ruhigsein, ein starkes Recht,
das Leben jeden Abend zu beginnen –
nicht nur wie Einer, dem die Tage rinnen,
wie eine Zeit, die kommt, wie ein Geschlecht.«
[Rilke, Rainer Maria: Sie sind es nicht. In: Rilke, Rainer Maria: Das Stunden-Buch. Drittes Buch: Das Buch von der Armut und vom Tode (1903). In: Rilke, Rainer Maria: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Herausgegeben von Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Horst Nalewski, August Stahl. Band 1: Gedichte. 1895 bis 1910. Herausgegeben von Manfred Engel und Ulrich Fülleborn. Frankfurt/M. – Leipzig 1996, S. 231-252, hier S. 243f./783f.]
Strauß, Botho: Paare, Passanten:
»Daß die hymnische Schönheit, wenn sie nur tief genug, auf dem krausesten Grund entsteht, zu jeder Zeit das höchste Ziel der Dichtung sei, die das Gerümpel sichtende Schönheit, davon möchte man sich immer aufs neue überzeugen, wenn man den Angstträumen des Alltags entfliehen will, in den geschredderten Formen der Gegenwartslyrik keinen Halt findet, wohl aber in den Rilkeschen Elegien. Auch daß die Entgleisung, der Schwulst einbezogen, als Gärstoff unerläßlich sind für die Fügung plötzlich einer unvergleichlichen Zeile, für die Präzision des Triumphs, für die herrliche Ausstrahlung.«
[Strauß, Botho: Paare, Passanten. München – Wien 1981, S. 119.]
Stéphane Mallarmé: Poésie et pensée abstraite:
»Ce n’est pas avec des idées, mon cher Degas, que l’on fait des vers. C’est avec des mots.
[Gedichte, mein lieber Degas, werden nicht aus Gedanken gemacht. Man macht sie aus Wörtern.]«
[Stéphane Mallarmé, zitiert in Valéry, Paul: Poésie et pensée abstraite. In: Valéry, Paul: Œuvres. Édition établie et annotée par Jean Hytier. Vol. I. Paris 1957 (Bibliothèque de la Pléiade 127, S. 1314-1339, hier S. 1324.]
Rilke, Rainer Maria: Auguste Rodin:
»Die Maske des Mannes mit der gebrochenen Nase war das erste Porträt, das Rodin geschaffen hat. In diesem Werke ist seine Art, durch ein Gesicht zu gehen, schon ganz ausgebildet, man fühlt seine unbegrenzte Hingabe an das Vorhandene, seine Ehrfurcht vor jeder Linie, die das Schicksal gezogen hat, sein Vertrauen zu dem Leben, das schafft, auch wo es entstellt.«
[Rilke, Rainer Maria: Auguste Rodin. Wiesbaden 1949, S. 48f.]
Rainer Maria an Clara Rilke (19. 10. 1907)
»[…] die ganze Entwicklung zum sachlichen Sagen, die wir jetzt in Cézanne zu erkennen glauben […].«
[Rainer Maria an Clara Rilke (19. 10. 1907). In: Rilke, Rainer Maria: : Briefe. Herausgegeben vom Rilke-Archiv in Weimar. In Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke besorgt durch Karl Altheim. Band I. Frankfurt am Main 1987, S. 195-197, hier S. 195.]
Rilke, Rainer Maria: Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke:
»Reiten, reiten, reiten, durch den Tag, durch die Nacht, durch den Tag. Reiten, reiten, reiten.
Und der Mut ist so müde geworden und die Sehnsucht so groß. Es gibt keine Berge mehr, kaum einen Baum. Nichts wagt aufzustehen. Fremde Hütten hocken durstig an versumpften Brunnen. Nirgends ein Turm. Und immer das gleiche Bild. Man hat zwei Augen zuviel. Nur in der Nacht manchmal glaubt man den Weg zu kennen. Vielleicht kehren wir nächtens immer wieder das Stück zurück, das wir in der fremden Sonne mühsam gewonnen haben? Es kann sein. Die Sonne ist schwer, wie bei uns tief im Sommer. Aber wir haben im Sommer Abschied genommen. Die Kleider der Frauen leuchteten lang aus dem Grün. Und nun reiten wir lang. Es muß also Herbst sein. Wenigstens dort, wo traurige Frauen von uns wissen.«
[Rilke, Rainer Maria: Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke. In: Rilke, Rainer Maria: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Herausgegeben von Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Horst Nalewski, August Stahl. Band I: Gedichte. 1895-1910. Herausgegeben von Manfred Engel und Ulrich Fülleborn. Frankfurt am Main / Leipzig 1996, S. 139-152, hier S. 141.]
Rilke, Rainer Maria: Das Stunden-Buch:
»Die Zeit ist wie ein welker Rand
an einem Buchenblatt.
Sie ist das glänzende Gewand,
das Gott verworfen hat,
als Er, der immer Tiefe war,
ermüdete des Flugs
und sich verbarg vor jedem Jahr,
bis ihm sein wurzelhaftes Haar
durch alle Dinge wuchs.«
[Rilke: Band 1 (Anm. 7), S.186.]
Rilke, Rainer Maria: Der Panther:
»Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf −. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.«
[Rilke: Band 1 (Anm. 7), S. 469.]
Rilke, Rainer Maria: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge:
»Ich bin achtundzwanzig, und es ist so gut wie nichts geschehen. Wiederholen wir: ich habe eine Studie über Carpaccio geschrieben, die schlecht ist, ein Drama, das ›Ehe‹ heißt und etwas Falsches mit zweideutigen Mitteln beweisen will, und Verse. Ach, aber mit Versen ist so wenig getan, wenn man sie früh schreibt.«
[Rilke, Rainer Maria: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. In: Rilke, Rainer Maria: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Herausgegeben von Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Horst Nalewski, August Stahl. Band 3: Prosa und Dramen. Herausgegeben von August Stahl. Frankfurt am Main – Leipzig 1996, S. 453-635, hier S. 466.]
»Dieser junge, belanglose Ausländer, Brigge, wird sich fünf Treppen hoch hinsetzen müssen und schreiben, Tag und Nacht: ja er wird schreiben müssen, das wird das Ende sein.«
[Rilke: Brigge (Anm. 10), S. 470.]
Rainer Maria Rilke an Lou Andreas-Salomé (28. 12. 1911)
»[…] aber niemand als Du, liebe Lou, kann unterscheiden und nachweisen, ob und wieweit er mir ähnlich sieht. Ob er, der ja zum Teil aus meinen Gefahren gemacht ist, darin untergeht, gewissermaßen um mir den Untergang zu ersparen, oder ob ich erst recht mit diesen Aufzeichnungen in die Strömung geraten bin, die mich wegreißt und hinübertreibt.«
[Rainer Maria Rilke an Lou Andreas-Salomé (28. 12. 1911). Zitiert im Kommentar zu Rilke, Rainer Maria: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. In: Rilke, Rainer Maria: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Herausgegeben von Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Horst Nalewski, August Stahl. Band 3: Prosa und Dramen. Herausgegeben von August Stahl. Frankfurt am Main – Leipzig 1996, S. 866-1045, hier S. 880.]
Rilke, Rainer Maria: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge:
»So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier. Ich bin ausgewesen. Ich habe gesehen: Hospitäler. Ich habe einen Menschen gesehen, welcher schwankte und umsank. Die Leute versammelten sich um ihn, das ersparte mir den Rest. Ich habe eine schwangere Frau gesehen. Sie schob sich schwer an einer hohen, warmen Mauer entlang, nach der sie manchmal tastete, wie um sich zu überzeugen, ob sie noch da sei. Ja, sie war noch da. Dahinter? Ich suchte auf meinem Plan: Maison d’Accouchement. Gut. Man wird sie entbinden – man kann das. Weiter, rue Saint-Jacques, ein großes Gebäude mit einer Kuppel. Der Plan gab an Val-degrâce, Hôpital militaire.«
[Rilke: Brigge (Anm. 10), S. 455.]
»Das brauchte ich eigentlich nicht zu wissen, aber es schadet nicht. Die Gasse begann von allen Seiten zu riechen. Es roch, soviel sich unterscheiden ließ, nach Jodoform, nach dem Fett von pommes frites, nach Angst. Alle Städte riechen im Sommer. Dann habe ich ein eigentümlich starblindes Haus gesehen, es war im Plan nicht zu finden, aber über der Tür stand noch ziemlich leserlich: Asyle de nuit. Neben dem Eingang waren die Preise. Ich habe sie gelesen. Es war nicht teuer. Und sonst? ein Kind in einem stehenden Kinderwagen: es war dick, grünlich und hatte einen deutlichen Ausschlag auf der Stirn. Er heilte offenbar ab und tat nicht weh. Das Kind schlief, der Mund war offen, atmete Jodoform, pommes frites, Angst. Das war nun mal so. Die Hauptsache war, daß man lebte. Das war die Hauptsache.«
[Ebd.]
»Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wußte. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht.
[…]
Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen. Ja, ich fange an. Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen.«
[Rilke: Brigge (Anm. 10), S. 456f.]
»Daß es mir zum Beispiel niemals zum Bewußtsein gekommen ist, wieviel Gesichter es giebt. Es giebt eine Menge Menschen, aber noch viel mehr Gesichter, denn jeder hat mehrere. Da sind Leute, die tragen ein Gesicht jahrelang, natürlich nutzt es sich ab, es wird schmutzig, es bricht in den Falten, es weitet sich aus wie Handschuhe, die man auf der Reise getragen hat. Das sind sparsame, einfache Leute; sie wechseln es nicht, sie lassen es nicht einmal reinigen. Es sei gut genug, behaupten sie, und wer kann ihnen das Gegenteil nachweisen? Nun fragt es sich freilich, da sie mehrere Gesichter haben, was tun sie mit den anderen? Sie heben sie auf. Ihre Kinder sollen sie tragen. Aber es kommt auch vor, daß ihre Hunde damit ausgehen. -Weshalb auch nicht? Gesicht ist Gesicht.«
[Rilke: Brigge (Anm. 10), S. 457.]
»Aber die Frau, die Frau: sie war ganz in sich hineingefallen, vornüber in ihre Hände. Es war an der Ecke rue Notre-Dame-des-Champs. Ich fing an, leise zu gehen, sowie ich sie gesehen hatte. Wenn arme Leute nachdenken, soll man sie nicht stören. Vielleicht fällt es ihnen doch ein. Die Straße war zu leer, ihre Leere langweilte sich und zog mir den Schritt unter den Füßen weg und klappte mit ihm herum, drüben und da, wie mit einem Holzschuh. Die Frau erschrak und hob sich aus sich ab, zu schnell, zu heftig, so daß das Gesicht in den zwei Händen blieb. Ich konnte es darin liegen sehen, seine hohle Form. Es kostete mich unbeschreibliche Anstrengung, bei diesen Händen zu bleiben und nicht zu schauen, was sich aus ihnen abgerissen hatte. Mir graute, ein Gesicht von
innen zu sehen, aber ich fürchtete mich doch noch viel mehr vor dem bloßen wunden Kopf ohne Gesicht.«
[Rilke: Brigge (Anm. 10), S. 457f.]
»Dieses ausgezeichnete Hôtel ist sehr alt, schon zu König Chlodwigs Zeiten starb man darin in einigen Betten. Jetzt wird in 559 Betten gestorben. Natürlich fabrikmäßig. Bei so enormer Produktion ist der einzelne Tod nicht so gut ausgeführt, aber darauf kommt es auch nicht an. Die Masse macht es. […].«
[Rilke: Brigge (Anm. 10), S. 458.]
»In den Sanatorien, wo ja so gern und mit so viel Dankbarkeit gegen Ärzte und Schwestern gestorben wird, stirbt man einen von den an der Anstalt angestellten Toden; das wird gerne gesehen. Wenn man aber zu Hause stirbt, ist es natürlich, jenen höflichen Tod der guten Kreise zu wählen, mit dem gleichsam das Begräbnis erster Klasse schon anfängt und die ganze Folge seiner wunderschönen Gebräuche. Da stehen dann die Armen vor so einem Haus und sehen sich satt. Ihr Tod ist natürlich banal, ohne alle Umstände. Sie sind froh, wenn sie einen finden, der ungefähr paßt. Zu weit darf er sein: man wächst immer noch ein bißchen. Nur wenn er nicht zugeht über der Brust oder würgt, dann hat es seine Not.«
[Rilke: Brigge (Anm. 10), S. 459.]
»Wenn ich nach Hause denke, wo nun niemand mehr ist, dann glaube ich, das muß früher anders gewesen sein. Früher wußte man (oder vielleicht man ahnte es), daß man den Tod in sich hatte wie die Frucht den Kern. Die Kinder hatten einen kleinen in sich und die Erwachsenen einen großen. Die Frauen hatten ihn ihm Schoß und die Männer in der Brust. Den hatte man, und das gab einem eine eigentümliche Würde und einen stillen Stolz.«
[Ebd.]
»Das war damals, als von Zeit zu Zeit Männer fremdlings, mit geschwärztem Gesicht, ihn in seinem Bette überfielen, um ihm das in die Schwären hineingefaulte Hemde abzureißen, das er schon längst für sich selber hielt. Es war verdunkelt im Zimmer, und sie zerrten unter seinen steifen Armen die mürben Fetzen weg, wie sie sie griffen. Dann leuchtete einer vor, und da erst entdeckten sie die jäsige Wunde auf seiner Brust, in die das eiserne Amulett eingesunken war, weil er es jede Nacht an sich preßte mit aller Kraft seiner Inbrunst; nun stand es tief in ihm, fürchterlich kostbar, in einem Perlensaum von Eiter wie ein wundertuender Rest in der Mulde eines Reliquärs. Man hatte harte Handlanger ausgesucht, aber sie waren nicht ekelfest, wenn die Würmer, gestört, nach ihnen herüberstanden aus dem flandrischen Barchent und, aus den Falten abgefallen, sich irgendwo an ihren Ärmeln aufzogen.«
[Rilke: Brigge (Anm. 10), S. 604f.]
»[… ] als ich merkte, daß für meine unwillkürlich angestrengten Augen das Dunkel nach und nach durchsichtiger wurde. Ich konnte schon hinten die Wand unterscheiden, die mit einer hellen Leiste abschloß; ich orientierte mich über die Beine des Tisches; ich erkannte vor allem meine eigene, ausgespreizte Hand, die sich ganz allein, ein bißchen wie ein Wassertier, da unten bewegte und den Grund untersuchte. Ich sah ihr, weiß ich noch, fast neugierig zu; es kam mir vor, als könnte sie Dinge, die ich sie nicht gelehrt hatte, wie sie da unten so eigenmächtig herumtastete mit Bewegungen, die ich nie an ihr beobachtet hatte. Ich verfolgte sie, wie sie vordrang, es interessierte mich, ich war auf allerhand vorbereitet. Aber wie hätte ich darauf gefaßt sein sollen, daß ihr mit einem Male aus der Wand eine andere Hand entgegenkam, eine größere, ungewöhnlich magere Hand, wie ich noch nie eine gesehen hatte. Sie suchte in ähnlicher Weise von der anderen Seite her, und die beiden gespreizten Hände bewegten sich blind aufeinander zu. Meine Neugierde war noch nicht aufgebraucht, aber plötzlich war sie zu Ende, und es war nur Grauen da.
Ich fühlte, daß die eine von den Händen mir gehörte und daß sie sich da in etwas einließ, was nicht wieder gutzumachen war. Mit allem Recht, das ich auf sie hatte, hielt ich sie an und zog sie flach und langsam zurück, indem ich die andere nicht aus den Augen ließ, die weitersuchte. Ich begriff, daß sie es nicht aufgeben würde, ich kann nicht sagen, wie ich wieder hinaufkam. Ich saß ganz tief im Sessel, die Zähne schlugen mir aufeinander, und ich hatte so wenig Blut im Gesicht, daß mir schien, es wäre kein Blau mehr in meinen Augen. Mademoiselle -, wollte ich sagen und konnte es nicht, aber da erschrak sie von selbst, sie warf ihr Buch hin und kniete sich neben den Sessel und rief meinen Namen; ich glaube, daß sie mich rüttelte. Aber ich war ganz bei Bewußtsein. Ich schluckte ein paarmal; denn nun wollte ich es erzählen.«
[Rilke: Brigge (Anm. 10), S. 520.]
»Aber wie? Ich nahm mich unbeschreiblich zusammen, aber es war nicht auszudrücken, so daß es einer begriff. Gab es Worte für dieses Ereignis, so war ich zu klein, welche zu finden. Und plötzlich ergriff mich die Angst, sie könnten doch, über mein Alter hinaus, auf einmal da sein, diese Worte, und es schien mir fürchterlicher als alles, sie dann sagen zu müssen. Das Wirkliche da unten noch einmal durchzumachen, anders, abgewandelt, von Anfang an; zu hören, wie ich es zugebe, dazu hatte ich keine Kraft mehr.«
[Rilke: Brigge (Anm. 10), S. 520f.]
»Es war mitten im Sommer, am Donnerstag nach Ingeborgs Beisetzung. […] Es war die Stunde, da man die Post erwartete, und es fügte sich meistens so, daß Ingeborg sie brachte, […]. Aber an diesem Nachmittag, Malte, da sie wirklich nicht mehr kommen konnte -: da kam sie. […] Und da war ich daran – (mir wird ganz kalt, Malte, wenn ich es denke) aber, Gott behüt mich, ich war daran zu sagen: »Wo bleibt nur -« Da schoß schon Cavalier, wie er immer tat, unter dem Tisch hervor und lief ihr entgegen. […] Zweimal sah er sich nach uns um, als ob er fragte. Dann raste er auf sie zu, wie immer, Malte, genau wie immer, und erreichte sie; denn er begann rund herum zu springen, Malte, um etwas, was nicht da war, und dann hinauf an ihr, um sie zu lecken, gerade hinauf. Wir hörten ihn winseln vor Freude, und wie er so in die Höhe schnellte, mehrmals rasch hintereinander, hätte man wirklich meinen können, er verdecke sie uns mit seinen Sprüngen. Aber da heulte es auf einmal, und er drehte sich von seinem eigenen Schwunge in der Luft um und stürzte zurück, merkwürdig ungeschickt, und lag ganz eigentümlich flach da und rührte sich nicht.«
[Rilke: Brigge (Anm. 10), S. 516f.]
»Ende der Aufzeichnungen«
[Rilke: Brigge (Anm. 10), S. 635.]
»* Ein Briefentwurf.«
[Rilke: Brigge (Anm. 10), S. 504.]
»* Der Tod, der Tod.«
[Rilke: Brigge (Anm. 10), S. 569.]
»* Im Manuskript an den Rand geschrieben.«
[Rilke: Brigge (Anm. 10), S. 531/587/592/603/617/629.]
Rilke an Manon zu Solms-Laubach (11. 4. 1910)
»Was dieser erfundene junge Mensch innen durchmachte (an Paris und an seinen über Paris wieder auflebenden Erinnerungen), ging überall so ins Weite; es hätten immer noch Aufzeichnungen hinzukommen können; was nun das Buch ausmacht, ist durchaus nichts Vollzähliges. Es ist nur so, als fände man in einem Schubfach ungeordnete Papiere und fände eben vorderhand nicht mehr und müßte sich begnügen.«
[Rilke, Rainer Maria: Brief an Gräfin Manon zu Solms-Laubach. In: Rilke: Briefe aus den Jahren 1907 bis 1914 (Anm. 12), S. 97-101, hier S. 99.]
Rilke, Rainer Maria: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge:
»Daß man erzählte, wirklich erzählte, das muß vor meiner Zeit gewesen sein. Ich habe nie jemanden erzählen hören. Damals, als Abelone mir von Mamans Jugend sprach, zeigte es sich, daß sie nicht erzählen könne. Der alte Graf Brahe soll es noch gekonnt haben. Ich will aufschreiben, was sie davon wußte.«
[Rilke: Brigge (Anm. 10), S. 557f.]