Vorlesung: Johann Wolfgang Goethe (SoSe 2017)
Prof. Dr. Albert Meier
Johann Wolfgang Goethe – Faust I/II
Die Arbeit am Faust beschäftigt Goethe sein ganzes Leben lang, seitdem er als Kind ein Puppenspiel um diesen Stoff gesehen hat, der auf dem sog. ›Volksbuch‹ Historia von D. Johann Fausten, dem weitbeschreyten Zauberer vnnd Schwartzkünstler (1587) beruht und über die Dramatisierung durch Shakespeares Zeitgenossen Christopher Marlowe in die europäische Literatur eingegangen ist.
Kernidee bei Goethe ist die Frage nach dem, »was die Welt in ihrem Innersten zusammenhält« ‒ am Ende von Faust II wird deutlich, dass ›die Liebe‹ darauf die richtige Antwort ist. Die beiden Schlussverse (»Das Ewig-Weibliche | Zieht uns hinan«) bringen das auf den Punkt: Das ›Ewig-Weibliche‹ ist Alles, was man begehren kann, d. h. die erotische Liebe ebenso wie das Streben nach Wahrheit oder Macht. Beide Teile des Faust gehören daher unabdingbar zusammen, obwohl sie motivisch strikt voneinander getrennt sind und der Faust des Zweiten Teils nichts von dem des Ersten Teils weiß.
Eine wichtige Voraussetzung zum Verständnis der dramatischen Konzeption liegt darin, die mehrfache Rahmung zu beachten: Die eigentliche Handlung um Faust ›geschieht‹ nicht, sondern wird ›vorgespielt‹, da sie mit Nachdruck als Dichtung markiert ist: Die einleitende ›Zueignung‹ hat die Arbeit des Autors zum Thema; das ›Vorspiel auf dem Theater‹ reflektiert die divergenten Interessen, von Dichter, Schauspieler und Prinzipal und lässt erkennen, dass alles Weitere bloß Theater ist; mit dem ›Prolog im Himmel‹ wird die folgende Handlung um Faust im Stil eines mittelalterlichen Mysterienspiels eingeleitet.
Goethe hat insbesondere im Zweiten Teil darauf geachtet, die Handlung nicht schlüssig zu motivieren, weil dadurch der Abstand zur kausal geordneten Lebenswelt umso deutlicher wird. Allerdings besteht jeweils eine plausible Korrespondenz zwischen Figuren/Situationen und der jeweiligen Sprechweise (daher spricht z. B. der Faust des Ersten Teils als ›altdeutscher Charakter‹ zumeist im Knittelvers (4 Hebungen mit Reim).
Dreh- und Angelpunkt des Stückes ist die Wette zwischen Faust und Mephistopheles um die Frage, ob Faust je an einen Endpunkt seines Strebens gelangt und abschließende Zufriedenheit erreicht. Diese Entscheidung bleibt letztlich offen, aber umso mehr setzt sich die ›Liebe‹ durch und ermöglicht die ›Erlösung‹: »Wer ewig strebend sich bemüht, | Den können wir erlösen«.
Zitate
An Faust gehe ich ganz zuletzt, wenn ich alles andre hinter mir habe.
[Goethe, Johann Wolfgang: An Herzog Carl August, 8. 12. 1787. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Herausgegeben von Karl Eibl u.a. II. Abteilung. Band 3. Frankfurt am Main 1991. S. 356- 360, hier S. 359.]
Da es höchst nötig ist daß ich mir, in meinem jetzigen unruhigen Zustande, etwas zu tun gebe, so habe ich mich entschlossen an meinen Faust zu gehen und ihn, wo nicht zu vollenden, doch wenigstens um ein gutes Teil weiter zu bringen.
[Goethe, Johann Wolfgang: An Friedrich Schiller, 22. 6. 1797. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 8.1 (Text): Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. Herausgegeben von Manfred Beetz. München – Wien 1990, S. 359.]
Das Hauptgeschäft zu Stande gebracht. Letztes Mundum. Alles rein Geschriebene eingeheftet.
[Goethe, Johann Wolfgang: Tagebücher, 22. 7. 1831: In: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Herausgegeben von Karl Eibl u.a. II. Abteilung. Band 11. Frankfurt am Main 1991. S. 431- 433, hier S. 431.]
Ganz ohne Frage würd es mir unendliche Freude machen, meinen werten, durchaus dankbar anerkannten, weit verteilten Freunden auch bei Lebzeiten diese sehr ernsten Scherze zu widmen, mitzuteilen und ihre Erwiderung zu vernehmen. Der Tag aber ist wirklich so absurd und konfus, daß ich mich überzeuge meine redlichen, lange verfolgten Bemühungen um dieses seltsame Gebäu würden schlecht belohnt und an den Strand getrieben, wie ein Wrack in Trümmern daliegen und von dem Dünenschutt der Stunden zunächst überschüttet werden. Verwirrende Lehre zu verwirrtem Handel waltet über die Welt, und ich habe nichts angelegentlicher zu tun als dasjenige was an mir ist und geblieben ist wo möglich zu steigern und meine Eigentümlichkeiten zu kohobieren, wie Sie
es, würdiger Freund, auf Ihrer Burg ja auch bewerkstelligen.
[Goethe, Johann Wolfgang: An Wilhelm von Humboldt, 17. 3. 1832. In: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und
Gespräche. Vierzig Bände. Herausgegeben von Karl Eibl. u.a. II. Abteilung. Band 11. Frnakfurt am Main 1991. S. 549-
551, hier S. 550.]
MEPHISTOPHELES | Die Kleine möcht’ ich mir verpfänden …. | Lacerte schlüpft mir aus den Händen! | Und schlangenhaft der glatte Zopf. | Dagegen faß’ ich mir die Lange …. | Da pack’ ich eine Thyrsusstange! | Den Pinienapfel als den Kopf. | Wo will’s hinaus? …. Noch eine Dicke, | An der ich mich vielleicht erquicke; | Zum letztenmal gewagt! Es sei! | Recht quammig, quappig, das
bezahlen | Mit hohem Preis Orientalen …. | Doch ach! der Bovist platzt entzwei!
[Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Der Tragödie zweiter Teil. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Herausgegeben von Friedmar Apel u. a. I. Abteilung: Sämtliche Werke. Band 7/1: Faust. Texte. Herausgegeben von Albrecht Schöne. Frankfurt am Main 1994, S. 201-464, hier S. 310 (v. 7773-7784).]
MEPHISTOPHELES | […] | Ein widrig Volk! doch darf michs nicht verdrießen, | Als neuer Gast anständig sie zu grüßen …. | Glück zu! den schönen Frau’n, den klugen Greisen. | GREIF schnarrend | Nicht Greisen! Greifen! – Niemand hört es gern | Daß man ihn Greis nennt. Jedem Worte klingt | Der Ursprung nach, wo es sich her bedingt: | Grau, grämlich, griesgram, gräulich, Gräber, grimmig, | Etymologisch gleicherweise stimmig, | Verstimmen uns.
[Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Der Tragödie zweiter Teil. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Herausgegeben von Friedmar Apel u. a. I. Abteilung: Sämtliche Werke. Band 7/1: Faust. Texte. Herausgegeben von Albrecht Schöne. Frankfurt am Main 1994, S. 201-464, hier S. 288 (v. 7090-7098).]
Vielmehr bin ich der Meinung: je inkommensurabeler und für den Verstand unfaßlicher eine poetische Produktion,
desto besser.
[Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 19. Herausgegeben von Heinz Schlaffer. München – Wien 1986, S. 572.]
Diese Widersprüche statt sie zu vereinigen disparater zu machen.
[Goethe, Johann Wolfgang: Undatiertes Paralipomenon (um 1800?). In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Herausgegeben von Friedmar Apel u. a. I. Abteilung: Sämtliche Werke. Band 7/1: Faust. Texte. Herausgegeben von Albrecht Schöne. Frankfurt am Main 1994, S. 577.]
In der Poesie gibt es keine Widersprüche. Diese sind nur in der wirklichen Welt, nicht in der Welt der Poesie.
[Goethe, Johann Wolfgang: Zu Heinrich Luden (Jena 1806). In: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Herausgegeben von Karl Eibl. II Abteilung. Band 6. S. 79-111, hier S. 90.]
Ebenso will ich meinen Faust auch fertig machen, der seiner nordischen Natur nach ein ungeheures nordisches Publikum finden muß.
[Goethe, Johann Wolfgang: An Schiller, 28. 4. 1798. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 8.1 (Text): Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. Herausgegeben von Manfred Beetz. München – Wien 1990, S. 561.]
FAUST | […] | Zwar bin ich gescheiter als alle die Laffen, | Doktoren, Magister, Schreiber und Pfaffen; | Mich plagen keine Skrupel noch Zweifel, | Fürchte mich weder vor Hölle noch Teufel | Dafür ist mir auch alle Freud’ entrissen, | Bilde mir nicht ein was rechts zu wissen, | Bilde mir nicht ein ich könnte was lehren | Die Menschen zu bessern und zu bekehren. | […] | Drum hab’ ich mich der Magie ergeben, | Ob mir, durch Geistes Kraft und Mund, | Nicht manch Geheimnis würde kund; | Daß ich nicht mehr, mit sauerm Schweiß, | Zu sagen brauche was ich nicht weiß; | Daß ich erkenne, was die Welt | Im Innersten zusammenhält, | Schau’ alle Wirkenskraft und Samen, | Und tu’ nicht mehr in Worten kramen.
[Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Eine Tragödie. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Herausgegeben von Friedmar Apel u. a. I. Abteilung: Sämtliche Werke. Band 7/1: Faust. Texte. Herausgegeben von Albrecht Schöne. Frankfurt am Main 1994, S. 9-199, hier S. 33f. (v. 366-385).]
In Lebensfluten, im Tatensturm | Wall’ ich auf und ab, | Wehe hin und her! |Geburt und Grab, | Ein ewiges Meer, | Ein wechselnd Weben, | Ein glühend Leben, | So schaff’ ich am sausenden Webstuhl der Zeit, | Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.
[Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Eine Tragödie. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Herausgegeben von Friedmar Apel u. a. I. Abteilung: Sämtliche Werke. Band 7/1: Faust. Texte. Herausgegeben von Albrecht Schöne. Frankfurt am Main 1994, S. 9-199, hier S. 37 (v. 501-509).]
FAUST | Der du die weite Welt umschweifst, | Geschäftiger Geist, wie nah fühl’ ich mich dir! | GEIST | Du gleichst dem Geist, den du begreifst, | Nicht mir! | Verschwindet. | FAUST zusammenstürzend | Nicht dir? | Wem denn? | Ich Ebenbild der Gottheit! | Und nicht einmal dir!
[Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Eine Tragödie. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Herausgegeben von Friedmar Apel u. a. I. Abteilung: Sämtliche Werke. Band 7/1: Faust. Texte. Herausgegeben von Albrecht Schöne. Frankfurt am Main 1994, S. 9-199, hier S. 38 (v. 510-517).]
FAUST | […] | Welch Schauspiel! aber ach! ein Schauspiel nur! | Wo fass’ ich dich, unendliche Natur? | Euch Brüste, wo? Ihr Quellen alles Lebens, | An denen Himmel und Erde hängt, | Dahin die welke Brust sich drängt – | Ihr quellt, ihr tränkt, und schmacht’ ich so vergebens?
[Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Eine Tragödie. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Herausgegeben von Friedmar Apel u. a. I. Abteilung: Sämtliche Werke. Band 7/1: Faust. Texte. Herausgegeben von Albrecht Schöne. Frankfurt am Main 1994, S. 9-199, hier S. 36 (v. 454-459).]
DER HERR | Wenn er mir jetzt auch nur verworren dient: | So werd’ ich ihn bald in die Klarheit führen. | […] | MEPHISTOPHELES | Was wettet ihr? den sollt ihr noch verlieren, | Wenn ihr mir die Erlaubnis gebt | Ihn meine Straße sacht zu führen. | DER HERR | So lang’ er auf der Erde lebt, | So lange sei dir’s nicht verboten. | Es irrt der Mensch so lang’ er strebt. | […] | Zieh diesen Geist von
seinem Urquell ab, | Und führ’ ihn, kannst du ihn erfassen, | Auf deinem Wege mit herab, | Und steh’ beschämt, wenn du bekennen mußt: | Ein guter Mensch in seinem dunkeln Drange | Ist sich des rechten Weges stets bewußt. | MEPHISTOPHELES | Schon gut! nur dauert es nicht lange. | Mir ist für meine Wette gar nicht bange. | […]
[Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Eine Tragödie. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Herausgegeben von Friedmar Apel u. a. I. Abteilung: Sämtliche Werke. Band 7/1: Faust. Texte. Herausgegeben von Albrecht Schöne. Frankfurt am Main 1994, S. 9-199, hier S. 27f. (v. 308-331).]
FAUST | Werd’ ich beruhigt je mich auf ein Faulbett legen: | So sei es gleich um mich getan! | Kannst du mich schmeichelnd je belügen | Daß ich mir selbst gefallen mag, | Kannst du mich mit Genuß betriegen: | Das sei für mich der letzte Tag! | Die Wette biet’ ich! | MEPHISTOPHELES | Topp! | FAUST | Und Schlag auf Schlag! | Werd’ ich zum Augenblicke sagen: | Verweile doch! du
bist so schön! | Dann magst du mich in Fesseln schlagen, | Dann will ich gern zu Grunde gehn! | […]
[Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Eine Tragödie. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Herausgegeben von Friedmar Apel u. a. I. Abteilung: Sämtliche Werke. Band 7/1: Faust. Texte. Herausgegeben von Albrecht Schöne. Frankfurt am Main 1994, S. 9-199, hier S. 76 (v. 1692-1702).]
FAUST | Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, | Der täglich sie erobern muß. | Und so verbringt, umrungen von Gefahr, | Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr. | Solch ein Gewimmel möchte ich sehn, | Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn. | Zum Augenblicke dürft’ ich sagen: | Verweile doch, Du bist so schön! | Es kann die Spur von meinen Erdetagen | Nicht in Aeonen untergehn. – | Im Vorgefühl von solchem hohen Glück | Genieß ich jetzt den höchsten Augenblick.
[Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Der Tragödie zweiter Teil. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Herausgegeben von Friedmar Apel u. a. I. Abteilung: Sämtliche Werke. Band 7/1: Faust. Texte. Herausgegeben von Albrecht Schöne. Frankfurt am Main 1994, S. 201-464, hier S. 446 (v. 11575-11586).]
CHORUS MYSTICUS | Alles Vergängliche | Ist nur ein Gleichnis; | Das Unzulängliche | Hier wird’s Ereignis; | Das Unbeschreibliche | Hier ist es getan; | Das Ewig-Weibliche | Zieht uns hinan.
[Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Der Tragödie zweiter Teil. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Briefe,
Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Herausgegeben von Friedmar Apel u. a. I. Abteilung: Sämtliche Werke.
Band 7/1: Faust. Texte. Herausgegeben von Albrecht Schöne. Frankfurt am Main 1994, S. 201-464, hier S. 464 (v.
12104-12110).]