Vorlesung: Johann Wolfgang Goethe (SoSe 2017)
Prof. Dr. Albert Meier
Johann Wolfgang Goethe – Naturwissenschaftliche Schriften
Goethe hat sich zeitlebens auch naturwissenschaftlichen Fragen gewidmet und dabei zum Teil gültige Erkenntnisse gewonnen. Seine Hauptforschungsgebiete sind die Osteologie (Knochenkunde), Morphologie und Optik/Farbenlehre gewesen; überall dominiert dabei eine ästhetisch motivierte Herangehensweise, die in Analogie zum literarischen Klassizismus darauf zielt, die Einheit und Einfachheit der Natur in allen ihren Phänomenen aufzuzeigen.
Im Bereich der Osteologie kann Goethe gemeinsam mit dem Jenenser Anatom J. C. Loder den Nachweis führen, dass der Mensch in Übereinstimmung mit sämtlichen Säugetieren über einen ›Zwischenkieferknochen‹ verfügt und in seinem Körperbau daher keine Sonderrolle behaupten kann. (Unten finden Sie ein entsprechendes Zitat Goethes zum Nachlesen.)
Der zweite große Bereich von Goethes Forschungen betrifft die Morphologie bzw. die ›Metamorphose‹ (= Gestaltwandel) der Pflanzen und Tiere, d. h. die Rückführung ihrer vielfältigen Formenwelt auf einfache Grundprinzipien.
In Italien, wo er eine ganz neue und besonders reiche Flora vorfindet, hat Goethe zunächst darauf gehofft, die ›Urpflanze‹ zu entdecken, aus der heraus sich alle anderen Pflanzen durch Variation entwickelt hätten. Vor allem in Palermo begreift er dann, dass es zwar keine ›Urpflanze‹ gibt, aber sehr wohl ein gemeinsames Bau-Prinzip, das allen Pflanzen zugrunde liegt: das Blatt (alle Teile einer Pflanze werden insofern als Variationen (Metamorphosen) derselben Grundform ›Blatt‹ erklärt).
Das Hauptthema von Goethes naturwissenschaftlicher Forschung bildet jedoch die Optik, genauer die Farbenlehre, die für ihn nicht zuletzt aufgrund seines Interesses an Malerei im Vordergrund steht.
Der entscheidende Gegner ist Isaac Newton mit seiner Theorie, das gewissermaßen weiße Sonnenlicht sei nicht als ursprüngliche Einheit, sondern als Mischung der verschiedenen Spektralfarben zu erklären. Goethe kritisiert dementsprechend Newtons Versuche zur Licht-›Brechung‹ durch Prismen als Vergewaltigung des Naturphänomens Licht. (Zitat siehe unten)
Goethes Gegenkonzept zur analytischen Methode Newtons beruht auf der Annahme, das Sonnenlicht bestehe homogen aus rein weißem Licht, das erst beim Auftreffen auf dunkle Oberflächen Farbeffekte zur Folge habe (Farben sind insofern eine Art Sinnestäuschung, d. h. menschliche Interpretation).
Goethes ›Farbkreis‹ zeigt einerseits auf, welche Farben des Regenbogens jeweils komplementär bzw. antagonistisch sind; andererseits stellt er die Farben in ihrer Analogie sowohl zu den unterschiedlichen Geistesvermögen des Menschen (Phantasie vs. Verstand; Sinnlichkeit vs. Vernunft) als auch zu den sittlichen Kategorien dar, wie sie Karl Philipp Moritz in der Bildenden Nachahmung des Schönen erläutert hat: schön vs. nützlich; edel vs. gemein; gut vs. unedel.
Zitate
EUGENIE | […] | Nun sei’s gefragt: Vermagst du, hohen Muts, | Entsagung der Entsagenden zu weihen? | Vermagst du zu versprechen: mich, als Bruder, | Mit reiner Neigung zu empfangen? Mir, | Der liebevollen Schwester, Schutz und Rat, | Und stille Lebensfreude zu gewähren? […]
[Goethe, Johann Wolfgang: Die natürliche Tochter. Trauerspiel. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 6.1: Weimarer Klassik. 1798-1806 (1). Herausgegeben von Victor Lange. München – Wien 1986, S. 241-326, hier S. 324.]
GERICHTSRAT | […] | Uneigennütz’ge Liebe kann der Mund | Mit Frechheit oft beteuern, wenn im Herzen | Der Selbstsucht Ungeheuer lauschend grins’t. | Die Tat allein beweis’t der Liebe Kraft. | Indem ich dich gewinne, soll ich allem | Entsagen, deinem Blick sogar! Ich will’s.
[Goethe, Johann Wolfgang: Die natürliche Tochter. Trauerspiel. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 6.1: Weimarer Klassik. 1798-1806 (1). Herausgegeben von Victor Lange. München – Wien 1986, S. 241-326, hier S. 326.]
Nach seinem Sinne leben ist gemein, | Der Edle strebt nach Ordnung und Gesetz.
[Goethe, Johann Wolfgang: [Paralipomenon zu Die natürliche Tochter]. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 6.1: Weimarer Klassik. 1798-1806 (1). Herausgegeben von Victor Lange. München – Wien 1986, S. 942.]
Wenn es nun problematisch erscheinen mag, daß Goethe in seiner Farbenlehre nicht gut Widersprüche vertragen konnte, während er bei seinen poetischen Werken sich immer durchaus läßlich erwies und jede gegründete Einwendung mit Dank aufnahm, so löset sich vielleicht das Rätsel, wenn man bedenkt, daß ihm, als Poet, von außen her die völligste Genugtuung zu Teil ward, während er bei der Farbenlehre, diesem größten und schwierigsten aller seiner Werke, nichts als Tadel und Mißbilligung zu erfahren hatte. […] | Es ging ihm in Bezug auf seine Farbenlehre, wie einer guten Mutter, die ein vortreffliches Kind nur desto mehr liebt, je weniger es von Andern erkannt wird. | »Auf alles, was ich als Poet geleistet habe«, pflegte er wiederholt zu sagen, »bilde ich mir gar nichts ein. Es haben treffliche Dichter mit mir gelebt, es lebten noch trefflichere vor mir, und es werden ihrer nach mir sein. Daß ich aber in meinem Jahrhundert in der schwierigen Wissenschaft der Farbenlehre der einzige bin, der das Rechte weiß, darauf tue ich mir etwas zugute, und ich habe daher ein Bewußtsein der Superiorität über viele«.
[Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Herausgegeben von Heinz Schlaffer. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 19. München – Wien 1986, S. 296f.]
Ich schrieb zu gleicher Zeit einen Aufsatz über Kunst, Manier, und Styl, einen andern die Metamorphose der Pflanzen zu erklären, und das römische Carneval<;> sie zeigen sämtlich was damals in meinem Innern vorging, und welche Stellung ich gegen jene drei Weltgegenden genommen hatte. Der Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären, das heißt die mannigfaltigen, besondern Erscheinungen des herrlichen Weltgartens auf ein allgemeines, einfaches Prinzip zurückzuführen, war zuerst abgeschlossen.
[Goethe, Johann Wolfgang: Zur Morphologie. Von Goethe. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 12: Zur Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie. Erfahrung, Betrachtung, Folgerung, durch Lebensereignisse verbunden. Herausgegeben von Hans J. Becker, Gerhard H. Müller, John Neubauer und Peter Schmidt. München – Wien 1989, S. 9-384, hier S. 69f.]
Der gleichsam zu Asche verbrannte Boden machte das Gehen sehr beschwerlich, da man die Hitze selbst durch die Stiefel hindurch spürte; man konnte deshalb nirgendwo stillstehen, sondern mußte unablässig abwechselnd die Füße heben. | In dieser Haltung führten wir an besagtem rauchenden Felsen einen Versuch mit einigen weißen Papierstückchen durch: das in die Ritzen gesteckte Papier entzündete sich tatsächlich nicht, sondern wurde nur schwarz, und ähnlich wie bei einem Kessel mit kochendem Wasser stieg unter Grollen und Brummen sehr viel Rauch auf.
[Goethe, Johann Caspar: Reise durch Italien im Jahre 1740 (Viaggio per l’Italia). Herausgegeben von der Deutsch-Italienischen Vereinigung, Frankfurt am Main. Übersetzt und kommentiert von Albert Meier. München 1986, S. 198f.]
Es ist mir ein köstliches Vergnügen geworden, ich habe eine anatomische Entdeckung gemacht, die wichtig und schön ist. […] Ich habe eine solche Freude, daß sich mir alle Eingeweide bewegen.
[Goethe, Johann Wolfgang: An Charlotte von Stein, 27. 3. 1784. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Hartmut Reinhard. Band 2: Erstes Weimarer Jahrzehnt. 1775-1786. Frankfurt am Main 1997, S. 504.]
Bei Tierschädeln fällt es gar leicht in die Augen, daß die obere Kinnlade aus mehr als einem paar Knochen bestehet. […] | Dieser vorderen Abteilung der oberen Kinnlade ist der Name Os intermaxillare gegeben worden. Die Alten kannten schon diesen Knochen und neuerdings ist er besonders merkwürdig geworden, da man ihn als ein Unterscheidungszeichen zwischen dem Affen und Menschen angegeben. Man hat ihn jenem Geschlechte zugeschrieben, diesem abgeleugnet, und wenn in natürlichen Dingen nicht der Augenschein überwiese, so würde ich schüchtern sein aufzutreten und zu sagen, daß sich diese Knochenabteilung gleichfalls bei dem Menschen finde.
[Goethe, Johann Wolfgang: Dem Menschen wie den Tieren ist ein Zwischenknochen der obern Kinnlade zuzuschreiben. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 2.2: Erstes Weimarer Jahrzehnt. 1775-1786 (2). Herausgegeben von Hannelore Schlaffer, Hans J. Becker und Gerhard H. Müller. München – Wien 1987, S. 530-545, hier S. 530.]
Man nehme den Schädel eines Kindes, oder Embryonen vor sich, so wird man sehen wie die keimenden Zähne einen solchen Drang an diesen Teilen verursachen und die Beinhäutchen so spannen, daß die Natur alle Kräfte anwenden muß, um diese Teile auf das innigste zu verweben. Man halte einen Tierschädel dagegen, wo die Schneidezähne so weit vorwärts gerückt sind und der Drang sowohl gegeneinander als gegen den Hundszahn nicht so stark ist.
[Goethe, Johann Wolfgang: Dem Menschen wie den Tieren ist ein Zwischenknochen der obern Kinnlade zuzuschreiben. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 2.2: Erstes Weimarer Jahrzehnt. 1775-1786 (2). Herausgegeben von Hannelore Schlaffer, Hans J. Becker und Gerhard H. Müller. München – Wien 1987, S. 530-545, hier S. 543f.]
Hier schicke ich dir endlich die Abhandlung aus dem Knochenreiche, und bitte um deine Gedancken drüber. Ich habe mich enthalten das Resultat, worauf schon Herder in seinen Ideen deutet, schon ietzo mercken zu lassen, daß man nämlich den Unterschied des Menschen vom Thier in nichts einzelnem finden könne. Vielmehr ist der Mensch aufs nächste mit den Tieren verwandt. Die Übereinstimmung des Ganzen macht ein iedes Geschöpf zu dem was es ist, und der Mensch ist Mensch sogut durch die Gestalt und Natur des lezten Gliedes seiner kleinen Zehe Mensch. Und so ist wieder iede Creatur nur ein Ton eine Schattirung einer grosen Harmonie, die man auch im ganzen und grosen studiren muß sonst ist iedes Einzelne ein todter Buchstabe.
[Goethe, Johann Wolfgang: An Karl Ludwig Knebel, 17. 11. 1784. . In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Hartmut Reinhard. Band 2: Erstes Weimarer Jahrzehnt. 1775-1786. Frankfurt am Main 1997, S. 553f. hier: 553.]
Nach Anleitung des Evangelii muß ich Dich auf das eiligste mit meinem Glücke bekannt machen, das mir zugestoßen ist. Ich habe gefunden – weder Gold noch Silber, aber was mir eine unsägliche Freude macht – das Os intermaxillare am Menschen! Ich verglich mit Justus Christian Lodern Menschen- und Tierschädel, kam auf die Spur, und siehe, da ist es. Nur bitt ich Dich, laß Dir nichts merken, es muß geheim gehalten werden.
[Goethe, Johann Wolfgang: An Johann Gottfried Herder, 27. 3. 1784. . In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Hartmut Reinhard. Band 2: Erstes Weimarer Jahrzehnt. 1775-1786. Frankfurt am Main 1997, S. 504.]
Es ist also anatomisch und physiologisch wahr, daß durch die ganze belebte Schöpfung unsrer Erde das Analogon Einer Organisation herrsche; nur also, daß je entfernter vom Menschen, je mehr das Element des Lebens der Geschöpfe von ihm absteht, die sich immer gleiche Natur auch in ihren Organisationen das Hauptbild verlassen mußte. Je näher ihm, desto mehr zog sie Classen und Radien zusammen, um in seinem, dem heiligen Mittelpunkt der Erdeschöpfung was sie kann, zu vereinen. Freue dich deines Standes o Mensch und studiere dich, edles Mittelgeschöpf, in allem, was um dich lebet.
[Herder, Johann Gottfried: Werke. Herausgegeben von Wolfgang Proß. Band III/1: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Text. München – Wien 2002, S. 69.]
Sage Herdern daß ich dem Geheimniß der Pflanzenzeugung und Organisation ganz nah bin und daß es das einfachste ist was nur gedacht werden kann. Unter diesem Himmel kann man die schönsten Beobachtungen machen. Sage ihm daß ich den Haupt-punckt wo der Keim stickt ganz klar und zweifellos entdeckt habe, daß ich alles übrige auch schon im Ganzen übersehe und nur noch einige Punckte bestimmter werden müssen. Die Urpflanze wird das wunderlichste Geschöpf von der Welt über welches mich die Natur selbst beneiden soll. Mit diesem Modell und dem Schlüßel dazu, kann man alsdann noch Pflanzen ins unendliche erfinden, die konsequent seyn müßen, das heißt: die, wenn sie auch nicht existiren, doch existiren könnten und nicht etwa mahlerische oder dichterische Schatten und Scheine sind, sondern eine innerliche Wahrheit und Nothwendigkeit haben. Dasselbe Gesetz wird sich auf alles übrige lebendige anwenden laßen.
[Goethe, Johann Wolfgang: An Charlotte von Stein, 1.−8. 6. 1787. In: Johann Wolfgang Goethe. Briefe. 18. September 1786 – 10 Juni 1788. Band 7 I. Texte. Herausgegeben von Volker Giel. Berlin 2012, S. 154- 158, hier: S.157.]
Hier in dieser neu mir entgegen tretenden Mannichfaltigkeit wird jener Gedanke immer lebendiger: daß man sich alle Pflanzengestalten vielleicht aus Einer entwickeln könne.
[Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 15: Italienische Reise. Herausgegeben von Andreas Beyer und Norbert Miller. München – Wien 1992, S. 69.]
Heute früh ging ich mit dem festen, ruhigen Vorsatz, meine dichterischen Träume fortzusetzen, nach dem öffentlichen Garten, allein eh’ ich mich’s versah, erhaschte mich ein anderes Gespenst, das mir schon diese Tage nachgeschlichen. Die vielen Pflanzen, die ich sonst nur in Kübeln und Töpfen, ja die größte Zeit des Jahres nur hinter Glasfenstern zu sehen gewohnt war, stehen hier froh und frisch unter freiem Himmel, und indem sie ihre Bestimmung vollkommen erfüllen, werden sie uns deutlicher. Im Angesicht so vielerlei neuen und erneuten Gebildes fiel mir die alte Grille wieder ein, ob ich nicht unter dieser Schar die Urpflanze entdecken könnte. Eine solche muß es denn doch geben! Woran würde ich sonst erkennen, daß dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei, wenn sie nicht alle nach einem Muster gebildet wären?
[Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 15: Italienische Reise. Herausgegeben von Andreas Beyer und Norbert Miller. München – Wien 1992, S. 327.]
Vorwärts und rückwärts ist die Pflanze immer nur Blatt, mit dem künftigen Keime so unzertrennlich vereint, daß man eins ohne das andere nicht denken darf.
[Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 15: Italienische Reise. Herausgegeben von Andreas Beyer und Norbert Miller. München – Wien 1992, S. 456.]
[… die] geheime Verwandtschaft der verschiedenen äußern Pflanzenteile, als der Blätter, des Kelchs, der Krone, der Staubfäden, welche sich nach einander und gleichsam aus einander entwickeln.
[Goethe, Johann Wolfgang: Zur Morphologie. Von Goethe. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 12: Zur Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie. Erfahrung, Betrachtung, Folgerung, durch Lebensereignisse verbunden. Herausgegeben von Hans J. Becker, Gerhard H. Müller, John Neubauer und Peter Schmidt. München – Wien 1989, S. 9-384, hier S. 29.]
Dich verwirret, Geliebte, die tausendfältige Mischung | Dieses Blumengewühls über dem Garten umher; | Viele Namen hörest du an, und immer verdränget | Mit barbarischem Klang einer den andern im Ohr. | Alle Gestalten sind ähnlich, und keine gleichet der andern; | Und so deutet das Chor auf ein geheimes Gesetz, | Auf ein heiliges Rätsel. O, könnt’ ich dir, liebliche Freundin, | Überliefern sogleich glücklich das lösende Wort! | Werdend betrachte sie nun, wie nach und nach sich die Pflanze, | Stufenweise geführt, bildet zu Blüten und Frucht.
[Goethe, Johann Wolfgang: Die Metamorphose der Pflanzen. In: In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 6.1: Weimarer Klassik. 1798-1806 (1). Herausgegeben von Victor Lange. München – Wien 1986, S. 14-17, hier S. 14.]
O, gedenke denn auch, wie aus dem Keim der Bekanntschaft | Nach und nach in uns holde Gewohnheit entsproß, | Freundschaft sich mit Macht aus unserm Innern enthüllte, | Und wie Amor zuletzt Blüten und Früchte gezeugt. | Denke, wie mannigfach bald die, bald jene Gestalten, | Still entfaltend, Natur unsern Gefühlen geliehn! | Freue dich auch des heutigen Tags! Die heilige Liebe | Strebt zu der höchsten Frucht gleicher Gesinnungen auf, | Gleicher Ansicht der Dinge, damit in harmonischem Anschaun | Sich verbinde das Paar, finde die höhere Welt.
[Goethe, Johann Wolfgang: Die Metamorphose der Pflanzen. In: In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 6.1: Weimarer Klassik. 1798-1806 (1). Herausgegeben von Victor Lange. München – Wien 1986, S. 14-17, hier S. 16f.]
Als ich nämlich auf den Dünen des Lido, welche die venezianischen Lagunen von dem adriatischen Meere sondern, mich oftmals erging, fand ich einen so glücklich geborstenen Schafschädel, der mir nicht allein jene große früher von mir erkannte Wahrheit: die sämtlichen Schädelknochen seien aus verwandelten Wirbelknochen entstanden, abermals bestätigte, sondern auch den Übergang innerlich ungeformter organischer Massen, durch Ausschluß nach außen, zu fortschreitender Veredelung höchster Bildung und Entwicklung in die vorzüglichsten Sinneswerkzeuge vor Augen stellte […]
[Goethe, Johann Wolfgang: Tag- und Jahres-Hefte als Ergänzung meiner sonstigen Bekenntnisse. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 14: Autobiographische Schriften der frühen Zwanziger Jahre. Herausgegeben von Reiner Wild. München – Wien 1986, S. 7-323, hier S. 17.]
[…] ich war völlig überzeugt, ein allgemeiner, durch Metamorphose sich erhebender Typus gehe durch die sämtlichen organischen Geschöpfe durch, lasse sich in allen seinen Teilen auf gewissen mittlern Stufen gar wohl beobachten, und müsse auch noch da anerkannt werden, wenn er sich auf der höchsten Stufe der Menschheit in’s Verborgene bescheiden zurückzieht.
[Goethe, Johann Wolfgang: Tag- und Jahres-Hefte als Ergänzung meiner sonstigen Bekenntnisse. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 14: Autobiographische Schriften der frühen Zwanziger Jahre. Herausgegeben von Reiner Wild. München – Wien 1986, S. 7-323, hier S. 17.]
Durch den Umgang mit Künstlern von Jugend auf und durch eigene Bemühungen wurde ich auf den wichtigen Teil der Malerkunst, auf die Farbengebung, aufmerksam gemacht, besonders in den letzten Jahren, da die Seele ein lebhaftes freudiges Bild der harmonisch-farbigen Welt [Italien] unter einem reinen glücklichen Himmel empfing.
[Goethe, Johann Wolfgang: Beiträge zur Optik. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 4.2: Wirkungen der Französischen Revolution. 1791-1797 (2). Herausgegeben von Klaus H. Kiefer, Hans J. Becker, Gerhard H. Müller, John Neubauer und Peter Schmidt. München – Wien 1986, S. 264- 315, hier S. 270.]
Malerische Farbengebung war zu gleicher Zeit mein Augenmerk, und als ich auf die ersten physischen Elemente dieser Lehre zurückging, entdeckte ich zu meinem großen Erstaunen: die Newtonische Hypothese sei falsch und nicht zu halten. Genaueres Untersuchen bestätigte mir nur meine Überzeugung, und so war mir abermals eine Entwickelungskrankheit eingeimpft, die auf Leben und Tätigkeit den größten Einfluß haben sollte.
[Goethe, Johann Wolfgang: Tag- und Jahres-Hefte als Ergänzung meiner sonstigen Bekenntnisse. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 14: Autobiographische Schriften der frühen Zwanziger Jahre. Herausgegeben von Reiner Wild. München – Wien 1986, S. 7-323, hier S. 16.]
Eben befand ich mich in einem völlig geweißten Zimmer; ich erwartete, als ich das Prisma vor die Augen nahm, eingedenk der Newtonischen Theorie, die ganze weiße Wand nach verschiedenen Stufen gefärbt, das von da ins Auge zurück-kehrende Licht in so viel farbige Lichter zersplittert zu sehen. | Aber wie verwundert war ich, als die durchs Prisma angeschaute weiße Wand nach wie vor weiß blieb, dass nur da, wo ein Dunkles dran stieß, sich eine mehr oder weniger entschiedene Farbe zeigte, dass zuletzt die Fensterstäbe am allerlebhaftesten farbig erschienen, indessen am lichtgrauen Himmel draußen keine Spur von Färbung zu sehen war. Es bedurfte keiner langen Überlegung, so erkannte ich, dass eine Grenze notwendig sei, um Farben hervorzubringen, und ich sprach wie durch einen Instinkt sogleich vor mich laut aus, dass die Newtonische Lehre falsch sei.
[Goethe, Johann Wolfgang: Konfession des Verfassers. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 10: Zur Farbenlehre. Herausgegeben von Peter Schmidt. München – Wien 1989, S. 902-919, hier S. 909f.]
Newton behauptet, in dem weißen farblosen Lichte überall, besonders aber in dem Sonnenlicht, seien mehrere verschiedenfarbige Lichter wirklich enthalten, deren Zusammensetzung das weiße Licht hervorbringe. Damit nun diese bunten Lichter zum Vorschein kommen sollen, setzt er dem weißen Licht gar mancherlei Bedingungen entgegen: vorzüglich brechende Mittel, welche das Licht von seiner Bahn ablenken; aber diese nicht in einfacher Vorrichtung. Es gibt den brechenden Mitteln allerlei Formen, den Raum, in dem er operiert, richtet er auf mannichfaltige Weise ein; er beschränkt das Licht durch kleine Öffnungen, durch winzige Spalten, und nachdem er es auf hunderterlei Art in die Enge gebracht, behauptet er, alle diese Bedingungen hätten keinen andern Einfluß, als die Eigenschaften, die Fertigkeiten des Lichts rege zu machen, so daß sein Inneres aufgeschlossen und sein Inhalt offenbart werde.
[Goethe, Johann Wolfgang: Anzeige und Übersicht des goethischen Werkes zur Farbenlehre. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 10: Zur Farbenlehre. Herausgegeben von Peter Schmidt. München – Wien 1989, S. 973-989, hier S. 980.]
Die Farben sind Taten des Lichts, Taten und Leiden.
[Goethe, Johann Wolfgang: Zur Farbenlehre. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 10: Zur Farbenlehre. Hrsg. von Peter Schmidt. München – Wien 1989, S. 9.]
Sollen wir sodann noch eine allgemeine Eigenschaft aussprechen, so sind die Farben durchaus als Halblichter, als Halbschatten anzusehen, weshalb sie denn auch, wenn sie zusammengemischt ihre spezifischen Eigenschaften wechselseitig aufheben, ein Schattiges, ein Graues hervorbringen.
[Goethe, Johann Wolfgang: Zur Farbenlehre. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 10: Zur Farbenlehre. Herausgegeben von Peter Schmidt. München – Wien 1989, S. 23.]
Gegenwärtig sagen wir nur so viel voraus, daß zur Erzeugung der Farbe Licht und Finsternis, Helles und Dunkles, oder, wenn man sich einer allgemeineren Formel bedienen will, Licht und Nichtlicht gefordert werde. Zunächst am Licht entsteht uns eine Farbe, die wir Gelb nennen, eine andere zunächst an der Finsternis, die wir mit dem Worte Blau bezeichnen. Diese beiden, wenn wir sie in ihrem reinsten Zustand dergestalt vermischen, daß sie sich völlig das Gleichgewicht halten, bringen eine Dritte hervor, welche wir Grün heißen. Jene beiden ersten Farben können aber auch jede an sich selbst eine neue Erscheinung hervorbringen, indem sie sich verdichten oder verdunkeln. Sie erhalten ein rötliches Ansehen, welches sich bis auf einen so hohen Grad steigern kann, daß man das ursprüngliche Blau und Gelb kaum darin mehr erkennen mag. Doch läßt sich das höchste und reine Rot, vorzüglich in physischen Fällen, dadurch hervorbringen, daß man die beiden Enden des Gelbroten und Blauroten vereinigt. Dieses ist die lebendige Ansicht der Farbenerscheinung und Erzeugung.
[Goethe, Johann Wolfgang: Zur Farbenlehre. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 10: Zur Farbenlehre. Herausgegeben von Peter Schmidt. München – Wien 1989, S. 22f.]
Je länger ich lebe jemehr freue ich mich meiner lichten Ketzerei, da die herrschende Kirche der dunklen Kammer, des kleinen Löchleins und, in der neuern Zeit, der kleinen Löchlein zu hunderten bedarf, um das Offenbarste zu verheimlichen und das Planste zu verwirren.
[Goethe, Johann Wolfgang: An Carl Friedrich Zelter, 1. 2. 1831. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Horst Fleig. Band 2: Erstes Weimarer Jahrzehnt. 1828-1832. Frankfurt am Main 1993, S. 364ff., hier: S. 366.]
Gelingt es uns nun, mit froher Anwendung möglichster Kraft und Geschickes, jene Bastille zu schleifen und einen freien Raum zu gewinnen; […]. | […] Denn kein aristokratischer Dünkel hat jemals mit solchem unerträglichen Übermute auf diejenigen herabgesehen, die nicht zu seiner Gilde gehörten, als die Newtonische Schule von jeher über alles abgesprochen hat, was vor ihr geleistet war und neben ihr geleistet ward.
[Goethe, Johann Wolfgang: Zur Farbenlehre. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 10: Zur Farbenlehre. Herausgegeben von Peter Schmidt. München – Wien 1989, S. 13.]
Was die eigentlichen Newtonianer betrifft, so sind sie im Fall der alten Preußen im Oktober 1806. Sie glaubten noch taktisch zu siegen, da sie strategisch lange überwunden waren. Wenn ihnen einmal die Augen aufgehen, werden sie erschrecken, daß ich schon in Naumburg und Leipzig bin, mittlerweile sie noch bei Weimar und Blankenhan herumkröpeln. Jene Schlacht war schon vorher verloren, und so ist es hier auch. Jene Lehre ist schon ausgelöscht, indem die Herren noch glauben, ihren Gegner verachten zu dürfen. Verzeihen Sie mir das Großtun, ich schäme mich dessen so wenig als die Herren sich ihres Kleintuns.
[Goethe, Johann Wolfgang: An Carl Friedrich Zelter, 28. 2. 1811. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 20.1 (Text 1799–1827): Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1799 bis 1832. Herausgegeben von Hans-Günter Ottenberg und Edith Zehm in Zusammenarbeit mit Anita Golz, Jürgen Gruß, Wolfgang Ritschel und Sabine Schäfer. München – Wien 1991, S. 247- 252, hier S. 249.]
Wir bilden uns also keinesweges ein, zu beweisen, daß Newton unrecht habe; denn jeder Atomistisch-gesinnte, jeder am Hergebrachten Festhaltende, jeder vor einem großen alten Namen mit heiliger Scheu Zurücktretende, jeder Bequeme wird viel lieber die erste Proposition Newtons wiederholen, darauf schwören, versichern, daß alles erwiesen und bewiesen sei und unsere Bemühungen verwünschen.
[Goethe, Johann Wolfgang: Zur Farbenlehre. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 10: Zur Farbenlehre. Herausgegeben von Peter Schmidt. München – Wien 1989, S. 288.]
[…] wir können uns aber doch nicht enthalten, zu behaupten, daß sich durch Erfahrungen und Versuche eigentlich nichts beweisen läßt. Die Phänomene lassen sich sehr genau beobachten, die Versuche lassen sich reinlich anstellen, man kann Erfahrungen und Versuche in einer gewissen Ordnung aufführen, man kann eine Erscheinung aus der andern ableiten, man kann einen gewissen Kreis des Wissens darstellen, man kann seine Anschauungen zur Gewißheit und Vollständigkeit erheben, und das, dächte ich, wäre schon genug. Folgerungen hingegen zieht jeder für sich daraus; beweisen läßt sich nichts dadurch, besonders keine Ibilitäten und Keiten. Alles, was Meinungen über die Dinge sind, gehört dem Individuum an, und wir wissen nur zu sehr, daß die Überzeugung nicht von der Einsicht, sondern von dem Willen abhängt; daß Niemand etwas begreift, als was ihm gemäß ist und was er deswegen zugeben mag. Im Wissen wie im Handeln entscheidet das Vorurteil alles, und das Vorurteil wie sein Name wohl bezeichnet, ist ein Urteil vor der Untersuchung. Es ist eine Bejahung oder Verneinung dessen, was unsre Natur anspricht oder ihr widerspricht; es ist ein freudiger Trieb unsres lebendigen Wesens nach dem Wahren wie nach dem Falschen, nach allem was wir mit uns im Einklang fühlen.
[Goethe, Johann Wolfgang: Zur Farbenlehre. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 10: Zur Farbenlehre. Herausgegeben von Peter Schmidt. München – Wien 1989, S. 287f.]
Denn das bloße Anblicken einer Sache kann uns nicht fördern. Jedes Ansehen geht über in ein Betrachten, jedes Betrachten in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein Verknüpfen, und so kann man sagen, daß wir schon bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt theoretisieren. Dieses aber mit Bewußtsein, mit Selbstkenntnis, mit Freiheit, und um uns eines gewagten Wortes zu bedienen, mit Ironie zu tun und vorzunehmen, eine solche Gewandtheit ist nötig, wenn die Abstraktion, vor der wir uns fürchten, unschädlich, und das Erfahrungsresultat, das wir hoffen, recht lebendig und nützlich werden soll.
[Goethe, Johann Wolfgang: Zur Farbenlehre. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 10: Zur Farbenlehre. Herausgegeben von Peter Schmidt. München – Wien 1989, S. 11.]
[…] nirgends wollte man zugeben, daß Wissenschaft und Poesie vereinbar seien. Man vergaß daß Wissenschaft sich aus Poesie entwickelt habe, man bedachte nicht daß, nach einem Umschwung von Zeiten, beide sich wieder freundlich, zu beiderseitigem Vorteil, auf höherer Stelle, gar wohl wieder begegnen könnten.
[Goethe, Johann Wolfgang: Zur Morphologie. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 12: Zur Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie. Erfahrung, Betrachtung, Folgerung, durch Lebensereignisse verbunden. Herausgegeben von Hans J. Becker, Gerhard H. Müller, John Neubauer und Peter Schmidt. München – Wien 1989, S. 9-384, hier S. 74.]