Vorlesung: Die Literatur des 19. Jahrhunderts (SoSe 2016)
Prof. Dr. Albert Meier

Die Literatur des 19. Jahrhunderts – Einführung

Der literarische ›Realismus‹ im 19. Jahrhundert ist nicht als Bruch mit der Romantik zu verstehen, sondern als deren Weiterentwicklung unter erschwerten Bedingungen. Auch für den Realismus steht die Idealisierung bzw. Ästhetisierung der Wirklichkeit im Vordergrund: Es geht in ständiger Weiterentwicklung um die Literarisierung immer neuer Lebensbereiche (Armut, Krankheit etc.), die zuvor als nicht kunstfähig gegolten hatten, um selbst trivialen, banalen oder sogar abstoßenden Themen in der Poetisierung einen ästhetischen Reiz abzugewinnen.

Von der Frühromantik bis zum Realismus und Naturalismus

Entscheidend ist dabei die frühromantische Erkenntnis, dass Sprache aufgrund der Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem die Wirklichkeit nie vollständig erfassen kann, weshalb jeder Versuch einer tatsächlichen Natur-Nachahmung (›Mimesis‹) von vornherein scheitern muss. Aus diesem Grund proklamiert bereits Novalis: »Ja keine Nachahmung der Natur. Die Poësie ist durchaus das Gegentheil.« Demzufolge fordert Novalis eine ›Romantisierung‹ der Lebenswelt, die entweder durch ›Potenzierung‹ des Gewöhnlichen (= fantastische ›Erhöhung‹ der Realität) oder durch das gegenteilige Verfahren einer ›Logarithmisierung‹ des Geistigen (= ›Erniedrigung‹ des Hohen) zu leisten ist. In diesem Zusammenhang lassen sich Realismus und Naturalismus als immer striktere Versuche literarischer Logarithmisierung verstehen: Ein höherer, geistiger Sinn wird in einfacher, wirklichkeitskonformer Gestalt zum Ausdruck gebracht.

Ästhetisierung des Hässlichen

Folgerichtig öffnet sich die europäische Literatur im Laufe des 19. Jahrhunderts immer mehr für das Hässliche und schöpft dessen ästhetisches Potenzial aus. Deutliche Ansätze zu dieser Tendenz sind bereits während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu beobachten: In Laokoon (1766) hat Lessing der Poesie die Fähigkeit zugeschrieben, im Gegensatz zur ganz auf Schönheit verpflichteten Malerei und Bildhauerei auch das Hässliche nutzen zu können. Als Gipfelpunkt dieser Entwicklung kann 1870 Arthur Rimbauds Sonett Vénus Anadyomène (›Schaumgeborene Venus‹) gelten, dessen abstoßende Darstellung der schaumgeborenen Venus als sarkastische Parodie auf das bildungsbürgerliche Schönheitsideal zu lesen ist.

Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Herausgegeben von Paul Kluckhohn (†) und Richard Samuel. Zweite, nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Auflage in vier Bänden und einem Begleitband. Vierter Band: Tagebücher, Briefwechsel, Zeitgenössische Zeugnisse. Herausgegeben von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. Mit einem Anhang Bibliographische Notizen und Bücherlisten bearbeitet von Dirk Schröder. Stuttgart 1975, S. 327.

Friedrich Schiller: Die Braut von Messina (1803)

»Die Einführung des Chors wäre der letzte, der entscheidende Schritt − und wenn derselbe auch nur dazu diente, dem Naturalism in der Kunst offen und ehrlich den Krieg zu erklären, so sollte er uns eine lebendige Mauer sein, die die Tragödie um sich herumzieht, um sich von der wirklichen Welt rein abzuschließen, und sich ihren idealen Boden, ihre poetische Freiheit zu bewahren.«

[Schiller, Friedrich: Die Braut von Messina oder Die feindlichen Brüder. Ein Trauerspiel mit Chören. Herausgegeben von Matthias Luserke. Stuttgart 1996 (rub 60), S. 10.]


Arno Holz: Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze. (1891)

»Kunst = Natur – x.«3

[Holz, Arno: Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze. In: Arno Holz: Werke. Herausgegeben von Walter Emrich und Anita Holz. Band 5: Das Buch der Zeit. Dafnis. Kunsttheoretische Schriften. Berlin/Neuwied am Rhein 1962, S. 3-46, hier S. 14.]


Novalis (Friedrich von Hadenberg): Fragment Nr. 105 (1798)

»Die Welt muß romantisirt werden. So findet man den urspr[ünglichen] Sinn wieder. Romantisiren ist nichts, als eine qualit[ative] Potenzirung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation identificirt. So wie wir selbst eine solche qualit[ative] Potenzreihe sind. Diese Operation ist noch ganz unbekannt. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisire ich es – Umgekehrt ist die Operation für das Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche – dies wird durch diese Verknüpfung logarythmisirt – Es bekommt einen geläufigen Ausdruck. romantische Philosophie. Lingua romana. Wechselerhöhung und Erniedrigung.«

[Novalis. Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Herausgegeben von Paul Kluckhohn (†) und Richard Samuel. Zweite, nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Auflage in vier Bänden und einem Begleitband. Zweiter Band: Das philosophische Werk I. Herausgegeben von Richard Samuel in Zusammenarbeit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. Stuttgart 1965, hier S. 545.]


Novalis: Monolog (1798)

»Es ist eigentlich um das Sprechen und Schreiben eine närrische Sache; das rechte Gespräch ist ein bloßes Wortspiel. Der lächerliche Irrthum ist nur zu bewundern, daß die Leute meinen – sie sprächen um den Dinge wegen. Gerade das Eigenthümliche der Sprache, daß sie sich blos um sich selbst bekümmert, weiß keiner.«

[Novalis: Monolog. In: Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Herausgegeben von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. Band 2: Das philosophisch-theoretische Werk. Herausgegeben von Hans-Joachim Mähl. München –Wien 1978, S. 438f. hier S. 438.]


Friedrich von Hardenberg (Novalis) an den Bruder Karl, Ende März 1800

»Ja keine Nachahmung der Natur. Die Poësie ist durchaus das Gegentheil.«

[Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Herausgegeben von Paul Kluckhohn (†) und Richard Samuel. Zweite, nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Auflage in vier Bänden und einem Begleitband. Vierter Band: Tagebücher, Briefwechsel, Zeitgenössische Zeugnisse. Herausgegeben von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. Mit einem Anhang Bibliographische Notizen und Bücherlisten bearbeitet von Dirk Schröder. Stuttgart 1975, S. 327.]


Gustave Flaubert an Iwan Turgenjew, 8. 12. 1877

»La Réalité, selon moi, ne doit être qu’un tremplin.«

[Die Realität darf, meines Erachtens, nichts sein als ein Sprungbrett.]

[Flaubert, Gustave: Correspondance. Choix et présentation de Bernard Masson. Texte établi par Jean Bruneau. [Paris] 1975, S. 705.]


Hoffmann, E.T.A.: Die Serapionsbrüder (1819-21)

»Ich meine, daß die Basis der Himmelsleiter, auf der man hinaufsteigen will in höhere Regionen, befestigt sein müsse im Leben, so daß jeder nachzusteigen vermag.«

[Hoffmann, E.T.A.: Die Serapionsbrüder. Gesammelte Erzählungen und Märchen. Herausgegeben von E.T.A. Hoffmann. II. Textrevision und Anmerkungen von Hans-Joachim Kruse. Berlin und Weimar 1978, S. 111.]


Rimbaud, Arthur: Une saison en enfer (1873)

»Il faut être absolument moderne.«

[Rimbaud, Arthur: Œuvres complètes. Édition établie, présentée et annotée par Antoine Adam. [Pa-ris] 1972 (Bibliothèque de la Pléiade 68), S. 91-117, hier S. 116.]


Hugo von Hofmannsthal: Poesie und Leben (1896)

»Es führt von der Poesie kein direkter Weg ins Leben, aus dem Leben keiner in die Poesie. Das Wort als Träger eines Lebensinhaltes und das traumhafte Bruderwort, welches in einem Gedicht stehen kann, streben auseinander und schweben fremd aneinander vorüber, wie die beiden Eimer eines Brunnens.«

[Hofmannsthal, Hugo von: Poesie und Leben. In: Hofmannsthal, Hugo von: Der Brief des Lord Chandos. Schriften zur Literatur, Kunst und Geschichte. Herausgegeben von Mathias Mayer. Stuttgart 2000, S. 36-44, hier S. 39.]


»[…] daß das Material der Poesie die Worte sind, daß ein Gedicht ein gewichtloses Gewebe aus Worten ist, die durch ihre Anordnung, ihren Klang und ihren Inhalt, indem sie die Erinnerung an Sichtbares und die Erinnerung an Hörbares mit dem Element der Bewegung verbinden, einen genau umschriebenen, traumhaft deutlichen, flüchtigen Seelenzustand hervorrufen, den wir Stimmung nennen.«

[Hofmannsthal: Poesie und Leben (Anm. 10), S. 39.]


Victor Hugo: Préface à Cromwell (1827)

»Le beau n’a qu’un type; le laid en a mille«

[Das Schöne hat immer nur eine einzige Art, das Hässliche tausenderlei.]

[Hugo, Victor: Préface [zu Cromwell]. In: Hugo, Victor: Théâtre complet I. Préface par Roland Purnal. Èdition établie et annotée par J.- J. Thierry et Josette Mélèze. [Paris] 1963 (Biblio-thèque de la Pléiade 166), S. 409-454, hier S. 420.]


»Le christianisme amène la poésie à la vérité. Comme lui, la muse moderne verra les choses d’un coup d’œil plus haut et plus large. Elle sentira que tout dans la création n’est pas humainement beau, que le laid y existe à côté du beau, le difforme près du gracieux, le grotesque au revers du sublime, le mal avec le bien, l’ombre avec la lumière.«

[Das Christentum führt die Poesie zur Wahrheit. In gleicher Weise schaut die moderne Muse von einem höheren und weiteren Blickwinkel aus auf die Dinge. Sie wird merken, dass nicht alles in der Schöpfung auf menschliche Weise schön ist, dass das Hässliche neben dem Schönen vorkommt, das Missgestaltete beim Anmutigen, das Groteske als Kehrseite des Erhabenen, das Böse mit dem Guten, der Schatten mit dem Licht.]

[Hugo: Préface (Anm. 12), S. 416.]


Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon (1766)

»Eben weil die Häßlichkeit in der Schilderung des Dichters zu einer minder widerwärtigen Erscheinung körperlicher Unvollkommenheiten wird, und gleichsam von der Seite ihrer Wirkung, Häßlichkeit zu sein aufhöret, wird sie dem Dichter brauchbar; und was er vor sich selbst nicht nutzen kann, nutzt er als ein Ingrediens, um geweisse vermischte Empfindungen hervorzubringen und zu verstärken, mit welchen er uns, in Ermangelung reinangenehmer Empfindungen, unterhalten muß.«

[Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: Lessing, Gotthold Ephraim: Werke. In Zusammenarbeit mit Karl Eibl u. a. herausgegeben von Herbert G. Göpfert. Sechster Band: Kunsttheoretische und kunsthistorische Schriften. [Bearbeiter: Albert von Schirnding]. München 1974, S. 7-187, hier S. 148f.]


Schlegel, Friedrich: Über das Studium der griechischen Poesie (1795-1796)

»[Das Schöne] ist so wenig das herrschende Prinzip der modernen Poesie, daß viele ihrer trefflichsten Werke ganz offenbar Darstellungen des Häßlichen sind, und man wird es wohl endlich, wenngleich ungern, eingestehen müssen, daß es eine Darstellung der Verwirrung in höchster Fülle, der Verzweiflung im Überfluß aller Kräfte gibt, welche eine gleiche wo nicht eine höhere Schöpferkraft und künstlerische Weisheit erfordert, wie die Darstellung der Fülle und Kraft in vollständiger Übereinstimmung.«

[Schlegel, Friedrich: Über das Studium der griechischen Poesie [1795-1796]. In: Schlegel, Friedrich: Studien des klassischen Altertums. Eingeleitet und herausgegeben von Ernst Behler. Paderborn – München – Wien – Zürich 1979 (Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe 1), S. 217-367, hier S. 219.]


Arthur Rimbaud: Vénus Anadyomène (1870)

»Comme d’un cercueil vert en fer blanc, une tête
De femme à cheveux bruns fortement pommadés
D’une vieille baignoire émerge, lente et bête,
Avec des déficits assez mal ravaudés ;
Puis le col gras et gris, les larges omoplates
Qui saillent ; le dos court qui rentre et qui ressort ;
Puis les rondeurs des reins semblent prendre l’essor ;
La graisse sous la peau paraît en feuilles plates ;
L’échine est un peu rouge, et le tout sent un goût
Horrible étrangement ; on remarque surtout
Des singularités qu’il faut voir à la loupe…
Les reins portent deux mots gravés : Clara Venus ;
– Et tout ce corps remue et tend sa large croupe
Belle hideusement d’un ulcère à l’anus.«

[Rimbaud, Arthur: Vénus Anadyomène. In: Rimbaud, Arthur: Œuvres complètes. Édition établie, présentée et annotée par Antoine Adam. [Paris] 1972, S. 22.]


»Wie aus ‘nem Weißblechsarg erscheint ein Frauenkopf,
Die braunen Haare dick pomadisiert,
Aus alter Badewanne, träge, dumpf, es tropft,
Die Defizite sind nur mäßig renoviert.
Dann – feist und grau – der Hals, weit klaffen Schulterblätter,
Der kurze Rücken hebt sich, beugt sich wieder vor;
Dann schwingen Lendenwülste sich wie zum Flug empor;
Das Fett unter der Haut erscheint wie flachgeplättet;
Das Rückgrat ist leicht rot, vom Ganzen schwelt ein Duft
Befremdend fürchterlich; doch man bemerkt mit Lust
Die Einzelheiten dort, die nur die Lupe findet …
Und CLARA VENUS ist den Lenden eingraviert;
– Der ganze Leib bewegt sich, spannt den breiten Hintern
Und scheußlich schön erscheint am After ein Geschwür.«

[Aus dem Französischen von Eric Boerner. http://home.arcor.de/berick/illeguan/rimbaud1.htm (Stand: 22.04.2016)]