Vorlesung: Die Literatur des 19. Jahrhunderts (SoSe 2016)
Prof. Dr. Albert Meier
Adalbert Stifter / Theodor Storm
Realistisches Erzählen
Im Realismus des 19. Jahrhunderts wird das »Uninteressante interessant« gemacht. Realistisches Erzählen zeichnet sich dabei zum einen durch zeitlich-räumlichen Gegenwartsbezug und Realitätskompatibilität aus, d. h. die Handlung unterliegt stets demselben Gesetz der Kausalität wie die Lebenswirklichkeit. Zum anderen werden die an sich alltäglichen Geschichten symbolisch aufgeladen und auf diese Weise durch ihre ästhetische Stilisierung poetisiert. Hieran wird deutlich, dass es sich beim Realismus um eine Fortsetzung der Romantik unter ›erschwerten Bedingungen‹ handelt (aufgrund des programmatischen Verzichts auf ›Wunderbares‹).
Daneben zeichnet sich der deutsche Realismus (im Unterschied vor allem zum französischen) durch ›Verklärung‹ bzw. ›Humor‹ aus (die Geschichten enden in der Regel versöhnlich). Ein weiteres formales Charakteristikum ist die Rahmung, in die Prosaerzählungen des Realismus zumeist eingebettet sind; die damit verbundene Unterscheidung des Erzählens vom Erzählten (Selbstreflexivität) relativiert die jeweilige histoire und stellt zugleich den Eigenwert des artifiziell organisierten Textes als Kunstwerk heraus.
Ein Beispiel für den Gegenwartsbezug und das Kausalitätsprinzip ist das realistische ›Märchen‹ Des Lebens Überfluß (1839) von Ludwig Tieck. Dessen glückliches Ende ist zwar evident unwahrscheinlich (und in der Lebenswelt insofern undenkbar), aber ebenso kausal motiviert (und insofern doch wiederum realitätskonform).
Theodor Storm: Immensee (1849/51)
Die ›Novelle‹ zeigt in der Rahmenhandlung den Protagonisten Reinhardt im ›Herbst‹ seines Lebens; in der episodisch (mit Zeitsprüngen) organisierten Binnengeschichte wird Reinhardts frühe Liebe zu Elisabeth erzählt. Auch wenn die Binnenhandlung scheinbar ›auktorial‹ in der 3. Person erzählt wird, muss man sie doch als Reinhardts Erinnerungen an Kindheit und Jugend wahrnehmen; weil die Erzählperspektive daher subjektiv und objektiv zugleich ist, können die mitgeteilten Informationen nicht als unbedingt zuverlässig gelten.
Dass Elisabeth und Reinhardt einander nicht heiraten werden, macht die präzis kalkulierte Symbolik von Anfang an deutlich (ein besonders auffälliges Motiv ist die erfolglose Suche des jugendlichen Paars nach Erdbeeren). An dieser Arbeit mit Symbolik zeigt sich die Künstlichkeit bzw. Poetizität des Textes: Alle Motive sind realitätskompatibel, und doch schreibt ihnen die Erzählung einen höheren Sinn zu (auf welchem Dach ein Storch landet, hat in der empirischen Wirklichkeit keinerlei Bedeutung – in der Erzählung ist damit jedoch einen Zeichen-Funktion verbunden
Adalbert Stifter: Brigitta (1844/47)
Auch die Binnenhandlung von Adalbert Stifters Novelle Brigitta wird als Erinnerung des IchErzählers mitgeteilt. Eine saubere Trennung zwischen Rahmen- und Binnenerzählung ist hier jedoch kaum möglich, weil der Erzähler in seiner Jugend an den berichteten Ereignissen selbst teilgenommen hat und davon entscheidend beeinflusst worden ist.
In jungen Jahren hat der Erzähler am Vesuv die Bekanntschaft des ungarischen Majors Stephan Murai gemacht, der ihn zu einem Besuch auf seinem Landgut in der abgelegenen Puszta einlädt. Dort findet der Erzähler durch diskret-zurückhaltendes Beobachten (auf aufdringliches Fragen verzichtet er ausdrücklich) heraus, wie es sich mit seinem Gastgeber und der ein benachbartes Reform-Gut leitenden Brigitta verhält: Stephan Murai hat einst die ›hässliche‹ Brigitta ihrer moralischen Schönheit wegen geheiratet und mit ihr einen Sohn gehabt; weil Murai dann aber dem Reiz einer schönen ›Amazone‹ verfallen ist, hat sich Brigitta von ihm getrennt und begonnen, ein ungarisches Landgut zu kultivieren; Jahre später hat sich der Major in Brigittas Nachbarschaft angesiedelt, sich aber auf ein freundschaftlich-kollegiales Verhältnis zu seiner Gattin beschränkt. Erst der Angriff eines Wolfsrudels auf den gemeinsamen Sohn führt schließlich zur echten Versöhnung der Gatten, die der Erzähler seinerzeit miterlebt hat.
Ähnlich wie dem Ich-Erzähler erschließen sich die Hintergründe auch für die Leser nur nach und nach, so dass sie einen analogen Kultivierungsprozess durchlaufen wie der Erzähler selbst (insofern lässt sich Stifters Brigitta als pädagogische Erzählung begreifen). Zugleich handelt es sich bei der Novelle um eine poetologische Erzählung, da die unschöne Brigitta, deren innere Schönheit erst in der wahren Gattenliebe zum Ausdruck kommt, als Personifikation des Realismus-Programms zu verstehen ist: Das vermeintlich Reizlose erweist sich – recht betrachtet – als genuin poetisch.
Quellennachweis
Carl Spitzweg an den Bruder Eduard; Berchtesgaaden, 15. July 1836. In: Der unbekannte Spitzweg Eine Bild aus der Welt des Biedermeier. Dokumente. Briefe. Aufzeichnungen. Mitgeteilt von Wilhelm Spitzweg. München 1958, S. 7374, hier S. 74.
Zitate
Novalis: Fragment Nr. 105 (1798)
»Romantisiren ist nichts, als eine qualit[ative] Potenzirung. […] Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisire ich es […].«
[Novalis: Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen. 1798. In: Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Harden – bergs. Herausgegeben von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. München – Wien 1978, S. 311-424, hier S. 334.]
»Poésie = Gemütherregungskunst.«
[Novalis: Aus den Fragmenten und Studien. 1799/1800. In: Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Herausgegeben von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. München – Wien 1978, S. 751-848, hier S. 801.]
Carl Spitzweg an den Bruder Eduard; Berchtesgaaden, 15. July 1836
»Jede Linie mit Verstand, alles durchdacht, das Uninteressante interessant.«
[Carl Spitzweg an den Bruder Eduard (Anm. 1), S. 74.]
Friedrich Schlegel: Fragmente zur Poesie und Literatur (1804)
»Jedes Kunstwerk bringt d[en] Rahm[en] mit auf die Welt, muß die Kunst merken lassen.«
[Schlegel, Friedrich: Fragmente zur Poesie und Literatur. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Herausgegeben von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Sechzehnter Band. Erster Teil. Mit Einleitung und Kommentar herausgege – ben von Hans Eichner. München – Paderborn –Wien – Zürich 1981, S. 92.]
Conrad Ferdinand Meyer: Das Amulett (1873)
»Alte vergilbte Blätter liegen vor mir mit Aufzeichnungen aus dem Anfange des siebzahnten Jahrhunderts. | Ich übersetze sie in die Sprache unserer Zeit.«
[Meyer, Conrad Ferdinand: Das Amulett. In: Meyer, Conrad Ferdinand: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Vollständige Texte nach den Ausgaben letzter Hand. Mit Anmerkungen von Karl Pörnbacher. Band 1. München 1968, S. 7-61, hier S. 7.]
Gustave Flaubert an Louise Colet, 20. 9. 1851.
»J’ai commencé hier au soir mon roman [Madame Bovary]. J’entrevois maintenant des difficultés de style qui m’épouvantent. Ce n’est pas une petite affaire que d’être simple.«
[Gustave Flaubert an Louise Colet, 20. 9. 1851. In: Flaubert, Gustave: Correspondance. Choix et présentation de Bernard Masson. Texte établi par Jean Bruneau. [Paris] 1975, S. 148.]
Ludwig Tieck: Des Lebens Überfluss (1839)
»In einem der härtesten Winter war gegen Ende des Februar ein sonderbarer Tumult gewesen, über dessen Entstehung, Fortgang und Beruhigung die seltsamsten und widersprechendsten Gerüchte in der Residenz umliefen. Es ist natürlich, daß, wenn alle Menschen sprechen und erzählen wollen, ohne den Gegenstand ihrer Darstellung zu kennen, auch das Gewöhnliche die Farbe der Fabel annimmt.«
[Tieck, Ludwig: Des Lebens Überfluss. In: Tieck, Ludwig: Werke in vier Bänden. Nach dem Text der Schriften von 1828-1854, unter Berücksichtigung der Erstdrucke, herausgegeben sowie mit Nachworten und Anmerkungen versehen von Marianne Thalmann. Band III: Novellen. München 1965, S. 895-943, hier S. 895.]
»So phantasierten sie denn oft, daß jene trübseligen Feuermauern Felsen seien, einer wunderbaren Klippengegend der Schweiz, und nun betrachteten sie schwärmend die Wirkungen der Abendsonne, deren roter Schimmer an den Rissen zitterte, welche sich in dem Kalk oder rohen Stein gebildet hatten. Mit Sehnsucht konnten sie an solche Abende zurückdenken und sich dann aller der Gespräche erinnern, die sie geführt, der Gefühle, die sie gehabt, aller Scherze, die sie gewechselt hatten.«
[Tieck: Des Lebens Überfluss (Anm. 8), S. 917.]
»Alles war Freude. Den beiden Eheleuten war die Aussicht, wieder anständig und in behaglicher Wohlhabenheit zu leben, wie dem Kinde die Weihnachtsbescherung. Gern ließen sie die notgedrungene Philosophie der Armut fahren, deren Trost und Bitterkeit sie bis auf den letzten Tropfen ausgekostet hatten.«
[Tieck: Des Lebens Überfluss (Anm. 8), S. 942.]
Otto Ludwig: Volksroman – Volksliteratur (1860)
»Es liegt doch ein großer Zauber im Scheine der Wirklichkeit, und dieser scheint jetzt der herrschende. Es liegt wahrlich eine große Quantität Poesie auch in dem wirklichen Leben unsrer Zeit.«
[Ludwig, Otto: Volksroman – Volksliteratur. In: Ludwig, Otto: Romane und Romanstudien. Herausgegeben von William J. Lillyman. München 1977, S. 635-654, hier S. 646.]
Otto Ludwig: Dickens und die deutsche Dorfgeschichte (1860)
»Poesie der Wirklichkeit, die nackten Stellen des Lebens überblumend, die an sich poetischen nicht über die Wahrscheinlichkeit hinausgehoben.«
[Ludwig, Otto: Dickens und die deutsche Dorfgeschichte. In: Ludwig, Otto: Romane und Romanstudien. Herausgegeben von William J. Lillyman. München 1977, S. 545-551, hier S. 547.]
Otto Ludwig: Shakespeare-Studien (1871)
»Die Kunst soll nicht verarmte Wirklichkeit sein, vielmehr bereicherte; […]. Sie soll nicht eine halbe, sondern eine ganze Welt sein.«
[Ludwig, Otto: Shakespeare-Studien. Mit einem Vorbericht und sachlichen Erläuterungen von M. Heydrichs. 2. Auflage. Halle 1901, S. 302.]
Theodor Storm an Hartmuth und Laura Brinkmann, 21. 1. 1868
»›Novelle‹: […] überall ganz realistisch ausgeprägt, und dabei in der ganzen Durchführung doch durch den Drang nach Darstellung des Schönen u. Idealen getragen.«
[Theodor Storm an Hartmuth und Laura Brinkmann, 21. 1. 1868. In: Storm, Theodor: Briefe. Herausgegeben von Peter Goldammer. Band 1. 2., durchgesehene Auflage. Berlin/Weimar 1984, S. 518-521, hier S. 520. ]
Theodor Storm: Eine zurückgezogene Vorrede (1881)
»Die Novelle, wie sie sich in neuerer Zeit, besonders in den letzten Jahrzehnten, ausgebildet hat und jetzt in einzelnen Dichtungen in mehr oder minder vollendeter Durchführung vorliegt, eignet sich zur Aufnahme auch des bedeutendsten Inhalts, und es wird nur auf den Dichter ankommen, auch in dieser Form das Höchste der Poesie zu leisten. Sie ist nicht mehr, wie einst, ›die kurzgehaltene Darstellung einer durch ihre Ungewöhnlichkeit fesselnden und einen überraschenden Wendepunkt darbietenden Begebenheit‹; die heutige Novelle ist die Schwester des Dramas und die strengste Form der Prosadichtung. Gleich dem Drama behandelt sie die tiefsten Probleme des Menschenlebens; gleich diesem verlangt sie zu ihrer Vollendung einen im Mittelpunkte stehenden Konflikt, von welchem aus das Ganze sich organisiert, und demzufolge die geschlossenste Form und die Ausscheidung alles Unwesentlichen; sie duldet nicht nur, sie stellt auch die höchsten Forderungen der Kunst.«
[Storm, Theodor: [Eine zurückgezogene Vorrede] (1881). In: Storm, Theodor: Sämtliche Werke in vier Bänden. Herausgegeben von Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier. Band 4: Märchen / Kleine Prosa. Herausgegeben von Dieter Lohmeier. Frankfurt/M. 1988 (Bibliothek deutscher Klassiker 33), S. 408-410, hier S. 408f. ]
Theodor Storm: Immensee (1849/51)
»An einem Spätherbstnachmittage ging ein alter wohlgekleideter Mann langsam die Straße hinab. Er schien von einem Spaziergange nach Hause zurückzukehren; denn seine Schnallenschuhe, die einer vorübergegangenen Mode angehörten, waren bestäubt. Den langen Rohrstock mit goldenem Knopf trug er unter dem Arm; mit seinen dunklen Augen, in welche sich die ganze verlorene Jugend gerettet zu haben schien, und welche eigentümlich von den schneeweißen Haaren abstanden, sah er ruhig umher oder in die Stadt hinab, welche im Abendsonnendufte vor ihm lag. –«
[Storm, Theodor: Immensee. In: Storm, Theodor: Sämtliche Werke in vier Bänden. Herausgegeben von Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier. Band 1: Gedichte / Novellen 1848-1867. Herausgegeben von Dieter Lohmeier. Frankfurt/M. 1987 (Bibliothek deutscher Klassiker 19), S. 295-328-410, hier S. 295.]
»Wie er so saß, wurde es allmählich dunkler; endlich fiel ein Mond-strahl durch die Fensterscheiben auf die Gemälde an der Wand, und wie der helle Streif langsam weiter rückte, folgten die Augen des Mannes unwillkürlich. Nun trat er über ein kleines Bild in schlichtem schwarzen Rahmen. »Elisabeth!« sagte der Alte leise; und wie er das Wort gesprochen, war die Zeit verwandelt; er war in seiner Jugend.«
[Storm: Immensee (Anm. 16), S. 296.]
»Bald trat die anmutige Gestalt eines kleinen Mädchens zu ihm. Sie hieß Elisabeth und mochte fünf Jahre zählen; er selbst war doppelt so alt. Um den Hals trug sie ein rotseidenes Tüchelchen; das ließ ihr hübsch zu den braunen Augen.«
[Storm: Immensee (Anm. 16), S. 296.]
»Reinhardt hatte hier mit Elisabeths Hülfe ein Haus aus Rasenstücken aufgeführt; darin wollten sie die Sommerabende wohnen; aber es fehlte noch die Bank. Nun ging er gleich an die Arbeit; […] und als Reinhardt endlich trotz manches krumm geschlagenen Nagels seine Bank dennoch zu Stande gebracht hatte und nun wieder in die Sonne hinaustrat, ging sie schon weit davon am andern Ende der Wiese.«
[Storm: Immensee (Anm. 16), S. 296f.]
»›Komm, Elisabeth«, sagte Reinhardt, »ich weiß einen Erdbeerenschlag; Du sollst kein trockenes Brot essen.‹ […]
Dann gingen sie in den Wald hinein, tiefer und tiefer; durch feuchte undurchdringliche Baumschatten, wo Alles still war, nur unsichtbar über ihnen in den Lüften das Geschrei der Falken; […].
›Wo bleiben denn aber Deine Erdbeeren?‹ fragte sie endlich, indem sie stehen blieb und einen tiefen Atemzug tat.
›Hier haben sie gestanden‹, sagte er, ›aber die Kröten sind uns zuvorgekommen, oder die Marder, oder vielleicht die Elfen.‹
›Ja‹, sagte Elisabeth, ›die Blätter stehen noch da; aber sprich hier nicht von Elfen. Komm nur, ich bin noch gar nicht müde; wir wollen weiter suchen.‹
Vor ihnen war ein kleiner Bach, jenseits wieder der Wald. Reinhardt hob Elisabeth auf seine Arme und trug sie hinüber. Nach einer Weile traten sie aus dem schattigen Laube wieder in eine weite Lichtung hinaus. ›Hier müssen Erdbeeren sein‹, sagte das Mädchen, ›es duftet so süß.‹
Sie gingen suchend durch den sonnigen Raum; aber sie fanden keine. »Nein«, sagte Reinhardt, ›es ist nur der Duft des Heidekrautes.‹«
[Storm: Immensee (Anm. 16), S. 301f.]
»[…] ›Wollen wir Erdbeeren suchen?‹ fragte er.
›Es ist keine Erdbeerenzeit‹, sagte sie.
›Sie wird aber bald kommen.‹
Elisabeth schüttelte schweigend den Kopf; dann stand sie auf und beide setzten ihre Wanderung fort […].«
[Storm: Immensee (Anm. 16), S. 324.]
»Ein Storch flog vom Schornstein auf und kreiste langsam über dem Wasser. […] Der Storch hatte sich mittlerweile niedergelassen und spazierte gravitätisch zwischen den Gemüsebeeten umher. ›Holla!‹ rief Erich, in die Hände klatschend, »stiehlt mir der hochbeinige Ägypter schon wieder meine kurzen Erbsenstangen!« Der Vogel erhob sich langsam und flog auf das Dach eines neuen Gebäudes, das am Ende des Küchengartens lag und dessen Mauern mit aufgebundenen Pfirsichund Aprikosenbäumen überzweigt waren. »Das ist die Spritfabrik«, sagte Erich […].«
[Storm: Immensee (Anm. 16), S. 315f.]
»Während der Überfahrt ließ Elisabeth ihre Hand auf dem Rande des Kahnes ruhen. Er blickte beim Rudern zu ihr hinüber; sie aber sah an ihm vorbei in die Ferne. So glitt sein Blick herunter und blieb auf ihrer Hand; und diese blasse Hand verriet ihm, was ihr Antlitz ihm verschwiegen hatte. Er sah auf ihr jenen feinen Zug geheimen Schmerzes, der sich so gern schöner Frauenhände bemächtigt, die nachts auf krankem Herzen liegen. – Als Elisabeth sein Auge auf ihrer Hand ruhen fühlte, ließ sie sie langsam über Bord in’s Wasser gleiten.«
[Storm: Immensee (Anm. 16), S. 325.]
»Es war schon dunkler geworden; ein roter Abendschein lag wie Schaum auf den Wäldern jenseit des See’s. Reinhardt rollte das Blatt auf, Elisabeth legte an der einen Seite ihre Hand darauf und sah mit hinein. Dann las Reinhardt:
Meine Mutter hat’s gewollt,
Den Andern ich nehmen sollt’;
Was ich zuvor besessen,
Mein Herz sollt’ es vergessen;
Das hat es nicht gewollt.
Meine Mutter klag’ ich an,
Sie hat nicht wohlgetan;
Was sonst in Ehren stünde,
Nun ist es worden Sünde.
Was fang’ ich an!
Für all’ mein Stolz und Freud’
Gewonnen hab’ ich Leid.
Ach, wär’ das nicht geschehen,
Ach, könnt’ ich betteln gehen
Über die braune Heid!
Während des Lesens hatte Reinhardt ein unmerkliches Zittern des Papiers empfunden; als er zu Ende war, schob Elisabeth leise ihren Stuhl zurück und ging schweigend in den Garten hinab. Ein Blick der Mutter folgte ihr. Erich wollte nachgehen; doch die Mutter sagte: ›Elisabeth hat draußen zu tun.‹ So unterblieb es.«
[Storm: Immensee (Anm. 16), S. 321f.]
»Reinhardt hatte aber doch etwas gefunden; waren es keine Erdbeeren, so war es doch auch im Walde gewachsen. Als er nach Hause gekommen war, schrieb er in seinen alten Pergamentband:
Hier an der Bergeshalde
Verstummet ganz der Wind;
Die Zweige hängen nieder,
Darunter sitzt das Kind.
Sie sitzt in Thymiane,
Sie sitzt in lauter Duft;
Die blauen Fliegen summen
Und blitzen durch die Luft.
Es steht der Wald so schweigend,
Sie schaut so klug darein;
Um ihre braunen Locken
Hinfließt der Sonnenschein.
Der Kuckuck lacht von ferne,
Es geht mir durch den Sinn:
Sie hat die goldnen Augen
Der Waldeskönigin.«
[Storm: Immensee (Anm. 16), S. 303f.]
Adalbert Stifter: Brigitta (1944/47)
»Es liegt im menschlichen Geschlechte das wundervolle Ding der Schönheit. […] Oft wird die Schönheit nicht gesehen, weil sie in der Wüste ist, oder weil das rechte Auge nicht gekommen ist – oft wird sie angebetet und vergöttert, und ist nicht da: aber fehlen darf sie nirgends, wo ein Herz in Inbrunst und Entzücken schlägt, oder wo zwei Seelen an einander glühen; denn sonst steht das Herz stille, und die Liebe der Seelen ist tot.«
[Stifter, Adalbert: Brigitta. In: Stifter, Adalbert: Studien. Vollständige Ausgabe nach dem Text der zweiten Auflage (1847-1850). Mit einem Nachwort von Fritz Krökel. München 1950, S. 733-792, hier S. 765.]
»Es ist traurig für einen, der sie [die Schönheit] nicht hat, oder nicht kennt, oder an dem sie kein fremdes Auge finden kann. Selbst das Herz der Mutter wendet sich von dem Kinde ab, wenn sie nicht mehr, ob auch nur einen einzigen Schimmer dieses Strahles an ihm entdecken kann. | So war es mit dem Kinde Brigitta geschehen. Als es geboren ward, zeigte es sich nicht als der schöne Engel, als der das Kind gewöhnlich der Mutter erscheint. Später lag es in dem schönen goldenen Prunkbettchen in den schneeweißen Linnen mit einem nicht angenehm verdüsterten Gesichtchen, gleichsam als hätte es ein Dämon angehaucht.«
[Stifter: Brigitta (Anm. 26), S. 766.]
»Als die Mädchen in das Jungfrauenalter getreten waren, stand sie wie eine fremde Pflanze unter ihnen. Die Schwestern waren weich und schön geworden, sie bloß schlank und stark. […] | Wenn nur einer gewesen wäre, für die verhüllte Seele ein Auge zu haben, und ihre Schönheit zu sehen, daß sie sich nicht verachte. – Aber es war keiner: die andern konnten es nicht, und sie konnte es auch nicht.«
[Stifter: Brigitta (Anm. 26), S. 767f.]
»Daß ich nun einen Hausstand habe, daß ich eine liebe Gattin habe, für die ich wirke, daß ich nun Gut um Gut, Tat um Tat in unsern Kreis herein ziehe, verdanke ich dem Major. Als ich einmal ein Teil jenes einträchtigen Wirkens war, das er entfaltete, wollte ich doch die Sache so gut machen, als ich konnte, und da ich mich übte, machte ich sie immer besser, ich war nütze und achtete mich – und da ich die Süßigkeit des Schaffens kennen lernte, erkannte ich auch, um wie viel mehr wert sei, was ein gegenwärtig Gutes setzt, als das bisherige Hinschlendern, das ich Erfahrungen sammeln nannte, und ich gewöhnte mich an Tätigkeit.«
[Stifter: Brigitta (Anm. 26), S. 783f.]
»In dem Angesichte eines Häßlichen ist für uns oft eine innere Schönheit, die wir nicht auf der Stelle von seinem Werte herzuleiten vermögen, während uns oft die Züge eines andern kalt und leer sind, von denen alle sagen, daß sie die größte Schönheit besitzen. […] Da zuletzt sittliche Gründe vorhanden sind, die das Herz heraus fühlt, ist kein Zweifel, allein wir können sie nicht immer mit der Waage des Bewußtseins und der Rechnung hervor heben und anschauen. Die Seelenkunde hat manches beleuchtet und erklärt, aber vieles ist ihr dunkel und in großer Entfernung geblieben. Wir glauben daher, daß es nicht zu viel ist, wenn wir sagen, es sei für uns noch ein heiterer, unermeßlicher Abgrund, in dem Gott und die Geister wandeln. Die Seele in Augenblicken der Entzückung überfliegt ihn oft, die Dichtkunst in kindlicher Unbewußtheit lüftet ihn zuweilen; aber die Wissenschaft mit ihrem Hammer und Richtscheite steht häufig erst an dem Rande, und mag in vielen Fällen noch gar nicht einmal Hand angelegt haben.«
[Stifter: Brigitta (Anm. 26), S. 733.]
»Zu diesen Bemerkungen bin ich durch eine Begebenheit veranlaßt worden, die ich einmal in sehr jungen Jahren auf dem Gute eines alten Majors erlebte, da ich noch eine sehr große Wanderlust hatte, die mich bald hier, bald dort ein Stück in die Welt hinein trieb, weil ich noch weiß Gott was zu erleben und zu erforschen verhoffte.«
[Stifter: Brigitta (Anm. 26), S. 734.]
»Da es nun eben Frühling war, da ich neugierig war, sein Ziel kennen zu lernen, da ich eben nicht wußte, wo ich hin reisen sollte; beschloß ich, seiner Bitte nachzugeben und seiner Einladung zu folgen.«
[Stifter: Brigitta (Anm. 26), S. 734.]
»[…] auf einer Pußta, so prachtvoll und öde, als sie nur immer Ungarn aufzuweisen haben mag.«
[Stifter: Brigitta (Anm. 26), S. 734.]
»Ehe ich entwickle, wie wir nach Maroshely geritten sind, wie ich Brigitta kennen gelernt habe, und wie ich noch recht oft auf ihrem Gute gewesen bin, ist es nötig, daß ich einen Teil ihres früheren Lebens erzähle, ohne den das Folgende nicht verständlich wäre. Wie ich zu so tief gehender Kenntnis der Zustände, die hier geschildert werden, gelangen konnte, wird sich aus meinen Verhältnissen zu dem Major und zu Brigitta ergeben und am Ende dieser Geschichte von selbst klar werden, ohne daß ich nötig hätte, vor der Zeit zu enthüllen, was ich auch nicht vor der Zeit, sondern durch die natürliche Entwicklung der Dinge erfuhr.«
[Stifter: Brigitta (Anm. 26), S. 765.]
»Von einer unheimlichen Leidenschaft, von einem fieber-haften Begehren, oder gar von Magnetismus, wie ich gehört hatte, war keine Spur. Dagegen war das Verhältnis zwischen dem Major und Brigitta von ganz merkwürdiger Art, daß ich nie ein ähnliches erlebt habe. Es war ohne Widerrede das, was wir zwischen Personen verschiedenen Geschlechtes Liebe nennen würden, aber es erschien nicht als solches. Mit einer Zartheit, mit einer Verehrung, die wie an die Hinneigung zu einem höheren Wesen erinnerte, behandelte der Major das alternde Weib; sie war mit sichtlicher innerlicher Freude darüber erfüllt, und diese Freude, wie eine späte Blume, blühte auf ihrem Antlitze und legte einen Hauch von Schönheit darüber, wie man es kaum glauben sollte, aber auch die feste Rose der Heiterkeit und Gesundheit. Sie gab dem Freunde dieselbe Achtung und Verehrung zurück, nur daß sich zuweilen ein Zug von Besorgnis um seine Gesundheit, um seine kleinen Lebensbedürfnisse und dergleichen einmischte, der doch wieder dem Weibe und der Liebe angehörte. Über dieses hinaus ging das Benehmen beider nicht um ein Haar – und so lebten sie neben einander fort.«
[Stifter: Brigitta (Anm. 26), S. 784.]
»Ich ging gegen ihn und fragte ihn, was ihm sei. Er antwortete leise: ›Ich habe kein Kind.‹
Brigitta mußte mit ihrem scharfen Gehöre die Worte vernommen haben; denn sie erschien in diesem Augenblicke unter der Tür des Zimmers, sah sehr scheu auf meinen Freund, und mit einem Blicke, den ich nicht beschreiben kann, und der sich gleichsam in der zag-haftesten Angst nicht getraute, eine Bitte auszusprechen, sagte sie nichts als das einzige Wort: ›Stephan‹.
Der Major wendete sich vollends herum – beide starrten sich eine Sekunde an – nur eine Sekunde – dann aber vorwärts tretend lag er eines Sturzes in ihren Armen, die sich mit maßloser Heftigkeit um ihn schloßen. Ich hörte nichts als das tiefe, leise Schluchzen des Mannes, wobei das Weib ihn immer fester umschlang und immer fester an sich drückte.
›Nun keine Trennung mehr, Brigitta, für hier und die Ewigkeit.‹
›Keine, mein teurer Freund!‹
Ich war in höchster Verlegenheit und wollte stille hinaus gehen; aber sie hob ihr Haupt und sagte: ›Bleiben Sie, bleiben Sie.‹«
[Stifter: Brigitta (Anm. 26), S. 788f.]
»Das Weib, das ich immer ernst und strenge gesehen hatte, hatte an seinem Halse geweint. Nun hob sie, noch in Tränen schimmernd, die Augen – und so herrlich ist das Schönste, was der arme, fehlende Mensch hienieden vermag, das Verzeihen – daß mir ihre Züge wie in unnachahmlicher Schönheit strahlten und mein Gemüt in tiefer Rührung schwamm.«
[Stifter: Brigitta (Anm. 26), S. 789.]
»›Ich habe gefehlt, verzeihe mir, Stephan, die Sünde des Stolzes – ich habe nicht geahnt, wie gut du seist – es war ja bloß natürlich, es ist ein sanftes Gesetz der Schönheit, das uns ziehet.‹ – – Er hielt ihr den Mund zu, und sagte: ›Wie kannst du nur so reden, Brigitta – ja, es zieht uns das Gesetz der Schönheit, aber ich mußte die ganze Welt durch-ziehen, bis ich lernte, daß sie im Herzen liegt, und daß ich sie daheim gelassen in einem Herzen, das es einzig gut mit mir gemeint hat, das fest und treu ist, das ich verloren glaubte, und das doch durch alle Jahre und Länder mit mir gezogen. […]‹«
[Stifter: Brigitta (Anm. 26), S. 789.]
»Ich aber ging in den Garten hinaus und dachte: ›O wie heilig, o wie heilig muss die Gattenliebe sein, und wie arm bist du, der du von ihr bisher nichts erkanntest und das Herz nur höchstens von der trüben Lohe der Leidenschaft ergreifen ließest.‹ − −«
[Stifter: Brigitta (Anm. 26), S. 790.]
»Alles war nun gut.«
[Stifter: Brigitta (Anm. 26), S. 791]