Wolfram Humperdinck
Wolfram Humperdinck löste Hanns Schulz-Dornburg ab und war von 1941 bis 1945 Intendant am Kieler Theater.[1] Er führte es somit durch die späteren Kriegsjahre. Er wurde am 29. April 1893 geboren und lernte, wie sein Vater, in Bayreuth, wo er schon als Kind Proben und Aufführungen miterlebt und sich später selbst als Regieassistenz bei den Bayreuther Festspielen engagiert hatte. Humperdinck gelangte über viele Stationen als Oberspielleiter von Opern nach Leipzig, bevor er die Position des Generalintendanten in Kiel annahm.[2]
Wolfram Humperdinck
Theaterzettel Lohengrin 1942/43 (Theatergeschichtliche Sammlung, Kiel)
Wie bereits erwähnt, ist das Stadttheater zu Beginn von Humperdincks Intendanz in der Spielzeit 1941/42 aufgrund von Zerstörung nicht nutzbar, weshalb er zunächst mit nur einer Spielstätte auskommen muss.[3] Als jenes am 1. September 1942 wiedereröffnet wird, startet er mit einem breiten Wagner-Programm (u.a. Lohengrin) sowie Spielopern (z.B. Hänsel und Gretel) und klassischen Operetten. Währenddessen dominiert im Schauspiel das Lustspiel.[4]
Humperdincks Intendanz zeichnet sich insgesamt durch das nochmals gesteigerte Interesse der Regierung aus, die Bevölkerung vom Kriegsalltag abzulenken. So erhält das Theater nach wie vor städtische Zuschüsse, wodurch der Chor und das Orchester in gewohnter Größe weitergeführt werden können und Reparaturen sowie Fundus-Erneuerungen ermöglicht werden.
Außerdem wird eine dritte Spielstätte in Wellingdorf eröffnet, um somit auch den auf Werften und Rüstungsbetrieben arbeitenden Menschen auf dem Ostufer Ablenkung zu bieten.[5]
Am 13. Dezember 1943 brennt das Stadttheater infolge eines Luftangriffs aus, ist großflächig zerstört und nunmehr unbrauchbar. Nachdem in den beiden anderen Spielstätten zunächst weitergespielt worden ist,[6] wird die Spielzeit am 30. Juni 1944 beendet und alle Mitarbeiter in kriegswichtige Betriebe geschickt. Humperdinck selbst kommt zum Volkssturm.[7]
Nach Kriegsende 1945 wird Humperdinck von Kiels neuem Oberbürgermeister offiziell entlassen, kann sich aber auch im Nachkriegsdeutschland eine Existenz aufbauen. Er geht als Schauspiellehrer und Regisseur ans Landestheater Siegburg, führt das Archiv des Humperdinck-Museums, ist Oberspielleiter der Oper in Detmold sowie Dozent an der NRW-Landesmusikakademie.[8]Außerdem veröffentlicht er 1965 eine Biografie seines Vaters.[9]
Richard Wagner im Nationalsozialismus
Zur Zeit des Nationalsozialismus bestand eine einflussreiche Nähe zwischen Adolf Hitler und der Wagner-Familie. Diese ist auf die antisemitische Weltsicht letzterer sowie germanisch-völkische Elemente, welche auf Richard Wagners Opern projizierbar waren, zurückzuführen.[10] Sein Werk wurde so für den Nationalsozialismus vereinnahmt, politisiert und instrumentalisiert, was zur Folge hatte, dass der „Kult“ um die Wagner-Opern während der Zeit des Nationalsozialismus seinen Höhepunkt erreichte[11] und Richard Wagner selbst einen prominenten Platz in der NS-Propaganda einnahm.[12]
Dies in den Kontext der Humperdinck-Intendanz setzend, fällt auf, dass dieser selbst über eine gewisse Nähe zur Wagner-Familie verfügte. Unter anderem war er der Patensohn Cosima Wagners.[13]Außerdem lernte er, wie bereits sein Vater vor ihm, in Bayreuth,[14]wo alljährlich die Bayreuther Festspiele stattfinden, welche den letzten zehn Wagner-Opern gewidmet sind. Diese fanden bereits während der NS-Zeit statt, wurden gleichgeschaltet und stellten somit ein wichtiges Propagandamittel dar.[15] Es lässt sich also eine zumindest partielle nationalsozialistische Gesinnung bei Wolfram Humperdinck selbst vermuten.
Die Märchenoper Hänsel und Gretel unter Humperdinck
Hänsel und Gretel ist eine Märchenoper, welche in den Spielzeiten 1941/42 und 1943/44 in Kiel unter der Leitung des Intendanten Wolfram Humperdinck auf die Bühne gebracht wurde. Die Musik zu dem in den 1890er Jahren entstandenen und noch heute gespielten Stück stammt von seinem Vater Engelbert.
Video: Vortrag zu Humperdincks Oper Hänsel und Gretel von der Ethnologin Prof. Dr. phil. Silke Göttsch-Elten (Im Rahmen der Ringvorlesung „Große Opern“ im Dezember 2010)
Ausschnitt aus dem Programmheft Hänsel und Gretel, Spielzeit 1941/42
Besonders auffällig bei Betrachtung des die Aufführung in der Spielzeit 1941/42 begleitenden Programmheftes ist die Besetzung der Rollen durch fast ausschließlich Frauen. Lediglich die Rolle des Peter ist mit Alfred Krohn männlich besetzt, während alle anderen Rollen, einschließlich eigentlich männlicher Charaktere wie Hänsel, durch Frauen verkörpert werden. Dies dürfte auf die durch den Krieg herbeigeführte Abwesenheit von Männern sowie die Beschäftigung der anwesenden männlichen Schauspieler mit Wagner-Opern, welche für Humperdinck im Vordergrund standen,[16] zurückzuführen sei.
Außerdem ist zu erkennen, dass die Vorstellung schon um 18 Uhr beginnt und um 20 Uhr endet. Dies ist ein typisches Phänomen für die in der Spätphase von Humperdincks Intendanz aufgeführten Stücke. Zurückzuführen ist die ungewöhnliche Startzeit auf den bei Einbruch der Dunkelheit regelmäßig ausgelösten Luftalarm. Bei Eintreten einer solchen Situation sollten sich möglichst alle Bewohner Kiels zu Hause und nicht in der Öffentlichkeit respektive in der Nähe der Innenstadt befinden.[17]Demzufolge wurden alle Aufführungen zeitlich so gelegt, dass sie um 20 Uhr beendet waren, damit alle Zuschauer um spätestens 21 Uhr ihre Wohnorte erreichen konnten. So begannen einige Vorstellungen auch bereits am Nachmittag, was freilich Einbrüche der Zuschauerzahlen mit sich brachte, da viele zu diesem Zeitpunkt noch bei der Arbeit waren.[18]
Auch im schriftlichen Begleitmaterial zu anderen während der Intendanz von Humperdinck inszenierten Stücken, wie hier auf dem Theaterzettel zur in der Spielzeit 1943/44 gespielten Oper Carmen, fällt der nachmittägliche Beginn der Vorstellungen auf, um ein Ende um 20 Uhr zu ermöglichen.
Theaterzettel Carmen, Spielzeit 1943/44
Szenefoto aus einer Aufführung von Hänsel und Gretel 1941/42
Die Fotografie ermöglicht einen Blick auf das von Franz Mertz erstellte Bühnenbild zu Hänsel und Gretel sowie die überwiegend weibliche Besetzung.
Außerdem fällt auf, dass im Vergleich zur Inszenierung von Wilhelm Tell, welche unter Schulz-Dornburg stattfand, trotz der Anwesenheit des Chores, deutlich weniger Darsteller auf der Bühne zu sehen sind. Dies könnte einerseits an der Umsetzung der Oper, andererseits aber auch an der aufgrund der Kriegssituation mangelnden Verfügbarkeit von Schauspielern liegen.
Ausschnitt aus Programmheft zu Hänsel und Gretel, Spielzeit 1943/44
Ein spezieller Hinweis im Programmheft zur Inszenierung in der Spielzeit 1943/44 belegt, wie gravierend die Einschränkungen durch den Krieg mittlerweile waren, denn die Zuschauer werden darüber informiert, was im Falle einer Luftwarnung während der Vorstellung zu tun ist.
Ausschnitt aus Programmheft zu Hänsel und Gretel, Spielzeit 1943/44
Dagegen befand sich auf der Rückseite des Programmheftes zur Inszenierung von 1941/42 noch eine Zusammenfassung der Handlung, die im Wesentlichen dem Verlauf des Grimm’schen Märchens entspricht. Anzumerken ist hier allerdings die große Bedeutung, die dem Glauben an Gott zugeschrieben wird, was sich vor allem am Ende der Geschichte offenbart, sowie der Aufbau nach dem „Happy-End“-Prinzip. Hiermit könnte das Ziel verfolgt worden sein, die Zuschauer mit einem guten Gefühl nach Hause gehen zu lassen und ihnen den Glauben als Hilfsmittel während der schweren Zeiten an die Hand zu geben.
Quellennachweise
Fußnoten
[1] Vgl. Schubert-Riese, Zwischen Büro und Bühne, S. 53.
[2] Vgl. Dannenberg, Helden und Chargen, S. 303.
[3] Ebd.
[4] Vgl. Schubert-Riese, Zwischen Büro und Bühne, S. 53.
[5] Ebd., S. 54.
[6] Vgl. Dannenberg, Helden und Chargen, S. 307–308.
[7] Vgl. Schubert-Riese, Zwischen Büro und Bühne, S. 54.
[8] Ebd.
[9] Vgl. Wolfram Humperdinck: Engelbert Humperdinck. Das Leben meines Vaters. Frankfurt am Main 1965.
[10] Vgl. Werr, Die Bayreuther Festspiele, S. 254.
[11] Vgl. Brumlik, Wagner, S. 3.
[12] Vgl. Werr, Die Bayreuther Festspiele, S. 254.
[13] Vgl. Schubert-Riese, Zwischen Büro und Bühne, S. 53.
[14] Vgl. Dannenberg, Helden und Chargen, S. 303.
[15] Vgl. Stunz, Hitler und die „Gleichschaltung“ der Bayreuther Festspiele, S. 237.
[16] Vgl. Schubert-Riese, Zwischen Büro und Bühne, S. 53.
[17] Vgl. Dannenberg, Helden und Chargen, S. 305.
[18] Ebd.
Literaturverzeichnis
Brumlik, Micha: Wagner, Bayreuth und das noch immer währende 19. Jahrhundert, in: Sündenfall der Künste? Richard Wagner, der Nationalsozialismus und die Folgen, hrsg. von Katharina Wagner, Holger von Berg und Marie Luise Maintz, Kassel 2018, S. 3–8.
Dannenberg, Peter: Helden und Chargen. Zwischen den Kriegen – Dreißig Jahre Theater in Kiel. Hamburg 1983.
Programmheft der Städtischen Theater Kiel zu „Hänsel und Gretel“, Spielzeit 1939/1940, H. 7.
Programmheft der Städtischen Theater Kiel zu „Hänsel und Gretel“, Spielzeit 1941/42.
Programmheft der Städtischen Theater Kiel zu „Hänsel und Gretel“, Spielzeit 1943/44.
Schubert-Riese, Brigitte: Zwischen Büro und Bühne. Intendanten des Kieler Theaters, in: Halte fest, was dir von allem übrigblieb: 100 Jahre Theater am Kleinen Kiel, hrsg. von Ole Hruschka, Kiel 2007, S. 37–83.
Stunz, Holger R.: Hitler und die „Gleichschaltung“ der Bayreuther Festspiele. Ausnahmezustand, Umdeutung und sozialer Wandel einer Kulturinstitution 1933–1934, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 55 (2007), H. 2, S. 237–268.
Werr, Sebastian: Die Bayreuther Festspiele – eine „jüdische Angelegenheit“? Winifred Wagner gegen wagnerfeindliche Tendenzen im Nationalsozialismus, in: Die Musikforschung 65 (2012), H. 3, S. 254–265.









