Zur Vorgeschichte
Falls sich die divergierenden Konzepte der Postmoderne überhaupt auf einem gemeinsamen Nenner vereinen lassen, dann ist es der Widerstand gegen jegliche Theorie oder Praxis, die Endgültigkeit und Geschlossenheit bzw. Totalität und universale Erklärungskompetenz für sich in Anspruch nimmt. In dieser Absicht hat Jean-François Lyotard dem ›Ganzen‹ den Krieg erklärt (vgl. S. 39); Michel Foucaults ›Archäologie‹ spürt der Diskontinuität geschichtlicher Prozesse nach (vgl. S. 39-41), und Jacques Derridas ›différance‹ entzieht aller Letztgewissheit ohnehin den Boden (vgl. S. 49-51).
Das im griechischen Altertum wurzelnde Ideal unbedingter ›Wahrheit‹ ist damit hinfällig geworden und muss laut Paul Feyerabends Against Method (1975) einem anything goes Platz machen. Als Freibrief für Beliebigkeit wäre dieses epistemologische laissez faire jedoch gründlich missverstanden, da die so oft polemisch gegen die Postmoderne gewendete Formel nur auf die altbekannte Erfahrung reagiert, »that all methodologies, even the most obvious ones, have their limits«.[1] Dass kein wissenschaftlicher Ansatz konkurrierende Verfahren a priori ausschalten dürfe, ist nur die naheliegende Schlussfolgerung, und bezeichnenderweise heißt es bei Feyerabend nicht ›everything goes‹.[2]
Sobald sich ›Wahrheit‹ nicht mehr im Singular denken lässt (vgl. S. 22), hat die vom Rationalismus des 18. Jahrhunderts favorisierte ›Korrespondenz-Theorie‹ ihren Kredit verspielt. Dieses Urvertrauen der Vernunft, dass es eine »Ubereinstimmung unsrer Erkenntniß mit den Dingen selbst«[3] geben könne und solle, ist streng genommen bereits um 1800 in die Krise geraten, als Friedrich von Hardenberg (Novalis) in Monolog vollzieht, was im späten 20. Jahrhundert als linguistic turn neu aufgelegt wird:
Der lächerliche Irrthum ist nur zu bewundern, daß die Leute meinen – sie sprächen um den Dinge wegen. Gerade das Eigenthümliche der Sprache, daß sie sich blos um sich selbst bekümmert, weiß keiner. […] Wenn man den Leuten nur begreiflich machen könnte, daß es mit der Sprache wie mit den mathematischen Formeln sei – Sie machen eine Welt für sich aus – Sie spielen nur mit sich selbst, drücken nichts als ihre wunderbare Natur aus, und eben darum sind sie so ausdrucksvoll ‑ eben darum spiegelt sich in ihnen das seltsame Verhältnißspiel der Dinge.[4]
Ist die Sprache aber kein Instrument, durch dessen Gebrauch man sich einen unvermittelten Zugang zu den Sachverhalten erschließt, so gibt es kommunikatives Verstehen bestenfalls im Modus der Ironie. Ironisch zu argumentieren heißt demnach, bei jedem Gedanken die Unzulänglichkeit seines Ausdrucks mitzubedenken bzw. alle Ideen im Wissen um deren provisorischen Charakter nur unter Vorbehalt (und insofern umso ungeschützter) zu formulieren. Weil angesichts dieser Fundamentalskepsis »nichts werth« sein kann, was »sich nicht selbst annihilirt«,[5] bedarf alles Denken der permanenten Brechung: als ›Parekbase‹ im Sinne Friedrich Schlegels,[6] die zu jeder Äußerung sogleich wieder auf Distanz geht (Umberto Ecos Erläuterung postmoderner Ironie als ›metalinguistisches Spiel, Äußerung im Quadrat‹ meint nichts anderes; vgl. S. 19). Auf solch ironische Weise kommentiert sich die Reflexion auf einer Metaebene selbst und unterläuft dadurch ihre eigene Unhaltbarkeit. Indem er im 53. Athenäumsfragment Shaftesburys berühmtes Diktum »The most ingenious way of becoming foolish is by a system« (1709)[7] romantisch potenziert, hat Friedrich Schlegel der postmodernen Pluralität – genauer: dem Denken im ›Widerstreit‹ – den Weg bereitet: »Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben, und keins zu haben. Er wird sich also wohl entschließen müssen, beides zu verbinden«.[8]
Den Romantikern um Friedrich Schlegel, Novalis, Ludwig Tieck und Karl Wilhelm Ferdinand Solger ist es in erster Linie darum gegangen, durch ironische Verweigerung eine ›Sehnsucht‹ nach dem verlorenen ›Ideal‹ zu erzeugen (August Wilhelm Schlegel spricht in diesem Zusammenhang von der überall leitenden Absicht, »aus dem Bewußtsein des Unerreichbaren, statt zu niederschlagendem Ernst überzugehn, einen leisen Scherz« zu machen).[9] Demgegenüber kommt es der postmodernen Ironie nicht mehr darauf an, das Bedürfnis nach Natürlichkeit (im Sinne einer Identität mit sich) wachzuhalten. Auf die Idee von einem besseren, richtigeren Leben in vergangener oder künftiger Zeit hat die ernüchterte Postmoderne ›dankend verzichtet‹,[10] und bei aller Nähe zu romantischen Ideen braucht von keiner Sehnsucht mehr die Rede zu sein, wenn die différance ohnehin jedwedes ›Ideal‹ verflüssigt. Anders als die Romantiker, die das Vermisste ex negativo – im notwendig enttäuschten Bedürfnis danach – umso gegenwärtiger halten wollten, konstatiert Jacques Derrida nun schmerzfrei, weil »ohne Nostalgie«,[11] die Abwesenheit des ›transzendentalen Signifikats‹ (vgl. S. 49):
Der verlorenen oder unmöglichen Präsenz des abwesenden Ursprungs zugewandt, ist diese strukturalistische Thematik der zerbrochenen Unmittelbarkeit also die traurige, negative, nostalgische, schuldige und rousseauistische Kehrseite jenes Denkens des Spiels, dessen andere Seite Nietzsches Bejahung darstellt, die fröhliche Bejahung des Spiels der Welt und der Unschuld der Zukunft, die Bejahung einer Welt aus Zeichen ohne Fehl, ohne Wahrheit, ohne Ursprung, die einer tätigen Deutung offen ist. Diese Bejahung bestimmt demnach das Nicht-Zentrum anders denn als Verlust des Zentrums.[12]
Entscheidende Erfolge im ›Krieg gegen das Ganze‹ sind den Naturwissenschaften schon im frühen 20. Jahrhundert gelungen, als es mathematisch unabweisbar wurde, dass die Welt nicht gar zu streng nach der Vorschrift unseres kausallogisch geordneten Verstandes funktioniert und es mehr der Zufall ist, der sie im Innersten zusammenhält. Das 19. Jahrhundert hat demgegenüber noch ans Gedankenspiel des ›Laplaceschen Dämons‹ glauben dürfen, der als absolute Intelligenz alle zukünftigen und alle vergangenen Zustände des Kosmos ermitteln würde, sobald ihm in einem bestimmten Augenblick sämtliche Informationen zur Verfügung stünden. Konträr dazu potenziert sich in den alternativen Erklärungs- bzw. Beschreibungsmodellen Albert Einsteins, Werner Heisenbergs und Kurt Gödels die ›kopernikanische Wende‹, die den Menschen um 1600 erstmals seiner Zentralstellung im Universum enthoben hat: Einsteins ›Spezielle Relativitätstheorie‹ (1905) dementiert den Begriff des ›Ganzen‹, Heisenbergs ›Unschärferelation‹ (1927) widerlegt das Vertrauen auf eine objektive Berechenbarkeit der physikalischen Welt, und Gödels ›Unvollständigkeitssatz‹ (1931) läuft daraus hinaus, dass kein hinreichend komplexes System die eigene Widerspruchsfreiheit zu beweisen vermag. Zu dieser ›Grundlagenkrise‹ des 20. Jahrhunderts,[13] auf die auch die postmoderne Rücknahme der unterschiedlichen Einheitsvorstellungen reagiert, hat überdies die ›Kränkung der Menschheit‹ beigetragen, die mit Sigmund Freuds Psychoanalyse verbunden war. Die darin vorausgesetzte Aufspaltung der ›Persönlichkeit‹ in drei divergierende Instanzen (Es, Ich und Über-Ich) stellt bekanntlich die Anteile des Unbewussten am Seelenleben in den Vordergrund und spricht dem ›Ich‹ rundweg ab, wirklich ›Herr im eigenen Haus‹ zu sein (vgl. Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, 1917).
So unübersichtlich sich die philosophische Ahnentafel postmoderner Ideen auch darstellen mag, ist ihr gewichtigster Vordenker doch fraglos Friedrich Nietzsche, dessen Radikalkritik »an der Metaphysik, an den Begriffen des Seins und der Wahrheit«[14] das Erbe von Friedrich Schlegel und Novalis für das 20. Jahrhundert aufbereitet. In Nietzsches Schärfung hat die frühromantische Sprachphilosophie zum Vorreiter des Poststrukturalismus werden können, da sie der Frage nach den Anfangsgründen des abendländischen Idealismus und den Irrwegen seiner Systeme die vitalsten Impulse gab: »Indem Nietzsche den Philosophen daran erinnert, daß er in einer Sprache eingemauert bleibt, ist er sicherlich gewaltsamer und expliziter als andere, aber er schlachtet auch eine seit einem halben Jahrhundert allgemein auftauchende Möglichkeit aus«.[15] Nietzsche, der sich der »Gefahr der Sprache für die geistige Freiheit« bewusster gewesen ist als sonst ein Philosoph seiner Zeit, hat jedenfalls im Zweiten Band von Menschliches, Allzumenschliches (1886) schon auf das vorausgedeutet, was Derrida als ›différance‹ und ›dissémination‹ verhandeln wird: »Jedes Wort ist ein Vorurtheil«.[16]
Namentlich in Jenseits von Gut und Böse (1886) führt Nietzsche den Kerngedanken aus Novalis’ Monolog, kein Sprecher habe die unbedingte Verfügungsgewalt über sein Sprechen (vgl. S. 26), fort und betont die Eigengesetzlichkeit der Sprache, die sich nicht als bloßes Mittel zum Zweck handhaben lasse: »Was den Aberglauben der Logiker betrifft: so will ich nicht müde werden, eine kleine kurze Thatsache immer wieder zu unterstreichen, welche von diesen Abergläubischen ungern zugestanden wird, − nämlich, dass ein Gedanke kommt, wenn ›er‹ will, und nicht wenn ›ich‹ will; so dass es eine Fälschung des Thatbestandes ist, zu sagen: das Subjekt ›ich‹ ist die Bedingung des Prädikats ›denke‹«.[17] Alle Illusionen von ›Wahrheit‹ als dem höchsten Wert menschlicher Vernunft sind damit als Sprach-Spiel entzaubert, das keine objektive Identität zwischen den Sachverhalten und ihrer begrifflichen Erfassung mehr zulässt, denn nichts darf mehr beim Wort genommen werden, wenn dieses Wort sich seinem buchstäblichen Verständnis entzieht bzw. per se ›uneigentlich‹ ist. In der Nachlass-Schrift Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne (1873) heißt es demzufolge:
Was also ist Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen.[18]
Nietzsche stimmt insbesondere darin mit den Frühromantikern überein, dass er allem Systemdenken, das in Hegels Theorie des absolut werdenden Geistes seinen Gipfel erreicht hatte, entschiedenen Widerstand entgegensetzt: »Ich mißtraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist, für uns Denker wenigstens, etwas, das compromittirt, eine Form unsrer Immoralität«.[19] Da er die dem Rationalismus unverzichtbare Verpflichtung auf logische Kohärenz bzw. Schlüssigkeit der Argumentation suspendiert, kann Nietzsche auch die traditionelle Form der in sich abgeschlossenen, streng organisierten Abhandlung aufgeben und mit dem ›Buch für freie Geister‹ Menschliches, Allzumenschliches (1878/86) in frühromantischem Gestus zu einem Schreiben in Fragmenten übergehen, sofern er sich nicht gleich ganz der Lyrik (in Die fröhliche Wissenschaft (2/1887) mit den ›Liedern des Prinzen Vogelfrei‹) oder des Romans bedient (Also sprach Zarathustra, 1883-85).
Dass diesem vernunftkritischen Interesse, das die »ewigen Thatsachen« so wenig noch anerkennen mag wie die »absoluten Wahrheiten«,[20] die Universalansprüche des Idealismus als schlechthin widersinnig gelten, kann nicht überraschen: »Insofern aber alle Metaphysik sich vornehmlich mit Substanz und Freiheit des Willens abgegeben hat, so darf man sie als die Wissenschaft bezeichnen, welche von den Grundirrthümern des Menschen handelt, doch so, als wären es Grundwahrheiten«.[21] Damit ist zuallererst der Glaube an logische Zweiteiligkeit verdächtig geworden, der zum Grundbestand aller Rationalität gehört, weil diese durchweg binär operiert und daher des Vertrauens auf die Geltung von Plus/minus-Oppositionen bedarf (nach dem Muster ›wahr/falsch‹). Nietzsche bestreitet demgegenüber in Jenseits von Gut und Böse den ›Grundglauben der Metaphysiker‹ an die »Gegensätze der Werthe« als den Ur-Fehler, der jeglicher Metaphysik ihres Wahrheitsanspruchs beraubt:
Man darf nämlich zweifeln, erstens, ob es Gegensätze überhaupt giebt, und zweitens, ob jene volksthümlichen Werthschätzungen und Werth-Gegensätze, auf welche die Metaphysiker ihr Siegel gedrückt haben, nicht vielleicht nur Vordergrunds-Schätzungen sind, nur vorläufige Perspektiven, vielleicht noch dazu aus einem Winkel heraus, vielleicht von Unten hinauf, Frosch-Perspektiven gleichsam, um einen Ausdruck zu borgen, der den Malern geläufig ist?[22]
Wenn aber ›das Perspektivische‹ die »Grundbedingung alles Lebens« ist, dann muss auch »Plato’s Erfindung vom reinen Geiste und vom Guten an sich« der »schlimmste, langwierigste und gefährlichste aller Irrthümer«[23] sein und keine Ethik braucht sich noch auf logische Gründe zu stützen:
Bei allem Werthe, der dem Wahren, dem Wahrhaftigen, dem Selbstlosen zukommen mag: es wäre möglich, dass dem Scheine, dem Willen zur Täuschung, dem Eigennutz und der Begierde ein für alles Leben höherer und grundsätzlicherer Werth zugeschrieben werden müsste. Es wäre sogar noch möglich, dass was den Werth jener guten und verehrten Dinge ausmacht, gerade darin bestünde, mit jenen schlimmen, scheinbar entgegengesetzten Dingen auf verfängliche Weise verwandt, verknüpft, verhäkelt, vielleicht gar wesensgleich zu sein. Vielleicht![24]
Hat Nietzsche in Ecce homo (1888/89 entstanden) die Demontage des abendländischen Subjekt-Ideals auf die Formel »Bewusstsein ist eine Oberfläche«[25] gebracht, führen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno seine Fundamentalkritik an aller Vernünftigkeit polemisch fort: »Aufklärung ist totalitär«.[26] Die beiden Begründer der ›Kritischen Theorie‹ (bzw. ›Frankfurter Schule‹), in der sich – pointiert gesagt – die politisch-ökonomische Theorie von Karl Marx im Interesse ihrer undogmatischen Weiterentwicklung mit Nietzsche und Freud abgleicht, reagieren mit Dialektik der Aufklärung (1947) auf die historische Erfahrung des Nationalsozialismus und seiner ›Endlösung‹, die sie als Umschlagen der Rationalität in Brutalität begreifen. Das Versprechen der neuzeitlichen, selbstbewussten Aufklärung, durch immer mehr Gedankenstrenge immer mehr Freiheit zu schaffen, erscheint angesichts der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs als fürchterliches Missverständnis: »Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils«.[27]
Die ›Philosophischen Fragmente‹ der Dialektik der Aufklärung reflektieren die moderne Rationalität in der Hoffnung, dass ihr Versagen nicht das letzte Wort haben muss. Ist der philosophische Aufschwung seit dem 17. Jahrhundert darauf gerichtet gewesen, das Denken zu befreien, indem sich das Denken von autoritären Vorgaben (namentlich der christlichen Offenbarung) emanzipiert, dann soll dieses Projekt durch die realgeschichtlichen Fakten nicht ganz und gar falsifiziert worden sein; das humanitäre Potenzial, das dem Vertrauen auf die Autonomie kritischer Reflexion unbeirrt innewohne, könne vielmehr umso nachdrücklicher zur Geltung kommen, sobald die Ratio nur ihrer eigenen Gefahren inne wird, d. h. sich über sich selbst aufklärt und so den elementaren Erkenntnisanspruch erst recht verwirklicht.
Horkheimer/Adornos Kernfrage ist dementsprechend auf die Ursachen gerichtet, »warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt«.[28] Ihre Antwort liegt in der Einsicht, dass die vom Rationalismus des siècle des lumières behauptete Opposition von Vernunft und Unvernunft einer Selbsttäuschung entspringt und das Misslingen der Aufklärung folglich in ihrem Absolutismus wurzelt, der nichts Anderes neben sich duldet: »Denn Aufklärung ist totalitär wie nur irgendein System. Nicht was ihre romantischen Feinde ihr seit je her vorgeworfen haben, analytische Methode, Rückgang auf Elemente, Zersetzung durch Reflexion ist ihre Unwahrheit, sondern daß für sie der Prozeß von vornherein entschieden ist«.[29] Im Leitsymbol der aufgehenden Sonne, deren Strahlen alle Wolken der Finsternis vertreiben, hat die Aufklärung ihre Anmaßung versinnbildlicht, durch logisch-begriffliche Klarheit allem mythischen Denken den Garaus zu machen. Wider Willen hat sie sich damit aber selbst in einen Mythos verwandelt und und blind gemacht für ihre Dialektik, denn »schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück«.[30]
Ihrer Illusionen wegen kann die Aufklärung den versprochenen Fortschritt zur Humanität nicht herbeiführen, sondern muss neue, andere Unfreiheit erzeugen, solange sie das in mythischen Bildern befangene Denken nur falsifiziert. Damit ist umso weniger ein Geschichtspessimismus verbunden, als Horkheimer/Adorno das im 20. Jahrhundert unabweisbare Scheitern dialektisch aufzulösen wissen und eine glücklichere Zukunft absehen, sobald die Aufklärung sich ihrer Problematik nur ernstlich genug stellt. Im Argumentationsschema nicht nur der Dialektik à la Hegel, sondern zugleich der Psychoanalyse Freuds gilt es daher, die Aufklärung zur Einsicht in die eigene Verblendung zu bringen: »Die ihrer selbst mächtige, zur Gewalt werdende Aufklärung selbst vermöchte die Grenzen der Aufklärung zu durchbrechen«.[31]
An dieser Stelle wird die politisch-gesellschaftliche Analyse der Gegenwart entscheidend. Da die Befreiung von den Zwängen der Natur bislang nur in Gestalt von Technik, d. h. als Herrschaft über die Natur, möglich war, hat sie das Zusammenleben in der Gesellschaft einem Zweck/Mittel-Rationalismus unterworfen und immer heiklere Ungleichheit hervorgebracht. In diesem Versagen kommt erneut die Dialektik der Aufklärung zum Tragen, weil die verbesserte Bedürfnisbefriedigung mit der Annullierung von Individualität zu bezahlen war: »Während der Einzelne vor dem Apparat verschwindet, den er bedient, wird er von diesem besser als je versorgt. Im ungerechten Zustand steigt die Ohnmacht und Lenkbarkeit der Masse mit der ihr zugeteilten Gütermenge. Die materiell ansehnliche und sozial klägliche Hebung des Lebensstandards der Unteren spiegelt sich in der gleißnerischen Verbreitung des Geistes«.[32]
Deutlich noch immer von Jean-Jacques Rousseau inspiriert, der den Prozess der Zivilisation so wirkungsvoll als Entfremdung von der Natur beschrieben hat, kommentiert die Dialektik der Aufklärung den technischen Fortschritt als Niedergang, dem es zu wehren gilt. Den einzigen Freiraum, in dem die Erfahrung einer Identität mit sich selbst noch möglich sein soll, erhoffen sich Horkheimer und Adorno folgerichtig von der Kunst, solange diese das gesellschaftliche Verwertungsinteresse negiert und auf Autonomie beharrt. Um dieser Zuversicht willen betonen sie die Dialektik auch des ›Schönen‹, das einerseits die schlechte Realität verleugnet, andererseits aber mit in eigenen Autonomie für Freiheit schlechthin einsteht: »Seit der glücklich-mißglückten Begegnung des Odysseus mit den Sirenen sind alle Lieder erkrankt, und die gesamte abendländische Musik laboriert an dem Widersinn von Gesang in der Zivilisation, der doch zugleich wieder die bewegende Kraft aller Kunstmusik abgibt«.[33]
Mit dem Vergnügen, wie es die vorherrschende ›Kulturindustrie‹ profitabel vermarktet, kann Horkheimer/Adorno zufolge keine wahre Befriedigung verbunden sein. Vielmehr trage die bequeme Unterhaltung letztlich zur Verfestigung gesellschaftlicher Gewaltverhältnisse bei, da sie die Konsumenten an verweigerte Lust gewöhnt; wahrhaft avancierten Werken gelinge es in ihrer Ungefälligkeit hingegen, für die Idee einer nicht mehr auf Unrecht gründenden, daher gewaltlosen Freiheit einzustehen. Aber auch diese genuine Kunst vermag sich der Dialektik nicht wirklich zu entziehen, sondern muss um eben ihrer Wahrheit willen auf Popularität verzichten, bleibt damit einem Minderheitsgeschmack vorbehalten und bestätigt nolens volens die Missstände bis auf Weiteres. Als Vorschein tatsächlicher Befreiung bringen Kunstwerke, die sich dieser Dialektik stellen, dennoch ein neues Glücksversprechen zum Ausdruck, das den Technizismus der Aufklärung hinter sich lässt: »Glück aber enthält Wahrheit in sich«.[34]
[1] Feyerabend, Paul: Against Method. Fourth edition. London – New York 2010, S. 16.
[2] Vgl. Riese, Utz / Magister, Karl Heinz: Postmoderne/postmodern. In: Barck, Karlheinz / Fontius, Martin / Schlenstedt, Dieter / Steinwachs, Burkhart / Wolfzettel, Friedrich (Hrsgg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Band 5: Postmoderne bis Synästhesie. Stuttgart – Weimar 2000, S. 1–39, hier S. 4.
[3] Vgl. Gottsched, Johann Christoph: Erste Gründe Der Gesamten Weltweisheit […]. Erster, Theoretischer Theil. Leipzig 1733, S. 90 [§ 156].
[4] Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Herausgegeben von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. Band 2: Das philosophisch-theoretische Werk. Herausgegeben von Hans-Joachim Mähl. München – Wien 1978, S. 438.
[5] Schlegel, Friedrich: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Herausgegeben von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. München – Paderborn – Wien – Zürich 1958ff. Hier Bd. XVI, S. 43.
[6] »Die Ironie ist eine permanente Parekbase. –« (Schlegel, Friedrich: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Herausgegeben von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. München – Paderborn – Wien – Zürich 1958ff. Hier Bd. XVIII, S. 85).
[7] Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, third Earl of: Soliloquy, or Advice to an Author. In: Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, third Earl of: Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times. Edited by Lawrence E. Klein. Cambridge University Press 1999, S. 70-162, hier S. 130.
[8] Schlegel, Friedrich: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Herausgegeben von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. München – Paderborn – Wien – Zürich 1958ff. Hier Bd. II, S. 173.
[9] Schlegel, August Wilhelm: Geschichte der romantischen Literatur. In: Schlegel, August Wilhelm: Kritische Schriften und Briefe. Band IV. Herausgegeben von Edgar Lohner. Stuttgart 1965, S. 99f.
[10] Harbers, Henk: Gibt es eine ›postmoderne‹ deutsche Literatur? Überlegungen zur Nützlichkeit eines Begriffs. In: literatur für leser. Jahrgang 1997, S. 52-69, hier S. 57.
[11] Derrida, Jacques: Randgänge der Philosophie. Herausgegeben von Peter Engelmann. Aus dem Französischen von Gerhard Ahrens. Wien 1988, S. 56: »Il n’y aura pas de nom unique, fût-il le nom de l’être. Et il faut le penser sans nostalgie, c’est-à-dire hors du mythe de la langue purement maternelle ou purement paternelle, de la patrie perdue de la pensée. Il faut au contraire l’affirmer, au sens où Nietzsche met l’affirmation en jeu, dans un certain rire et dans un certain pas de la danse« (Derrida, Jacques: Marges de la philosophie. Paris 1972, S. 29).
[12] Derrida, Jacques: Die Schrift und die Differenz. Übersetzt von Rodolphe Gasché und Ulrich Köppen. Frankfurt/M. 1972, S. 441: »Tournée vers la présence, perdue ou impossible, de l’origine absente, cette thématique structuraliste de l’immédiateté rompue est donc la face triste, négative, nostalgique, coupable, rousseauiste, de la pensée du jeu dont l’affirmation nietzschéenne, l’affirmation joyeuse du jeu du monde et de l’innocence du devenir, l’affirmation d’un monde de signes sans faute, sans vérité, sans origine, offert à une interprétation active, serait l’autre face. Cette affirmation détermine alors le non-centre autrement que comme perte du centre« (Derrida, Jacques: L’écriture et la différence. Paris 1967, S. 427).
[13] Vgl. Welsch, Wolfgang: Unsere postmoderne Moderne. Weinheim 1987, S. 186f.
[14] Derrida, Jacques: Die Schrift und die Differenz. Übersetzt von Rodolphe Gasché und Ulrich Köppen. Frankfurt/M. 1972, S. 425: »Si l’on voulait néanmoins, à titre indicatif, choisir quelques ‹ noms propres › et évoquer les auteurs des discours dans lesquels cette production s’est tenue au plus près de sa formulation la plus radicale, il faudrait sans doute citer la critique nietzschéenne de la métaphysique, des concepts d’être et de vérité […]« (Derrida, Jacques: L’écriture et la différence. Paris 1967, S. 411f.).
[15] Derrida, Jacques: Randgänge der Philosophie. Herausgegeben von Peter Engelmann. Aus dem Französischen von Gerhard Ahrens. Wien 1988, S. 196: »En rappellant au philosophe qu’il reste emmuré dans une langue, Nietzsche est sans doute plus violent et plus explicite qu’un autre, mais il exploite aussi une possibilité affleurant un peu partout depuis un demi-siècle« (Derrida, Jacques: Marges de la philosophie. Paris 1972, S. 212).
[16] Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1980. Bd. II, S. 577.
[17] Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1980. Bd. V, S. 31.
[18] Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1980. Bd. I, S. 880f.
[19] Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1980. Bd. XIII, S. 553.
[20] Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1980. Bd. II, S. 25.
[21] Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1980. Bd. II, S. 40.
[22] Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1980. Bd. V, S. 16.
[23] Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1980. Bd. V, S. 12.
[24] Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1980. Bd. V, S. 16f.
[25] Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1980. Bd. VI, S. 294.
[26] Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. In: Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften. Band 3. Herausgegeben von Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 1981, S. 22.
[27] Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. In: Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften. Band 3. Herausgegeben von Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 1981, S. 19.
[28] Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. In: Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften. Band 3. Herausgegeben von Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 1981, S. 11.
[29] Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. In: Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften. Band 3. Herausgegeben von Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 1981, S. 41.
[30] Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. In: Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften. Band 3. Herausgegeben von Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 1981, S. 16.
[31] Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. In: Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften. Band 3. Herausgegeben von Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 1981, S. 234.
[32] Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. In: Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften. Band 3. Herausgegeben von Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 1981, S. 15.
[33] Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. In: Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften. Band 3. Herausgegeben von Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 1981, S. 78.
[34] Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. In: Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften. Band 3. Herausgegeben von Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 1981, S. 81.