Schreibübung Prosa

Franz Kafka: »Poseidon« (1966)

In seiner 1920 entstandenen, zu Lebzeiten unveröffentlichten Erzählung »Poseidon« bedient sich Kafka eines alten Stoffes und entwirft den Gott der Meere als einen schlechtgelaunten Verwaltungsangestellten.

Poseidon saß an seinem Arbeitstisch und rechnete. Die Verwaltung aller Gewässer gab ihm unendliche Arbeit. Er hätte Hilfskräfte haben können, wie viel er wollte, und er hatte auch sehr viele, aber da er sein Amt sehr ernst nahm, rechnete er alles noch einmal durch und so halfen ihm die Hilfskräfte wenig. Man kann nicht sagen, daß ihn die Arbeit freute, er führte sie eigentlich nur aus, weil sie ihm auferlegt war, ja er hatte sich schon oft um fröhlichere Arbeit, wie er sich ausdrückte, beworben, aber immer, wenn man ihm dann verschiedene Vorschläge machte, zeigte es sich, daß ihm doch nichts so zusagte, wie sein bisheriges Amt. Es war auch sehr schwer, etwas anderes für ihn zu finden. Man konnte ihm doch unmöglich etwa ein bestimmtes Meer zuweisen; abgesehen davon, daß auch hier die rechnerische Arbeit nicht kleiner, sondern nur kleinlicher war, konnte der große Poseidon doch immer nur eine beherrschende Stellung bekommen. Und bot man ihm eine Stellung außerhalb des Wassers an, wurde ihm schon von der Vorstellung übel, sein göttlicher Atem geriet in Unordnung, sein eherner Brustkorb schwankte. Übrigens nahm man seine Beschwerden nicht eigentlich ernst; wenn ein Mächtiger quält, muß man ihm auch in der aussichtslosesten Angelegenheit scheinbar nachzugeben versuchen; an eine wirkliche Enthebung Poseidons von seinem Amt dachte niemand, seit Urbeginn war er zum Gott der Meere bestimmt worden und dabei mußte es bleiben.
Am meisten ärgerte er sich – und dies verursachte hauptsächlich seine Unzufriedenheit mit dem Amt – wenn er von den Vorstellungen hörte, die man sich von ihm machte, wie er etwa immerfort mit dem Dreizack durch die Fluten kutschiere. Unterdessen saß er hier in der Tiefe des Weltmeeres und rechnete ununterbrochen, hie und da eine Reise zu Jupiter war die einzige Unterbrechung der Eintönigkeit, eine Reise übrigens, von der er meistens wütend zurückkehrte. So hatte er die Meere kaum gesehn, nur flüchtig beim eiligen Aufstieg zum Olymp, und niemals wirklich durchfahren. Er pflegte zu sagen, er warte damit bis zum Weltuntergang, dann werde sich wohl noch ein stiller Augenblick ergeben, wo er knapp vor dem Ende nach Durchsicht der letzten Rechnung noch schnell eine kleine Rundfahrt werde machen können.


Fragen/Aufgaben

Orientieren Sie sich beim Schreiben Ihrer ca. zweiseitigen Interpretation bitte an nachstehenden Fragen bzw. Aufgaben (die einer realen Prüfungsaufgabe entnommen sind). Sie können mir Ihre Ergebnisse gern schicken, dann gebe ich Feedback.

Wie ist der Text erzählt?

Es handelt ich um einen extradiegetischen, heterodiegetischen, verborgenen Erzähler, der retrospektiv berichtet und nullfokalisiert ist. Im Grunde bezeichnet die Erzählsituation eine Leerstelle, der Text ist betont neutral erzählt. Da es sich um einen mythologischen Gegenstandsbereich handelt, ist diese Normalität aber befremdlich. Denn „normaler­weise“ haben wir keine Einsicht in die Psychologie der Götter. Kafka exportiert also entweder ein altes Thema in neue Erzählweisen oder importiert die Erzählsituation einer anderen Gattung (wie des psychologischen Romans) in ein mythologisches Setting.

Wie und auf welchen Ebenen arbeitet der Text mit Zeit?

Auch hier widersprechen sich die Angaben. Retrospektives Erählen bezieht sich im Kontext von Märchen und Mythen meist auf eine unbestimmte Vorzeit, hier jedoch wird eine konkrete Vergangenheit, fast ein bestimmter Zeitpunkt fingiert: „Poseidon saß an seinem Arbeitstisch und rechnete.“ Im Gegensatz zur Zeitenthobenheit des Mythos ist es nun gerade der Mangel an Zeit, der die Geschichte inhaltlich strukturiert. Poseidon ist im Stress. Dass am Schluss der Weltuntergang angesprochen wird, springt nun wieder zurück auf die viel größeren Einheiten von Zeit im Mythos. Der Text thematisiert somit die Relativität von Zeit.

Wie entwirft der Text den Raum?

Oben und unten sind im Text klar semantisiert, die Frage ist nur: wie? Poseidon sitzt unten, unter Wasser, unter dem sprichwörtlichen Berg von Arbeit, sein gelegentlicher Aufstieg zum Olymp wird aber auch nicht als positive Alternative gewertet. Interessant ist vor allem Poseidons Verzicht auf eine horizontale Bewegung. Obwohl er einen sehr großen, eigentlich unbeherrschbaren Raum verwaltet (oder über ihn gebietet), hat er die Ozeane nie durchfahren. Im Hintergrund steht hier die These der Entfremdung – von Mensch und Gott, Mensch und Bürokratie, Mensch und Macht.

Welche Merkmale weisen die Figuren auf?

Poseidon weist fast keine göttlichen Attribute auf und wirkt gefangen in seiner Gewissenhaftig­keit. Was genau es im Meer zu rechnen gibt, wird gar nicht erwähnt, weshalb auch unklar bleibt, ob Poseidon die Notwendigkeit seiner Arbeit richtig einschätzt. Viel eher gleicht er einem Mitarbeiter einer eigentlich beliebigen Behörde, der langsam die Relation zur Außenwelt verliert.

Wie verhalten sich die drei Bildbereiche (Götter/Meer/Verwaltung) zueinander?

Die drei Bildbereiche haben eine erstaunlich große Schnittmenge, die in der Gleichzeitig­keit von Unbehrrschbarkeit und Beherrschung/Macht kondensiert. Interessant ist jedoch, dass die Gegenstände der Metaphysik letztlich Ideen sind (woher kommen wir? wohin gehen wir? etc.), das Meer primär als Summe natürlicher Gegebenheiten wahrgenommen wird, die Bürokratie aber den Menschen selbst und seine Lebensspuren zum Gegenstand hat.

Was ist das Thema der Erzählung?

Kafkas kurzer Text geht daher weit über eine bloße Kritik der Bürokratie hinaus. Denn er stellt letztlich die Frage nach der Sinnstiftung bzw. dem Sinn des Lebens. Zwischen den üblichen Alternativen, Religion (Gott hat’s gemacht!) und Natur (Evolution!), scheint hier eine dritte Möglichkeit auf: der Mensch selbst. In dieser Lesart wäre der Sinn des Lebens die Entscheidung, dem Leben Sinn zu geben, indem man einen Sinn annimmt, und sei es auf die bekloppte Art von Poseidon – durch Mathematik.