Lyrik: Zeit und Raum
Aufgabe: Rekonstruieren Sie die zeitliche und räumliche Ordnung in Georg Trakls Gedicht »De profundis«.
Zur zeitlichen Ordnung: Das Gedicht schildert zu Beginn (Versgruppe 1+2) eine abendliche Szene bei schlechtem Wetter (vgl. »wie traurig dieser Abend«); die Sonne ist noch nicht ganz untergegangen (»in der Dämmerung«), die Wolken brechen auf (»goldig«). In Versgruppe 3 hat ein zeitlicher Wechsel stattgefunden, die Hirten finden »den süßen Leib« des Mädchens aus den Versen 1-8 »verwest im Dornenbusch«, d.h. das Mädchen ist gestorben (getötet worden) und wurde liegen gelassen. Die Versgruppen 4+5 stehen gewissermaßen außerhalb der zeitlichen Ordnung, da sie einen noch andauernden Zustand beschreiben (Präsens: »bin ich«, »tritt«, »suchen«, »ist«, »erlöscht« vs. Präteritum: »trank ich«); in Versgruppe 6 kehrt der Text zur zeitlichen Abfolge zurück (»nachts fand ich mich«), wobei gleichzeitig eine Art Kreislauf angedeutet wird (»klangen wieder«). Das Gedicht folgt zeitlich der Logik eines Krimis (vgl. Fritz Langs Spielfilm M – Eine Stadt sucht einen Mörder von 1931). Erst sieht man das Opfer unversehrt, dann die Folge der Tat durch Zeugen, dann versetzt uns der Text in den Kopf des offenbar psychisch kranken (Trieb-)Täters.
Zur räumlichen Ordnung: Das Gedicht entwickelt ein ländliches Panorama; wir sehen Bäume, Felder, Hütten, Dörfer (»Weiler«), Weiden (»Heimkehr« der Hirten), verschiedene Büsche, kleine Wäldchen (»Hain«), einen Brunnen, Heide. Bestimmend ist hier die Distanz zwischen den einzelnen Orten (»ferne finsteren Dörfern«), die sich in horizontaler Richtung ausdehnt. Die »sanfte Waise« ist offenbar von der Gesellschaft ausgestoßen (Armut aufgrund des Verlusts der Eltern), genauso bewegt sich der Täter außerhalb der Kultur (außerhalb der bewohnten Dörfer). Hinzu kommt eine vertikale Ordnung. Die Höhe ist analog zur christlichen Lehre positiv konnotiert (»Augen weiden rund und goldig in der Dämmerung«, »himmlischer Bräutigam«, »Licht«, »Sterne«, »Engel«), die Tiefe (vgl. den Titel = Beginn des 130. Psalms der Lutherbibel, sogenannter Bußpsalm) ist negativ besetzt (»schwarzer Regen fällt«, »Gottes Schweigen« im »Brunnen des Hains« etc.). Diese doppelte räumliche Ordnung stellt zwei Weltdeutungen gegeneinander: die flache Erde (Natur vs. Kultur als Frage von Zivilisation) und die Metaphysik (oben und unten/Himmel und Hölle).
Lesart: Das Gedicht kombiniert zwei damals (1913) aktuelle Ideen. Einmal das Theodizee-Problem: Wie kann Gott das Böse auf der Welt, z.B. den Tod des Mädchens, zulassen? Dann die noch brandneue Psychopathologie: Was macht das Unbewusste mit uns? Also Nietzsche und Freud, wenn man so will.