Praxis: Routine

Franz Josef Degenhardt: »Spaziergang« (1966)

Musterlösung/Lösungsvorschlag (Analyse eines komplexen lyrischen Textes)[1]

Degenhardt entwickelt in 24 Versen eine komplexe Geschichte: Ein Vater geht mit seinem Sohn spazieren und erinnert anlässlich der Szenerie ein Kriegserlebnis. Bei dem »zwölf Schritte hin zum Wald« (V. 7) begrabenen »Kind« (V.8) handelt es sich offenkundig um einen jugend­lichen Wehr­machtssoldaten, der aufgrund von Desertation[2] standrechtlich er­schossen wurde. Die im NS-Regime notorische Dezentralisation[3] von Verantwortlichkeit wird hier als Befehls­kette sichtbar, der »Offizier« (V. 10) bestimmt den Vater, das Kommando zu bilden (»die Leute hab ich ausgesucht«, V. 13). Die Anwesenheit des »laut fluchenden« »alten Mannes« (V. 14) erhellt, spiegelbild­lich zum Delinquenten[4], dass wir es mit einer Ein­heit des sogenannten Volkssturms zu tun haben; das »Kind« ist somit, wie der textimmanent[5] genannte Sohn, ca. sechzehn Jahre alt. »Doch keiner hat vorbei­gezielt«, wie es in Vers 15 mit Blick auf die ebenfalls mit dem Tode bestrafte Möglichkeit der Insubordi­nation[6] heißt. Trotz moralischer Bedenken, so der Tenor, funktioniert das national­sozialis­tische Pflichtphantasma[7] bis in die letzten Kriegsmonate hinein.

Für die Entfaltung einer Message ist die Rahmung des Textes entscheidend. Denn der die Episode buchstäblich en passent[8] erzählende Vater zweifelt gegen Ende des Liedes an der Faktizität[9] seiner Erinnerung (»vielleicht ist alles gar nicht wahr«, V. 19) und überspielt die Situation mit der ausgestellten Sorge um das leibliche Wohl (»ich hab Durst auf kühles Bier«, V. 24). Das präsentierte Modell von Vergangenheitsbewältigung zeichnet sich demnach einer­seits durch ein Verschweigen der Erlebnisse aus (offenbar erzählt der Vater das erste Mal davon), scheint aber andererseits einer gelegentlichen Thematisierung der eigenen Ver­strickung nicht abge­neigt. Die durch eine fast kokette Analogisierung[10] vorbereitete Schock­wirkung (»ein Kind wie du so alt«, V. 8) birgt nämlich die Möglichkeit der Relativierung[11] (»Was ist? Was bleibst du stehn, mein Sohn?«, V. 21), die ex negativo[12] die tatsächliche Schuld erahnen lässt. Der Text spricht folglich nicht primär[13] über die Verbrechen der NS-Zeit, sondern kritisiert eine mangelhafte Ausein­ander­setzung der Tätergeneration mit ihr.

Für die vorliegende Untersuchung ist der Text vor allem formal interessant, zunächst hinsicht­lich der Wortfelder. Degenhardt entwirft ein Panorama ländlicher Idylle, deren Ur­wüchsigkeit  (»Weiden«, »Bach«, »Brombeerstrauch«, »Wald«, »wilde Kirschen«, »Birke«, »Bussard­paar«, V. 2/3/6/7/16/17/20) der zivilen Kulti­vierung[14] (»Roggenfeld«, »Rauch«, »bellender Hund«, »Schober«, »Gasthof«, V. 4/5/12/18/23) eigentlich nicht ent­gegen steht. Im Moment des Geschehens aber liegt das Roggenfeld »brach« (V. 4), rauchen, wenn über­haupt, Trümmer und bellt der Hund des Staffel­führers[15], das heißt es findet eine negativ bewertete Umwidmung[16] statt (Wald als Kriegs­schauplatz, als Grabstätte des Kindes). Dieser Modus der Uneigentlichkeit[17] findet seine Entsprechung in den zwei zentralem Euphemis­men[18] (»nach Hause gehen«, »dorthin ge­stellt«, V. 9/11) sowie der Aus­sparung militärischer Termi­nologie (einzig der »Offizier« verrät den Kontext). Und auch die paargereimte, in vier­hebigen Jamben parlierende[19] Liedform unter­miniert[20] die angezeigte Be­troffenheit des Hörers.

Der Text holt diesen Kontrast durch die Erfüllung der Parameter[21] eines ganz anderen Genres ein, namentlich der gattungsintegrativen Ballade vom Typus Goethes.[22] Und Goethe ist es auch, der den ent­scheidenden Intertext[23] liefert. Im formalen Aufbau, der Szenerie und dem Konflikttyp erinnert Degenhardts Lied stark an den »Erlkönig«, dessen leitmotivisch verwendete Anreden (»mein Sohn«, »mein Kind«, »mein Vater«) den Verweis explizieren[24]. Wie die numinose[25] Gestalt des Erlkönigs drängen die Dämonen der NS-Vergangenheit herauf, wie im Vorbild beschwichtigt der Vater die (in beiden Fällen berechtigten) Sorgen seines Kindes. Degenhardt kann auf eine Kenntnis des Prätextes[26] vertrauen, handelt es sich doch (damals wie heute) um Schullektüre. Entscheidend ist seine poetische Strategie. Da es sich, anders als beim Vorbild, um ein vorgetragenes Lied handelt, dessen konservierte Performance[27] sozusagen die Textgrundlage bildet, entwickeln die vor allem in den ersten zwei Strophen dominanten Lokaladverbien (»hier«, »da drüben«, »dort«, »rechts«, »links davon«, »von dort«, »da«, »dorthin«, »dort«, »über uns«, »weit von hier«, V. 1/2/3/5/6/7/8/ 11/16/20/23) eine starke deiktische[28] Funktion. Da die Rezeption im Präsens der Aufführung[29] erfolgt, synchronisiert das Tempus der Rahmen­erzählung die Wahr­nehmungen.[30] Der Hörer muss, kurz gesagt, vier Systeme zur Deckung bringen: die deutsche Geschichte, die Literatur­geschichte, die gesellschaftlichen Realitäten zum Veröffentlichungs­zeitpunkt und die damals ebenfalls aktuellen popmusi­kalischen Schreibweisen. Und dies gelingt nur, wenn sich der Text selbst als ›Anderes‹ der Umwelt (oder Lebenswelt) begreift – und beschreibt.[31]

Ole Petras

[1] Die Analyse entstammt einem Aufsatz, der sich mit Selbstreflexivität (Selbstbezüglichkeit) in der deutsch­sprachigen Popmusik beschäftigt, und ist insofern in eine übergeordnete Argumentation eingebunden.

[2] = unerlaubtes Entfernen von der Truppe.

[3] = gewohnheitsmäßige Umverteilung (weil: niemand will Schuld haben).

[4] = Verurteilter.

[5] = im Text.

[6] = Befehlsverweigerung.

[7] = die nationalsozialistische Vorstellung soldatischen Pflichtbewusstseins (Phantasma, wörtlich: ›Trugbild‹).

[8] = wörtlich: ›im Vorbeigehen‹.

[9] = Wirklichkeit, Gegebenheit.

[10] = nach Aufmerksamkeit strebender, eher scherzhafter Vergleich.

[11] = des Herunterspielens.

[12] = aus dem, was nicht gesagt wird.

[13] = in erster Linie.

[14] = Nutzung in Friedenszeiten.

[15] = Vorgesetzter einer militärischen Einheit.

[16] = einer anderen Nutzung zuführen.

[17] = Man sagt etwas und meint etwas anderes.

[18] = beschönigende Umschreibung (der E. ist ein Tropus, d.h. eine Figur der Wortbedeutung).

[19] = plaudern (das Parlando ist eine stark rhythmisierte, dem Sprechen angenäherte Art des Gesangs).

[20] = unterwandert.

[21] = Merkmale.

[22] = nach Goethe ist die Ballade das »Ur-Ei« der Dichtung, weil sie Elemente aus Lyrik (Versform), Epik (Hand­lung) und Dramatik (Dialoge) verbindet.

[23] = nach Genette die »effektive Präsenz eines Textes in einem anderen« (ein Zitat als Verweis auf XY).

[24] = offenlegen.

[25] = das zugleich Schauer und Vertrautheit erweckende Übersinnliche (Göttliche).

[26] = Vorbild.

[27] = Aufnahme, Recording (der Text ist zuerst auf Schallplatte veröffentlicht worden).

[28] = (hin-)weisen, zeigen.

[29] = das Hören des Liedes macht die Stimme des Sängers zu einem (vermeintlichen) Dialogpartner. Wir müssen nicht (wie in der Literatur) Symbole entschlüsseln, sondern werden direkt angesprochen.

[30] = versetzt uns die grammatische Zeit (also das Präsens) des Anfangs in die gleiche Stuation wie den Jungen. Wir werden (scheinbar) direkt angesprochen.

[31] Die letzten beiden Sätze beziehen sich auf das Thema des Aufsatzes (ich operiere mit Luhmann, deshalb das ›System‹). Gemeint ist der Bruch der damaligen Erwartungshaltung in Bezug auf die Nazi-Generation. Der Text präsentiert eine Alternative zum Verschweigen, indem er die damit einhergehende Haltung problematisiert.