Erzähler und Erzählte Welt

Aufgabe 1: Handelt es sich bei nachfolgendem Romananfang um einen impliziten oder expliziten Erzählakt?

Aus dem Spiegel der Zugtoilette betrachtete mich ein blasses Gesicht, die Haare unordentlich, auf der Wange die Abdrücke der Sitzpolsterung. Ich schloß den Rasierer an, er funktionierte nicht. Ich öffnete die Tür, sah noch den Schaffner am anderen Ende des Waggons und rief, daß ich Hilfe bräuchte. Er kam und sah mich mit einem dünnen Lächeln an. Der Rasierer, sagte ich, funktioniere nicht, offenbar gebe es hier keinen Strom. Natürlich gebe es Strom, antwortete er. Nein, sagte ich. Doch, sagte er. Nein! Er zuckte die Achseln, dann seien es vielleicht die Leitungen, er könne jedenfalls nichts machen. Aber das sei doch das mindeste, sagte ich, was man von einem Schaffner erwarte! Nicht Schaffner, sagte er, Zugbegleiter. Ich sagte, das sei mir egal. Er fragte, wie ich das meine. Egal, sagte ich, wie man diesen über­flüssigen Beruf nenne. Er würde sich, sagte er, von mir nicht beleidigen lassen, ich solle auf­passen, er könne mir auch in die Fresse hauen. Das möge er versuchen, sagte ich, ich würde mich ohnehin beschweren, er solle mir seinen Namen nennen. Er dächte nicht daran, sagte er, und ich stänke und bekäme eine Glatze. Dann wandte er sich ab und ging fluchend davon. Ich schloß die Toilettentür und sah besorgt in den Spiegel. Natürlich war da keine Glatze; rätsel­haft, wie der Affe darauf gekommen war.

Daniel Kehlmann: Ich und Kaminski. Roman. Frankfurt am Main 2003, S. 9f.

→ Zwar gibt der Text keine Auskunft über sein ›Erzähltwerden‹, expliziert den Erzählakt also nicht, durch die Verwendung der indirekten Rede (»Er fragte, wie ich das meine«) aber wird die Vermitteltheit (oder Distanz zum Geschehen) dennoch erkennbar. Der Erzählakt ist somit explizit und die Perspektive auf das Geschehen eindeutig die eines autodiegetischen Erzählers. Die Pointe des Verfahrens wäre, dass wir quasi über die Bande Dinge über den Erzähler erfahren, die dieser kaum preisgeben würde, etwa seine Eitelkeit (Kontrolle der Glatze), sein cholerisches Wesen (Ton der Beschwerde), seine Arroganz (Bezeichnung als Schaffner) etc.


Aufgabe 2: Warum lässt sich nachfolgendes Märchen nur mit sehr großem Aufwand von einem homodiegetischen Erzähler erzählen?

Es war einmal ein Hans der war so unerhört dumm, daß i‹h›n sein Vater in die weite Welt jagte. Er rennt vor sich hin bis er an Meeresufer kommt, da setzt er sich hin und hungert. Da kommt eine häßliche Kröte auf ihn zu und quackt, umschling mich und versenk dich! So kommt sie zweimal, er weigert sich, wie sie aber zum dritten mal kommt, folgt er ihr. Er sinkt unter und kommt in ein schönes Schloß unter dem Meer. Hier dient er der Kröte. Endlich heißt sie ihn mit ihr zu ringen, und er ringt, und die haßliche Kröte wird zu einem schönen Mädchen und das Schloß mit all seinen Gärten steht auf der Erde. Hans wird gescheidt geht zu seinem Vater und erbt sein Reich.

Brüder Grimm: »13. Dümmling«. In: Dies.: Kinder- und Hausmärchen. Die handschriftliche Urfassung von 1810. Hg. und kommentiert von Heinz Rölleke. Stuttgart 2007, S. 28.

→ Durch seine anfängliche Dummheit verfügt Hans nicht über das nötige Reflexions­vermögen, um eine Erzählhaltung auszubilden. Jede andere Figur (der König, ein Freund) müsste den Wechsel in den Reich der Kröte mitvollziehen. Die Kröte scheidet als Erzähler aus, weil sie zu Beginn der Erzählung nicht dabei ist. Man könnte den Text retrospektiv von Hans erzählen lassen, tilgte damit aber zugleich die Spannung – wir wollen ja wissen, was mit jemandem geschieht, der so dumm ist, dass er sich, wenn er an ein »Meeresufer« kommt, hinsetzt und »hungert«. Wunderbare Texte wie dieses Märchen leben vom Informationsvorhalt. Versuchen Sie mal spaßeshalber die Geschichte aus Sicht von Hans, der Kröte (bzw. des schönen Mädchens) oder des Königs zu erzählen. Schräg.