Epik: Geschichte

Aufgabe 1: Identifizieren Sie in folgendem Textauszug (Kafka: Ein Landarzt) ein Geschehnis und ein Ereignis. Begründen Sie ihre Auswahl.

Aufgabe 2: Fertigen Sie eine Zeitstrahl an, der die Ihrer Meinung nach relevanten Ereignisse in eine chronologische Reihenfolge bringt. Wägen Sie hierbei ab: Wenn Sie zu detailliert vorgehen, kopieren Sie den Text. Wenn Sie zu grob vorgehen, erleichtert Ihnen die Skizze nicht die Orientierung im Text.

Aufgabe 3: Überprüfen Sie die Kausalität der Abfolge. Gibt es Brüche oder Auffälligkeiten, die gesondert motiviert werden müssten?

Ich war in großer Verlegenheit: eine dringende Reise stand mir bevor; ein Schwerkranker wartete auf mich in einem zehn Meilen entfernten Dorfe; starkes Schneegestöber füllte den weiten Raum zwischen mir und ihm; einen Wagen hatte ich, leicht, großräderig, ganz wie er für unsere Landstraßen taugt; in den Pelz gepackt, die Instrumententasche in der Hand, stand ich reisefertig schon auf dem Hofe; aber das Pferd fehlte, das Pferd. Mein eigenes Pferd war in der letzten Nacht, infolge der Überanstrengung in diesem eisigen Winter, verendet; mein Dienstmädchen lief jetzt im Dorf umher, um ein Pferd geliehen zu bekommen; aber es war aussichtslos, ich wußte es, und immer mehr vom Schnee überhäuft, immer unbeweglicher werdend, stand ich zwecklos da. Am Tor erschien das Mädchen, allein, schwenkte die Laterne; natürlich, wer leiht jetzt sein Pferd her zu solcher Fahrt? Ich durchmaß noch einmal den Hof; ich fand keine Möglichkeit; zerstreut, gequält stieß ich mit dem Fuß an die brüchige Tür des schon seit Jahren unbenützten Schweinestalles. Sie öffnete sich und klappte in den Angeln auf und zu. Wärme und Geruch wie von Pferden kam hervor. Eine trübe Stallaterne schwankte drin an einem Seil. Ein Mann, zusammengekauert in dem niedrigen Verschlag, zeigte sein offenes blauäugiges Gesicht. »Soll ich anspannen?« fragte er, auf allen vieren hervorkriechend. Ich wußte nichts zu sagen und beugte mich nur, um zu sehen, was es noch in dem Stalle gab. Das Dienstmädchen stand neben mir. »Man weiß nicht, was für Dinge man im eigenen Hause vorrätig hat«, sagte es, und wir beide lachten. »Holla, Bruder, holla, Schwester!« rief der Pferdeknecht, und zwei Pferde, mächtige flankenstarke Tiere, schoben sich hintereinander, die Beine eng am Leib, die wohlgeformten Köpfe wie Kamele senkend, nur durch die Kraft der Wendungen ihres Rumpfes aus dem Türloch, das sie restlos ausfüllten. Aber gleich standen sie aufrecht, hochbeinig, mit dicht ausdampfendem Körper. »Hilf ihm«, sagte ich, und das willige Mädchen eilte, dem Knecht das Geschirr des Wagens zu reichen. Doch kaum war es bei ihm, umfaßt es der Knecht und schlägt sein Gesicht an ihres. Es schreit auf und flüchtet sich zu mir; rot eingedrückt sind zwei Zahnreihen in des Mädchens Wange. »Du Vieh«, schreie ich wütend, »willst du die Peitsche?«, besinne mich aber gleich, daß es ein Fremder ist, daß ich nicht weiß, woher er kommt, und daß er mir freiwillig aushilft, wo alle andern versagen. Als wisse er von meinen Gedanken, nimmt er meine Drohung nicht übel, sondern wendet sich nur einmal, immer mit den Pferden beschäftigt, nach mir um. »Steigt ein«, sagt er dann, und tatsächlich: alles ist bereit. Mit so schönem Gespann, das merke ich, bin ich noch nie gefahren, und ich steige fröhlich ein. »Kutschieren werde aber ich, du kennst nicht den Weg«, sage ich. »Gewiß«, sagt er, »ich fahre gar nicht mit, ich bleibe bei Rosa.« »Nein«, schreit Rosa und läuft im richtigen Vorgefühl der Unabwendbarkeit ihres Schicksals ins Haus; ich höre die Türkette klirren, die sie vorlegt; ich höre das Schloß einspringen; ich sehe, wie sie überdies im Flur und weiterjagend durch die Zimmer alle Lichter verlöscht, um sich unauffindbar zu machen. »Du fährst mit«, sage ich zu dem Knecht, »oder ich verzichte auf die Fahrt, so dringend sie auch ist. Es fällt mir nicht ein, dir für die Fahrt das Mädchen als Kaufpreis hinzugeben.« »Munter!« sagt er; klatscht in die Hände; der Wagen wird fortgerissen, wie Holz in die Strömung; noch höre ich, wie die Tür meines Hauses unter dem Ansturm des Knechts birst und splittert, dann sind mir Augen und Ohren von einem zu allen Sinnen gleichmäßig dringenden Sausen erfüllt.

Franz Kafka: »Ein Landarzt«. In: Die neue Dichtung. Ein Almanach. Leipzig 1918.

Zu Aufgabe 1: Es ist tatsächlich schwierig ein Geschehnis, d.h. eine Zustandsveränderungen ohne Konsequenz für die Geschichte zu identifizieren, da Kafka eine sehr präzise Prosa schreibt: alles ist irgendwie funktional. Selbst die schwankende »trübe Stallaterne« erhellt den Stall und ermöglicht so die Wahrnehmung der eigentlich unmöglichen Konstellation. Fehlte die Laterne, würden wir nicht wissen, dass die zwei Pferde unmöglich in den Stall passen können. Wäre der Stall gut u.d.h. von mehr als einer Laterne beleuchtet, müsste der Text sich zu der physikalischen Unmöglichkeit positionieren.

Ereignisse, also Zustandsveränderungen mit Konsequenz für die Geschichte, gibt es in dem Text viele; zuerst wäre vielleicht der wütende Tritt an die Stalltür zu nennen, der die Ereignisskette in Gang bringt.

Zu 2.) harter Winter – Tod des Pferdes – Läuten der Nachtglocke – scheiternde Suche – Wut des Arztes/Tritt an die Stalltür – Erscheinung des Knechtes und der Pferde – Verwunderung des Arztes/der Magd  – Anweisung der Hilfe – Biss des Knechtes – Verweis/Beherrschung – Bewunderung der Kutsche/Einstieg – Offenlegung der Bedingungen des Handels  – Abfahrt der Kutsche/Flucht der Magd

3.) Die angelegte Kausalität enstpricht grundsätzlich unserem Weltwissen; es gibt aber zwei Auffälligkeiten:

a) das Auftreten des Knechts und der Pferde. Die im Text gegebene Rechtfertigung (»Man weiß nicht, was für Dinge man im eigenen Hause vorrätig hat«) reicht nicht aus, um die Außerordentlichkeit zu verschleiern, wenngleich eine rationale Deutung noch denkbar wäre.

b) der Biss des Knechts zeigt im Zusammenhang seines wunderlichen Auftritts, dass wir es nicht mit einer ›normalen‹, d.h. realitätskompatiblen erzählten Welt zu tun haben. Oder?

Sie haben mit diesem Analyseschritt zwei Fragen aufgeworfen, die Sie nun mithilfe anderer Analysekategorien (etwa: Figuren) beantworten können.