Theorie: Erzählen

Aufgabe 1: Erläutern Sie mithilfe der Definition von Aristoteles das Phänomen Cliffhanger!

Ganz ist, was Anfang, Mitte und Ende besitzt. Anfang ist, was selbst nicht notwendig auf ein anderes folgt, aus dem aber ein anderes natürlicherweise wird oder entsteht. Ende ist umge­kehrt, was selbst natürlicherweise aus anderem wird oder entsteht, aus Notwendig­keit oder in der Regel, ohne dass aus ihm etwas weiteres mehr entsteht. Mitte endlich, was nach anderem und vor anderem ist.

Aristoteles: Poetik. Hg. von Olof Gigon. Stuttgart 1961, S.33f.

→ Ein Cliffhanger erklärt entweder eine Mitte zum (unbefriedigenden) Ende, unterteilt einen großen Spannungsbogen in kleinere Einheiten (oder: Unter-Geschichten) oder baut in die Erzählung eines Endes einen neuen Anfang ein. Vergleichen Sie Serien wie Game of Thrones oder Breaking Bad, die eine kontinuierliche Erzählung entwickeln, mit Sitcoms wie den Simpsons, bei denen die Figuren keine bleibende Entwicklung durchlaufen und zu Beginn jeder Folge alle Einstellungen ›auf Null‹ gesetzt sind (außer beim Tod von Flanders Frau, versteht sich). Cliff­hanger sind eigentlich nur in ersterem Fall möglich.


Aufgabe 2: Überlegen Sie, welche Fiktionalitätssignale es geben könnte!

Fiktionalität, f. [vom lat. Substantiv fictio zum Verb fingere = gestalten, erdichten, vor­täuschen], eine Eigenschaft vieler lit. Texte. ›Fiktional‹ bezeichnet eine bestimmte Sprachver­wendung oder Redeform, die durch einen scheinbar paradoxen Wahrheits­anspruch gekenn­zeichnet ist: Fiktionale Rede behauptet, dass etwas der Fall ist – allerdings nicht im Hinblick auf unsere Wirklichkeit, sondern mit Bezug auf die imaginäre Objektivität einer erzählten Welt. Der seit der Antike (Platon: »Politeia«) immer wieder erhobene Vorwurf, dass Dichter lügen, beruht deshalb auf einem Miss­verständnis: Anders als ein Lügner, der in täuschender Absicht etwas Falsches über die Wirklichkeit behauptet, präsentiert der Dichter im Modus der fiktionalen Rede seinem Publikum eine Geschichte, die in einer imaginären Welt, nicht aber in der Wirklichkeit stattgefunden haben soll. Ob der Leser ein Werk als fiktional oder nicht­fiktional (›faktual‹) versteht, wird in der Regel durch Fiktionalitätssignale gesteuert, die sich inner- oder außerhalb des Textes befinden können. […]

Matias Martinez: »Fiktionalität« [Art.]. In: Metzler Lexikon Literatur. Hg. von Dieter Burdorf, Christoph Fasbender, Burkhard Moennighoff. 3. Aufl. Stuttgart/Weimar 2007, S. 240.

→ Fiktionalitätssignale sind in erster Linie Paratexte (Genreangaben wie »Roman«, Titel, Covergestaltung, redaktionelle Hinweise), können aber auch im Text selbst angelegt sein, etwa durch eine wunderbare Anlage der erzählten Welt (es gibt Zwerge und Hexen). Es ließe sich argumen­tieren, dass eigentlich mit jeder Form der Narrativierung ein Akt der Fiktionalisierung verbunden ist, weil jede Erzählung aufgrund der genannten Charakteristika Komplexität reduziert. Wir beobachten gerade einen Shift in der Wahrnehmung: Trumps Wort von den »Fake-News« tut so, als ließe sich auch die Wirklichkeit modellieren wie eine erzählte Welt, indem man die ungeliebten Informationen schlicht ausspart.