Dramenanalyse – Theorie

Lessings bürgerliches Trauerspiel Emilia Galotti verarbeitet den Verginia-Stoff, eine antike Legende, in der Verginius seine Tochter ermordet, um sie dem Zugriff des römischen Herrschers Appius Claudius zu entziehen. Das Stück wurde 1772 anlässlich des Geburtstages der Herzogin Philippine Charlotte in Braunschweig uraufgeführt.


Aufgabe 1: Lesen Sie das Drama Emilia Galotti von Gotthold Ephraim Lessing.

Aufgabe 2: Versuchen Sie die fünf von Freytag benannten Dramenteile zu identifizieren und an Textbeispielen zu veranschaulichen.

Einleitung resp. Ausgangszustand: der Prinz ist in Emilia verliebt, Emilia plant den Grafen Appiani zu heiraten (I,6). Erregendes Moment: der Prinz autorisiert Marinelli, »alles« zu tun, was in seiner Macht steht, um die Hochzeit zu verhindern; er erteilt ihm Carte blanche, ohne die möglichen Folgen zu bedenken. (ebenfalls I, 6: »Wollen Sie mir freie Hand lassen, Prinz? Wollen Sie alles genehmigen, was ich tue?«)

Steigerung Marinelli spinnt seine Intrige, Emilia hadert mit den Avancen des Prinzen (II,6)

Höhepunkt Graf Appiani, Emilias Verlobter, weigert sich, die Stadt aufgrund eines Fake-Auftrags zu verlassen (II,10); Marinelli schickt die Räuber los. Tragisches Moment: der Tod Appianis (III, 2) ist ein absoluter Wendepunkt im Drama; ab jetzt kann es kein Happy-End für Emilia mehr geben.

Fall/Umkehr Emilia wird auf das Lustschloß des Prinzen gebracht. Retardierendes Moment: die Gräfin Orinsa plant eine Coup gegen den Prinzen, den Emilias Vater Oduardo ausführen soll (IV,7); durch die Rache Appianis würde zwar kein Happy-End erreicht, aber die Gerechtgkeit auf der Bühne wieder hergestellt.

Katastrophe Oduardo zögert aufgrund der Freundlichkeit des Prinzen (bzw. von Gottes- und Gesetzestreue) und der neuerlichen Intrige Marnellis, der Emilia zur vorgeblichen Aufklärung des Verbrechens am Hof halten will. Emilia fürchtet nun, den Annäherungsversuchen des Prinzen nicht länger standhalten zu können und damit untugendhaft zu werden (»Ich habe Blut, mein Vater, so jugendliches, so warmes Blut als eine.« V,7); die einzige Möglichkeit, ihre Autonomie zu wahren, scheint im Selbstmord zu liegen. Oduardo ersticht daraufhin seine Tochter, weil sie als Selbstmörderin nicht in den Himmel kommen würde; er opfert sein Seelenheil und das Leben seiner Tochter der Idee (bürgerlicher) Selbstbestimmung.

Aufgabe 3: Ist das Drama wahrscheinlich, obwohl Lessing die drei aristotelischen Einheiten verletzt? Welche Furcht nimmt der Zuschauer mit aus dem Theater?

Die drei Einheiten werden weitesgehend eingehalten: Es gibt nur eine Haupthandlung (selbst der Erzählstrang um Orsina wird am Schluss funktionalisiert), der Zeitraum umfasst nicht mehr als einen Tag, der Schauplatz beschränkt sich auf die Stadt. Hier sind die konkreten Handlungsorte von Interesse: ein Kabinett des Prinzen (I. Akt), ein Saal im Hause Galotti (I. Akt), eine Vorsaal im Lustschloss des Prinzen (III.-V. Akt). Obwohl das Drama also strenggenommen drei Szenen aufweist, sind sämtliche dieser Räume privater Natur. Die Tragödie findet also nicht auf der großen (Staats-)Bühne statt, die der Zuschauer ohnehin nicht betreten würde, sondern gleichsam in intimem Rahmen. Die Furcht betrifft ganz klar die Verletzung des geschützten Privatraums.

Aufgabe 4: Wie ist es zu verstehen, dass in diesem berühmten bürgerlichen Trauerspiel so viele Adlige herumlaufen?

Die Ständeklausel bezieht sich weniger auf das Personal des Dramas, als vielmehr auf die dargestellten Konflikte. Auch in einem Schwank oder einem Lustspiel darf ein Adliger vorkommen, er darf nur nicht in den Misthaufen fallen oder sonstwie lächerlich gemacht werden. Da Gottsched von relativ statischen Charakteren ausgeht, müssen seine Helden unantastbar und damit adlig sein. Lessing verschiebt den Fokus: Die bürgerliche Familie Galotti wird zum Objekt aristokratischer Willkür; sie kann sich, trotz fehlerfreien Verhaltens, nicht dem Zugriff entziehen und entfaltet damit ein tragisches Potential. Aber nicht alle Adligen sind schlecht, wie das Stück am Grafen Appiani und am Rat Camillo Rota zeigt, die beide nicht an politischen Intrigen interessiert sind bzw. ihre politische Macht nicht leichtfertig einsetzen. Das Stück ist also nicht revolutionär in dem Sinne, dass es die Abschaffung der Monarchie anstrebte (vgl. die Umstände der Uraufführung), es kritisiert vielmehr die im Zuge des Absolutismus auftretende Machtkonzentration und die damit verbundene Gefahr von Willkürherrschaft, die mit dem auf Autonomie, Leistung und Aufstieg bedachten Bürgertum nicht vereinbar ist.

Zusatzaufgabe: Warum geht es am Anfang die ganze Zeit um Bilder?

Der Prinz urteilt aufgrund von Äußerlichkeiten; das Bild der Emilia erscheint ihm schöner als das der Orsina; nur aufgrund dieses Eindrucks gibt er Marinelli »freie Hand«. Es geht also um die Problematik der Repräsentation, wie sie etwas später (I,8) am Beispiel der Namensgleichheit und des Todesurteils nochmals aufgegriffen wird. Mir scheint diese Kritik der rein auf Repräsentation beruhenden Macht auf das zugrunde liegende politische System zu zielen. Der Absolutismus vom Typus Ludwig XIV. (aka Sonnenkönig) konzentriert nicht nur alle Macht auf sich, sondern bindet die Untertanen durch den (auch finanziell aufwändigen) Zwang zur Selbstdarstellung bzw. Präsenz am Hof (z.B. in Versailles). Adel basiert immer auf Gottesgnadentum; der König repräsentiert somit Gottes Wille. Diesem Schein stellt das Drama ein Sein gegenüber, das so sehr auf Substanz und Konsistenz setzt, dass schon die Eventualität des Lasters drastische Schritte nach sich zieht.