Literaturgeschichtsschreibung

Prof. Dr. Albert Meier
Etappen einer Metageschichte der Literaturgeschichte

Aristoteles
Im 4. Kapitel seiner Poetik untersucht Aristoteles, wie sich die Komödie und speziell die Tragödie seit der vorhomerischen Zeit entwickelt haben. Er verfolgt die Entwicklung des Phänomens ›Tragödie‹ vom primitiven Ursprung über seine Differenzierung bis zur Blüte:

»Zu untersuchen, ob die Tragödie hinsichtlich ihrer Elemente bereits einen hinlänglichen Entwicklungsstand erreicht hat oder nicht und hierüber an und für sich und im Hinblick auf die Aufführungen zu befinden, ist ein anderes Problem. Sie hatte ursprünglich aus Improvisationen bestanden […]; sie dehnte sich dann allmählich aus, wobei man verbesserte, was bei ihr zum Vorschein kam, und machte viele Veränderungen durch. Ihre Entwicklung hörte auf, sobald sie ihre eigentliche Natur verwirklicht hatte. Aischylos hat als erster die Zahl der Schauspieler von einem auf zwei gebracht, den Anteil des Chors verringert und den Dialog zur Hauptsache gemacht. Sophokles hat den dritten Schauspieler und die Bühnenbilder hinzugefügt […].« (Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1991, S. 15)

Erkenntnisleitendes Prinzip: Entelechie = das Prinzip einer zielgerichteten Entwicklung (von einem primitiven Ursprung bis zur
vollen Entfaltung der Möglichkeiten, die im Wesen der Gattung angelegt sind)

Prämisse: ›Einheitsvermutung‹ = die Annahme einer inneren Logik einer geschichtlichen Darstellung
⇒ Frage: Worin besteht die volle Entfaltung und wie gelangt man zu ihr?

Dionysios aus Halikarnassos (1. Jh. v. Chr.)
Dionysios entwickelt ein Dreiphasen-Modell: frühe Prosaliteratur: Blüte ⇒ Alexander der Große: Niedergang ⇒ augusteische Kultur: Neuanfang

c) Mittelalter
Typisch für die epische Literatur des Mittelalters sind ›Schriftsteller-Kataloge‹, z.B. in Gottfried von Straßburgs Tristan (um 1210): In der so genannten ›Literatur-Schau‹ (V. 4621- 4820) diskutiert (›rezensiert‹) Gottfried die Literatur der Gegenwart (Lob für Hartmann von Aue, Kritik an Wolfram von Eschenbach etc.) und verortet damit seine eigene Dichtung in der literarischen Tradition.

d) Iulius Caesar Scaliger: Poetices libri VII (1561)
Seit dem Beginn der frühen Neuzeit betrachtet man die Geschichte als stetigen Prozess. Daraus ergibt sich folgendes Problem: Wie erklärt sich die Kluft zwischen der Antike und der frühen Neuzeit? ⇒ Rückgriff auf das Phasenmodell des Dionysios, das Scaliger zu einem fünfstufigen Modell erweitert: Ursprung ⇒ Aufblühen ⇒ Welken ⇒ Vergreisung ⇒ neue Kindheit

e) Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624)
Merkmal: Herleitung der deutschen Literatur von der germanischen Barden-Dichtung, d.h.: Betrachtung der deutschen Tradition als eigenständig! (kulturpatriotischer Anspruch: eine deutsche ›Antike‹ als Ursprungsmythos parallel zur griechisch-römischen Klassik!)

f) Carl Ortlob: De variis Germanae poeseos aetatibus exercitatio (1654)
Merkmal: die erste deutsche Periodisierung, und zwar – wie bei Scaliger – in fünf Phasen: Kindheit (bis zu Karl dem Großen) ⇒ Jugendzeit (bis ca. 1150) ⇒ Mannesalter (bis ca. 1300) ⇒ Vergreisung (bis ca. 1600) ⇒ Wiederaufleben nach Opitz

g) Daniel Georg Morhof: Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie / Deren Ursprung / Fortgang und Lehrsätzen (1682)
Merkmal: Morhof stellt mehrere Nationalliteraturen gleichrangig nebeneinander (die deutsche neben die französische, italienische, skandinavische etc.).

h) Krise im 18. Jahrhundert
Die Literaturgeschichtsschreibung sieht sich vor folgende Probleme gestellt:
• Unüberschaubarkeit der Daten ⇒ neue Ordnungsprinzipien finden
• Differenz von Antike und Neuzeit ⇒ daraus erwächst die so genannte ›Querelle des anciens et des modernes‹, der sich gegen Ende des 17. Jahrhunderts vor allem in Frankreich entzündende Streit zwischen den Verfechtern der Normativität der Antike und den Vertretern der Moderne.

Bis jetzt herrschte eine denotative Geschichtsschreibung vor, gegen Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelt sich eine interpretierende Geschichtsphilosophie: Hauptvertreter dieser Geschichtsschreibung (nicht nur der Literaturgeschichtsschreibung im engeren Sinn).

i) Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (4 Teile; 1784-91)
Erkenntnisanspruch: Gesetzmäßigkeit der Menschheitsgeschichte
Axiom: Geschichte manifestiert einen göttlichen Plan (alles ist sinnvoll)
Methode: historisch-genetisch; Analogieschlüsse
Konsequenz: Gleichrangigkeit der Kulturen

⇒ Menschheitsgeschichte als stetiger, aber unabgeschlossener Prozess der Vervollkommnung Wichtigste Fortsetzer im literaturgeschichtlichen Bereich: Friedrich und August Wilhelm Schlegel

Beispiele für historische Literaturgeschichten

a) Georg Gottfried Gervinus: Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen (5 Bde.; 1835-42)
Merkmale: entelechetischer Ansatz; Differenzierung nach Gattungen, Epochen, Disziplinen (z.B. Journalismus)

b) Wilhelm Scherer: Geschichte der deutschen Litteratur (1880-83)
Merkmale: Scherer nimmt die Periodizität von ›Blütezeiten‹ an (mit einer Periode von 600 Jahren: um 1200 und um 1800); Frage nach Kausalzusammenhängen zwischen Gesellschaft und Dichtung (Positivismus)

c) Josef Nadler: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften (4 Bde.; 1912-28)
Merkmale: Diversifizierung der Volksstämme, dabei ›kulturbiologische Einheitsannahme‹: Volkscharakter (›ein Schwabe schreibt anders als ein Holsteiner‹)

d) Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Begründet von Rolf Grimminger. München – Wien 1980ff. (bislang 10 Bde.)
Die Sozialgeschichtsschreibung bildet das bislang letzte große Paradigma für eine ›Einheitsvermutung‹: relative Bedingtheit der Literatur durch soziale Gegebenheiten