Literarische Wertung – literarischer Kanon

Prof. Dr. Albert Meier
Vorbemerkung

Literarische Wertung und Kanonbildung sind zwei Seiten ein und desselben Problems. Dass es keine objektiven Kriterien für die Abgrenzung von (poetischer) ›Literatur‹ gegenüber reinen Sach-Texten gibt, wurde bereits in der ersten Lerneinheit (I. Was ist ›Literatur‹? – Was ist ›Literaturwissenschaft‹?) erläutert. – Auch für die ästhetische Bewertung von Literatur und daher auch für die Auswahl von Lektüre-Empfehlungen können keine objektiven und insofern allgemein verbindlichen Kriterien aufgestellt werden.

Literarische Wertung

Grundsätzlich lassen sich zwei Aspekte unterscheiden, unter denen man einen Text betrachten kann:

referenziell (nicht-poetische Lesart von Texten)
Der Sinn eines Textes ergibt sich durch seinen Bezug auf einen textexternen bzw. textfremden Zweck (eine Gebrauchsanweisung legt z.B. eine instrumentalisierende Betrachtungsweise nahe: man ›benutzt‹ sie zu einem bestimmten Zweck).

selbstreferenziell (poetische Lesart von Texten)
Der Bezug zu einem textexternen Zweck spielt keine primäre Rolle, vielmehr ist der Text Selbstzweck (z.B. kann man mit Thomas Manns Roman Der Zauberberg keine Maschine bedienen lernen; der Text legt eine ästhetisierende Betrachtungsweise nahe).

Heute geht man davon aus, dass diese Betrachtungsweisen nicht primär von objektiven Eigenschaften eines Textes abhängig sind. Daher gibt es auch keine verbindlichen Maßstäbe für die literarische Wertung. Ob ein Text als ›Poesie‹ bezeichnet werden kann, hängt von seinem jeweiligen Leser ab.

Bis vor ca. 30 Jahren war eine normative Auffassung von literarischer Hierarchie/Wertung noch weithin anerkannt. Inzwischen hat sich jedoch ein deutlicheres Bewusstsein für die Offenheit von Texten entwickelt: eine Unterscheidung zwischen ›hoher‹ und ›niederer‹ Literatur ist nicht mehr ohne weiteres möglich.

Im alltäglichen (= nicht-wissenschaftlichen) Umgang mit Literatur werden solche Unterscheidungen weiterhin mit Recht getroffen. Sie beruhen jedoch auf subjektiven Geschmacksentscheidungen und dürfen keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben.

Beispiel zur Wertung von Literatur

Wertungswechsel innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses gründen nicht zuletzt in historischem Wandel. Ein Beispiel ist der sog. ›deutsch-deutsche Literaturstreit‹, der sich im Zuge der Publikation von Christa Wolfs Erzählung Was bleibt (1990) entzündet hat. Auffällig an dieser Debatte ist, dass nicht nur die aktuelle Publikation, sondern auch das übrige Werk der DDR-Schriftstellerin Christa Wolf, das vor der Wende insbesondere in der BRD als poetisch wertvoll anerkannt war, nunmehr in ästhetischer Hinsicht in Frage gestellt wurde. Da sich an den Texten selbst ja nichts geändert hat, lässt sich die Veränderung dieser Einschätzung nur durch einen Wandel der Bewertungsmaßstäbe der literarischen Öffentlichkeit erklären.

→ Sind diese Wertungsmaßstäbe wandelbar, so ist auch eine verbindliche Kanonisierung von Literatur problematisch!

Gründe für Wertungen und Kanonbildung

»Das Leben ist so kurz! Selbst wenn Sie ein Bücherfresser sind, und nur fünf Tage brauchen, um ein Buch zweimal zu lesen, schaffen Sie im Jahre nur 70. Und für die fünfundvierzig Jahre, von Fünfzehn bis Sechzig, die man aufnahmefähig ist, ergibt das 3.150 Bände: die wollen sorgfältigst ausgewählt sein!« (Schmidt 1988, S. 30/1)

Allein aus quantitativen Gründen besteht ein Bedürfnis nach literarischen Wertungen, um die unvermeidliche Auswahl von Lektüren zu begründen. Die Beschäftigung mit Literatur bedingt somit Auswahl-Entscheidungen. Damit solche Beurteilungen trotz ihrer Subjektivität plausibel sein können, muss eine literarische Wertung die ihr zugrunde liegenden ›axiologischen Werte‹ reflektieren und sich zugleich auch der Wandelbarkeit (d.h.: Relativität) dieser Werte bewusst sein. Sie muss also selbstreflexiv vorgehen und darf keinen Anspruch auf absolute Gültigkeit erheben.

Axiologischen Wert: »Der Begriff ›axiologischer Wert‹ bezeichnet den Maßstab, der ein Objekt oder ein Merkmal eines Objekts als ›wertvoll‹ erscheinen läßt, es als Wert erkennbar macht.« (Heydebrand/Winko 1953, S. 40)

Bei Christa Wolfs Was bleibt bezog sich der axiologische Wert zur literarischen Wertung vor allem auf politisch-ethische Aspekte. Sobald die moralische Integrität der Person ›Christa Wolf‹ in Frage gestellt wurde, geriet auch das literarische Werk unter Verdacht.

Literarische Wertung in der Literaturkritik

Beispiel: Peter Handkes Roman Der Bildverlust (2002)

Über Handkes Romans schreibt der Literaturkritiker Ulrich Greiner 2002 in Die Zeit:

»Wohin, um Himmels willen, ist Peter Handke mit diesem Buch geraten? In die Sierra de Gredos – und von dort in die Steilhänge der Sinnstifterei, in die Schluchten der Mystifikation, in die Staubwüsten des Schwadronierens. Ihm zu folgen bedeutet qualvolle Entsagung: keine Handlung, die sich erzählen ließe, keine Figur mit Namen, Anschrift und Umriss, keine Dramatik, keine Abenteuer.« (Greiner 2002)

→ axiologischer Wert: Lesbarkeit (= nacherzählbare Story mit prägnanten Charakteren und spannenden Momenten), wird hier vermisst!

Und weiter heißt es bei Greiner:

»Aber ach, wie mühsam ist die Lektüre dieses Mal. Der Text wirkt zuweilen, als habe Handke alles hineingepackt, was ihm einfiel, alles, was er je geschrieben hat, das bereits Gestrichene inbegriffen. Schwer zu sagen, worum es geht. Eigentlich um alles.« (Greiner 2002).

→ objektiver Sachverhalt: Wiederholung älterer Motive (wird ebenso von Steinfeld festgestellt, s.u.)

Ein anderes Urteil über den Roman fällt Thomas Steinfeld in seiner Kritik in der Süddeutschen Zeitung:

»Lange hat Peter Handke Anlauf genommen, um das Hochplateau seiner Sierra de Gredos zu erklimmen. Aber von dort oben aus betrachtet, erscheinen die Romane Mein Jahr in der Niemandsbucht von 1994 und In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem Haus von 1997 […] wie Vorstufen. Der Bildverlust ist eine Summe dieser Bücher. Sie ist, obwohl dick und nicht immer leicht zu lesen, ihnen an erzählerischer Ökonomie und dramaturgischer Strenge, an Prägnanz und Witz überlegen.« (Steinfeld 2002).

→ axiologischer Wert: Lesbarkeit (poetische Prägnanz) wird hier verwirklicht gesehen

Und weiter heißt es bei Steinfeld:

»Wir leben in einer Wendezeit, meint Peter Handke, und für den erwarteten Umbruch hat er einen Roman geschrieben, das [sic] in eine neue Epoche führen will. Es mag sein, dass er damit scheitert, aber er hat das seine getan: Der Bildverlust ist das große Gegenbuch unserer aktuellen Literatur.« (Steinfeld 2002).

→ axiologischer Wert: Literatur als Subversion der Wirklichkeit

Diese beiden Rezensionen zeigen, wie unterschiedlich unter der Perspektive des axiologischen Wertes die Beurteilung desselben Gegenstandes erfolgen kann.

Literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit axiologischen Werten

a) Johann Wolfgang Goethe: Ein Gleiches (Wandrers Nachtlied)

Ein Gleiches

Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.


Ein Gleiches weicht von der damals dominanten Poetik ab: Er weist kein regelmäßiges Metrum auf, verwendet keinerlei Metaphern und Metonymien (also keine lyrische Bildlichkeit) und erweist sich semantisch nicht eindeutig, zum Teil sogar  a-logisch: So müsste das angesprochene ›du‹ in den Baumwipfeln sitzen, wenn es dort ›kaum einen Hauch‹ spüren wollte.

Das Gedicht gewinnt seine poetische Qualität jedoch durch seine sinnlich erfahrbare Schönheit und die Unbestimmtheit seines Inhalts. Die Qualität hängt also maßgeblich mit dem Wandel der axiologischen Werte zusammen.

b) Ernst Jandl: ottos mops

ottos mops

ottos mops trotzt
otto: fort mops fort
ottos mops hopst fort
otto: soso

otto holt koks
otto holt obst
otto horcht
otto: mops mops
otto hofft

ottos mops klopft
otto: komm mops komm
ottos mops kommt
ottos mops kotzt
otto: ogottogott


ottos mops zeichnet sich nicht gerade durch seine sprachliche Schönheit bzw. klangliche Vielfalt aus. Zudem verhandelt er ein ganz und gar triviales Thema, was nach den früher üblichen Kriterien als nicht ›literaturfähig‹ zu bezeichnen wäre.

Der Konkreten Poesie, der dieses Gedicht zugeordnet werden kann, besteht die poetische Qualität des Textes jedoch gerade in dem Witz seines Sprachspiels und in seiner Popularität. Wie auch beim Goethe-Gedicht hängt die Qualität des Gedichtes also maßgeblich mit dem Wandel der axiologischen Werte zusammen.

Heute akzeptiert man die Autonomie der Dichtung, die sich selbst immer wieder neue Maßstäbe setzt. Für die literarische Wertung sind formale Aspekte daher ebenso wenig als absolute Kriterien geeignet wie geschmackliche und ideologische Aspekte. Man muss von relativen Kriterien ausgehen, die im jeweiligen Textzusammenhang sinnvoll anwendbar sind.

Literarischer Kanon

Wie sich bereits gezeigt hat, ist literarische Wertung problematisch. Dennoch besteht Bedarf an Orientierungshilfen für die Auswahl von Lektüre und damit an literarischer Kanonisierung.

Definition Kanon: »Zusammenstellung als exemplarisch ausgezeichneter und daher für besonders erinnerungswürdig gehaltener Texte; ein auf einem bestimmten Gebiet als verbindlich geltendes Textcorpus.« (Rosenberg 2000, S. 224)

Der Begriff Kanon leitet sich etymologisch vom altgriechischen Wort κανών ab, wo es Schilfrohr, Richtscheit oder Maßstab bedeutet. Die historische Verwendung des Begriffs lässt bereits die Problematik der Kanonbildung erkennen:

• ästhetisch: Die verschollene Schrift Kanon des antiken Bildhauers Polyklet soll Überlegungen zu einem idealen und damit absoluten Prinzip der Schönheit enthalten haben.

• religiös: In der Patristik (= Wissen von Schriften und Lehren der Kirchenväter) bezeichnete der Begriff ›Kanon‹ eine Sammlung von Schriften, die durch kirchliche Autorität als heilig anerkannt waren. Damit ging jedoch auch eine Ausgrenzung von ›nicht-heiligen‹ Schriften (Apokryphen) einher.

→ Kanonbildung in der Literatur setzt Normen voraus, die von einer bestimmten Instanz festgelegt werden müssen. Sie definiert dabei nicht nur das ›Gute‹, sondern auch das ›Schlechte‹. Allgemein gültige Normen können jedoch nicht aufgestellt werden (siehe oben)!

Axiologische Werte hängen immer von spezifischen Interessen ab – bestenfalls für kleine Gruppen lassen sich zu bestimmten Zeitpunkten gemeinsame Werte verabreden. Ein universaler und überzeitlicher Kanon ist nicht möglich.

Wie soll man dem Bedürfnis nach Kanonbildung begegnen? 

Da für die Erstellung eines Kanons keine normativen Kategorien gelten können, müssen Darstellungen deskriptiv und pragmatisch erfolgen. Grundsätzlich geht es um die Suche nach Konsens über eine mehrheitsfähige Kernzone von möglicherweise bedeutender Literatur. Die ›Randzonen‹ müssen offen bleiben, da keine klare Abgrenzung eines literarischen Kanons von der ›übrigen‹ Literatur möglich ist.

Gleichzeitig können Leselisten als sinnvolle Orientierungshilfe dienen: Sie bieten eine zweckgerichtete Zusammenstellung von Texten (Zugang zu zentralen Entwicklungen und Fragestellungen in der Literaturgeschichte) und distanzieren sich explizit von jeder Normativität.

Assmann, Aleida/Assmann, Jan (Hgg.): Kanon und Zensur. Archäologie der literarischen Kommunikation II. München 1987.

Goethe, Johann Wolfgang: Ein Gleiches (Wandrers Nachtlied). In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Herausgegeben von Erich Trunz. Bd. 1: Gedichte und Epen I. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz. 11., überarbeitete Auflage München 1978, S. 142.

Greiner, Ulrich »Der Herr der Fragezeichen. Der Schriftsteller Peter Handke wandert durch die Sierra de Gredos und verirrt sich« (in: DIE ZEIT vom 24.01.2002.

Heydebrand, Renate von (Hg.): Kanon – Macht – Kultur: theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung. Stuttgart – Weimar 1998 (DFG-Symposion 1996; Germanistische-Symposien Berichtsbände; 19).

Heydebrand, Renate von/Winko, Simone: Einführung in die Wertung von Literatur. Systematik – Geschichte – Legitimation. Paderborn – München – Wien – Zürich 1996 (UTB für Wissenschaft: Uni-Taschenbücher; 1953).

Jandl, Ernst: ottos mop. In: Ernst Jandl: Gesammelte Werke. Erster Band: Gedichte 1. Herausgegeben von Klaus Siblewski. Darmstadt – Neuwied 1985, S. 422.

Schmidt, Arno: Ich bin erst sechzig. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe I: Romane, Erzählungen, Gedichte, Juvenilia. Bd. 4: Kleinere Erzählungen, Gedichte, Juvenilia. Bargfeld 1988, S. 30/1.

Steinfeld, Thomas: »Der Marquis von Prosa. Plädoyer für die Erfindung der Gegenwart: Peter Handkes neuer Roman Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos ist da« (in: Süddeutsche Zeitung vom 19./20.01.2002.

Rosenberg, Rainer: Kanon. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Gemeinsam mit Georg Braungart, Klaus Grubmüller, Jan-Dirk Müller, Friedrich Vollhardt und Klaus Weimar herausgegeben von Harald Fricke. Band II: H – O. Berlin – New York 2000, S. 224-227, hier: S. 224.

Assmann, Aleida / Assmann, Jan (Hrsgg.): Kanon und Zensur. München 1987.

Heydebrand, Renate von (Hrsg.): Kanon – Macht – Kultur. Stuttgart 1998.

Heydebrand, Renate von / Winko, Simone: Einführung in die Wertung von Literatur. Paderborn – München – Wien – Zürich 1996.