Editionsphilologie – Die Edition der älteren Literatur

Prof. Dr. Dorothea Klein

Die antike und mittelalterliche Literatur ist in der Regel in sehr viel späteren Abschriften überliefert, d.h., es gibt meistens keine autorisierten Fassungen. Eine der wenigen Ausnahmen ist Otfrids von Weißenburg Evangelienbuch (spätes 9. Jh.).

Oftmals sind nicht nur die Originale, sondern auch die ersten Abschriften verloren gegangen, sodass uns bekannte erste Abschriften häufig erst Jahrzehnte nach dem Original entstanden sind. Es gilt also hier grundsätzlich zu beachten, dass der überlieferte Text in der Regel nicht der Autortext ist. Der vorliegende Text enthält vielmehr Abschreibefehler, vom Schreiber vorgenommene Veränderungen etc.

Diese Problematik war den Autoren des Mittelalters bewusst, z.B. dem Theologen und Seelsorger Thomas Peuntner, der zu Beginn seiner Liebhabung Gottes die zukünftigen Schreiber zur Sorgfalt bei der Abschrift mahnt:

»Item ist es gar kuntlichen und offenbar, das die abschreiber der pücher zu stunden ettlich wortter überhüpffen vnd nicht schreiben von eylens wegen oder von vbersehung wegen vnd besonder von vnfleißigkeit wegen. dorumb beger ich durch gots willen von den, die diß püchlein werden abschreiben, das sie es fleißiglichen allein oder mit ymant wöllen vberlesen noch dem vnd sie es haben abgeschriben, dorumb das es nicht gefelscht wird; vnd wo sie denn etwas zu vil haben geschriben, das sie das selb fein abtilgen, vnd wo sie etwas außgelassen oder vberhupft oder falsch geschrieben haben, das sie das selb erfüllen vnd rechtvertigen […].«

(neuhochdeutsch: »Es ist ganz offenkundig und bekannt, daß die Abschreiber der Bücher bisweilen das eine oder andere Wort überspringen und nicht schreiben, in der Eile oder weil sie es übersehen und vor allem weil sie faul sind. Deshalb verlange ich um Gottes Willen von denen, die dieses Büchlein abschreiben werden, daß sie es allein oder mit jemand [anderem] sorgfältig Korrektur lesen wollen, nachdem sie es abgeschrieben haben, [und zwar] darum, daß es nicht verfälscht werde. Und wo sie dann etwas zu viel geschrieben haben, mögen sie das fein ausradieren, und wo sie etwas ausgelassen oder übersprungen oder falsch geschrieben haben, mögen sie dieses ergänzen und richtigstellen.«)

(Aus: Aspekte mittelhochdeutscher Literatur. Teil 1: Quellen. Auswahl und Zusammenstellung von Hannes Kästner [u.a.]. Freiburg im Breisgau 1980, S. 93)

Konservativ ediert werden in der Regel sakrosankte Texte (d.h. geistliche Texte). In Gebrauchsliteratur (z.B. Wörterbücher, Rechtstexte, medizinische Traktate, Kochbücher) und in die mittelalterliche deutsche Dichtung (Lieder, Heldenepen, Romane) wird hingegen oft eingegriffen. Dabei handelt es sich entweder um willentliche Änderungen durch den Redakteur oder Nachlässigkeit des Schreibers.

Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich häufig daraus, dass die Sprache des Schreibers nicht die Sprache des Autors ist. Ein Beispiel hierfür ist : Das Ambraser Heldenbuch (eine Sammelhandschrift aus dem beginnenden 16. Jahrhundert), das  u.a. eine Erzählung des Mauricius von Craûn enthält, die vermutlich im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts entstanden ist.

Zur Rekonstruktion des Originals muss der Text aus der frühneuhochdeutschen Fassung der Überlieferung ins Rheinfränkische (des Originals) rückübersetzt werden.

Wie schätzt man die Zuverlässigkeit der Abschrift ein? Im Falle des Ambraser Heldenbuchs galt dessen Schreiber Hans Ried lange Zeit als unzuverlässig, er wird heute aber als gewissenhaft eingeschätzt. Der Herausgeber Edward Schröder hält sich deshalb weitgehend an den überlieferten Text; der Herausgeber Ulrich Pretzel weicht jedoch davon ab.

Pretzels Editionsverfahren ist ein Beispiel für die klassische Textkritik:

Klassische Textkritik

Ziel: den verlorenen Autortext zu rekonstruieren
Hauptvertreter: Karl Lachmann (1793-1851) (einer der Gründungsväter der Germanistik und Editionswissenschaft)
Vorbild: Methoden der Altphilologie und Theologie
Methode: aus verschiedenen Abschriften den Archetyp rekonstruieren, d.h. die gemeinsame Vorlage aller erhaltenen Handschriften

Arbeitsschritte:

1. Sammlung der Textzeugen (Heuristik)

2. Beschreibung der Textzeugen (d.h.: Bestimmung des Alters, der Schreibsprache)

3. Vergleich der Textzeugen, und zwar Wort für Wort (Kollation)

4. Hierarchisierung der Textzeugen (Filiation) d.h.: Gruppierung der Textzeugen: welche sind dem Archetyp näher als andere?

Zu unterscheiden ist dabei: Welches sind beweiskräftige Fehler, welches ›iterierende‹ Varianten, d.h. Varianten, die keiner gemeinsamen Quelle zu entstammen brauchen, sondern unabhängig voneinander auftreten können (z.B. die austauschbaren Varianten ›liebe‹/›minne‹)
graphische Darstellung der Überlieferung: Stemma (= Stammbaum)
Beispiel: Heinrich-von-München-Überlieferung

5. Texterstellung (Recensio)
Herstellung des Archetyps = der ältesten Textstufe, die aus der Überlieferung erschließbar ist (Archetyp per definitionem nicht identisch mit Autortext, kommt diesem vermuteten Text nur am nächsten). Dabei wird auf der Basis der Leithandschrift vorgegangen, d.h. jener Handschrift, »die den Text bietet, der von allen überlieferten am ehesten und am weitestgehenden dem Dichter zuzutrauen ist« (Heinzle).

Grundsatz dabei: die lectio difficilior: = die Lesart, die seltener ist und schwerer zu erklären ist, wird als die anspruchsvollere und damit als die ursprünglichere Lesart betrachtet (d.h.: dem Autor traut man die komplizierteste Lesart zu).

Fehler der Leithandschrift werden mit Hilfe anderer Handschriften korrigiert (Emendation).

Teilweise werden, um dem Autor noch näher zu kommen, ›Fehler‹ korrigiert, die bereits für den Archetyp anzusetzen sind, d.h. Fehler, die dem Autor nicht zugetraut werden (z.B. Metrik, Reimtechnik). Diese Eingriffe (Konjektur – von lat. coniectura: ›Mutmaßung‹, ›Vermutung‹) richten sich gegen die gesamte Überlieferung (vs. Emendation: dort ist die Korrektur durch die Überlieferung gestützt).

Prämissen dieses Verfahrens:

• es habe einen einzigen, einheitlichen, fehlerfreien Ausgangstext gegeben

• die Überlieferung verlaufe immer vertikal (d.h. immer nur aus einer Vorlage)

• die Genealogie lasse sich zweifelsfrei bestimmen

Kritik an diesem Verfahren:

• diese idealen Voraussetzungen hat es selten gegeben

• oft gibt es mehrere Vorlagen für eine Abschrift (Kontamination (= Textmischung))

• die Hierarchisierung ist im Einzelnen sehr schwierig (die Fehler sind schwer einzuschätzen)

• Autoren schreiben nicht fehlerfrei

• oft existiert keine verbindliche Originalfassung (bedenke: die Heldenepik ist ursprünglich mündlich tradiert und erst ab 1200 in verschiedenen Fassungen verschriftet worden)

→ Dieses Verfahren wird zunehmend als ›subjektiv‹ und der Entscheidungswillkür des Herausgebers ausgeliefert kritisiert. Heute richtet man sich eher nach folgendem Prinzip:

Kritische Edition nach dem Leithandschriftenprinzip

Das Vorgehen dieser Editionsmethode ist dasselbe, jedoch ist die Suche nach dem Autortext nicht das vorherrschende Ziel. Man vergleicht alle Textzeugen und wählt den ›besten‹ aus (nach der Qualität und dem Alter der Abschrift). Der Editionstext entsteht auf der Basis der Leithandschrift unter Einbeziehung der gesamten Überlieferung.
Eingegriffen wird in der Regel nur bei sprachlich-sachlichen Unstimmigkeiten; diese Eingriffe werden deutlich markiert. Vgl. etwa die Edition Joachim Heinzles von Wolframs von Eschenbach Willehalm

3) Abdruck des relativ besten Textzeugen

Hier wird der Textzeuge gewählt, der möglichst repräsentativ für die Entstehungszeit und Schreibsprache des Originals gelten kann. Das Editionsziel ist nicht die partielle Rekonstruktion des Autortextes, sondern die Wiedergabe einer einzelnen historisch beglaubigten Gebrauchsfassung. Viele Textausgaben der Reihe Deutsche Texte des Mittelalters wären hier als Beispiele zu nennen.

Zuweilen liegt ein Text lediglich in unikaler Überlieferung vor. Dies betrifft die meisten frühmittelhochdeutsche und althochdeutsche Texte, von denen man selten mehr als eine Abschrift besitzt. In diesem Fall bieten sich zwei andere Editionsverfahren an:

Bereinigter Abdruck

Beim bereinigten Abdruck wird auf den Anspruch einer Rekonstruktion des Originals verzichtet; stattdessen werden eine oder mehrere bezeugbare Fassungen repräsentiert, wobei nur ganz offensichtliche Fehler korrigiert werden. Beispiel: Walter Haug: Hildebrandlied (um 830-40)

Diplomatischer Abdruck

Der diplomatische Abdruck bietet eine buchstaben- und zeichengetreue Umsetzung des Textes in moderne Buchstaben, einschließlich der Abbreviaturen, Superskripta und diakritischen Zeichen sowie der Fehler.

Alle bisher vorgestellten Verfahren sind produktionsästhetisch ausgerichtet, d.h. sind auf die Wiedergewinnung des Autortextes oder zumindest einer Näherungsform gerichtet. Demgegenüber gibt es in jüngerer Zeit wirkungsästhetische Ansätze:

Textgeschichtlich-überlieferungskritische Methode

Diese Methode kombiniert die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte, d.h. gibt neben der Erstfassung die Veränderungen an, die im Laufe der Überlieferung entstanden sind.

Innerhalb dieses Verfahrens werden die verschiedenen Bearbeitungsstufen nicht mehr als Hindernis, sondern als Wert an sich betrachtet. Beispiel: das lateinisch-deutsche Wörterbuch (hier der Artikel »misericors – barmherzig«) der beiden Straßburger Geistlichen Fritsche Closener und Jakob Twinger von Königshofen:

New Philology

Die New Philology radikalisiert unter dem Einfluss der poststrukturalistischen Debatte über den Tod des Autors die textgeschichtlich-überlieferungskritische Methode. Sie behandelt alle Überlieferungszeugen als gleichwertig und lehnt eine Hierarchisierung der Textzeugen ab! Damit wird zugleich der Frage nach dem Autor(text) eine Absage erteilt. Prominenter Vertreter: Bernard Cerquiglini: Éloge de la variante: histoire critique de la philologie. Paris 1989.
Editionstechnische Konsequenz: das gesamte Überlieferungsmaterial (im Computer) präsentieren.