Gattung und Epoche
Prof. Dr. Albert Meier
Vorbemerkung
›Epoche‹ und ›Gattung‹ sind stets provisorische Allgemeinbegriffe, unter denen man die Vielzahl konkreter Werke zusammenfasst. Sie dienen als Arbeitsgrundlage und ermöglichen zuallererst einen theoretisch kontrollierten Umgang mit der faktischen Unübersichtlichkeit der Literatur, indem sie eine Komplexitätsreduktion erlauben. Mit ihrer Hilfe wird versucht, in das Chaos der literarischen Phänomene Ordnung zu bringen bzw. Übersichtlichkeit zu schaffen (z. B. die Leitkonzepte oder Leitmodelle).
Die Klassifizierung der literaturgeschichtlichen Fakten in Gattungen und Epochen hat sich als besonders leistungsfähig erwiesen. Dabei sind Gattungen und Epochen in mancher Hinsicht korreliert, da in bestimmten Epochen häufig eine spezielle Gattung aus erkennbaren Gründen dominiert: So kommen die Besonderheiten der Epoche ›Aufklärung‹ besonders gut in Dramen zum Ausdruck, während für den Realismus die Erzählung repräsentativ ist. Gattungs- und Epochenbegriffe helfen, durch Typisierung Zusammenhänge herzustellen und Überblick zu ermöglichen.
Allerdings besteht immer die Gefahr, die literarische Realität durch solche Typisierungen zu verfälschen, da Allgemeinbegriffe eine Gleichheit behaupten, die das Besondere der vielen einzelnen literarischen Texte ›verstellt‹ bzw. übersieht.
Epoche
Definition: Oberbegriff für die literarischen Phänomene eines relativ großen Zeitraums, der durch ein Initialereignis markiert wird und kein definiertes Ende braucht, aber unterschiedliche Stiltendenzen subsumieren kann.
›Epoche‹ geht auf das griechische ὲποχή (= Hemmung / Haltepunkt / Unterbrechung / astrologische Konstellation). Anders als im heutigen Sprachgebrauch beschreibt der Begriff ursprünglich also keine Zeitdauer, sondern einen bestimmten Augenblick/Haltepunkt. So findet sich unter dem entsprechenden Lemma im Grammatisch=kritischen Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart von Johann Christoph Adelung:
Epóche […] in der Zeitrechnung, der Anfang, von welchem man die Jahre zählet; […]. Ein Zeitraum, welchen zwey Epochen einschließen, heißt eine Periode. (Adelung 1793).
Man sollte also weniger danach fragen, wann eine Epoche endet, sondern vielmehr danach, wann eine neue Epoche jeweils beginnt. Entscheidend ist dabei jeweils die Frage, welches ›Initialereignis‹ angenommen werden darf (z. B. wird der Beginn der literaturgeschichtlichen Epoche ›Barock‹ mit dem Erscheinen von Martin Opitz’ Buch von der deutschen Poeterey 1624 angesetzt, weil sich die literarische Situation dadurch grundlegend geändert hat).
›Epoche‹ ist mithin eine literaturgeschichtliche Einheit, die die Konstruktion eines ›Syndroms‹ voraussetzt – z.B. epochentypische bzw. dominierende Merkmale – und damit immer abhängig bleibt von Entscheidungen darüber, was als repräsentativ gelten soll und was nicht. ›Epochen‹ sind daher keine faktischen Sachverhalte, sondern rational begründete Konstruktionen/Setzungen. Je nach ihrem Zweck können sie von unterschiedlicher Reichweite aufgrund unterschiedlicher Trennschärfe sein (jede Epoche lässt sich wiederum in kleinere Epochen unterteilen (z. B. die ›Aufklärung‹ in Früh-, Hoch– und Spätaufklärung).
Weiterführende Informationen zu Etappen einer Metageschichte der Literaturgeschichte und historische Beispiele für Literaturgeschichten gibt es hier.
Gattung
Bei einer literarischen Gattung handelt es sich grundsätzlich um eine Gruppe von Texten, die in gewisser Weise baugleich sind. Der Begriff ›Gattung‹ hat seinen Ursprung in der Biologie (lateinisch: ›genus‹); daher lässt sich von einer ›Gattung‹ nur dann sprechen, wenn es darunter auch weitere Differenzierungsmöglichkeiten gibt (›Arten‹). In der Taxinomie der Biologie ließe sich nach dem SKOFGA- Schema beispielsweise Folgendes für die Kuh angeben:
Stamm: Wirbeltier
Klasse: Säugetier
Ordnung: Paarhufer
Familie: Bovinae (Rinder)
Gattung: Bos
Art: Hausrind
Rasse: z.B. Deutsche Schwarzbunte
⇒ von Gattung lässt sich nur sprechen, wenn es auch weitere Differenzierungsmöglichkeiten (›Arten‹) gibt.
Übertragung dieses Schemas auf die literarische Gattung ›Sonett‹
Versucht man nun dieses Schema der Biologie auf einen literarischen Text wie Hugo Balls Der Schizophrene (ca. 1921-24) zu übertragen, stellen sich Schwierigkeiten ein:
Stamm: Dichtung
Klasse: neuzeitliche Dichtung
Ordnung: Lyrik
Familie: gereimte Lyrik
Gattung: Sonett
Art: Petrarca, Ronsard, Shakespeare etc.
Rasse: Liebes-Sonett, Parodie
Problematisch erweist, sich, dass mit dieser Einteilung noch nicht viel gewonnen für die Frage ist, was ein Sonett eigentlich ›ist‹. Anders als in der Biologie gibt es in der Literatur kein eindeutiges Merkmalbündel, durch das die Zuordnung zu einer Gattung anhand weniger Eigenschaften exakt bestimmt werden kann (bei der Kuh: Paarhufer, Quastenschwanz, Grasfressen, ›Muh‹ etc.).
Die Beobachtung einer biologischen Eigenschaft erlaubt den sicheren Rückschluss auf weitere Merkmale, die zwingend vorliegen müssen (zumal bei gesunden Tieren). Wenn die Lautäußerung eines unbeschädigten Tieres »Muh« lautet, dann kann man sicher sein, dass es auch Gras frisst und u.a. einen Quastenschwanz hat; wenn aber ein Text aus 14 Verszeilen besteht, ist noch lange nicht gesichert, dass er auch gereimt ist. Trotz dieser Einschränkung erweist sich der Begriff ›Gattung‹ hier dennoch als leistungsfähig: Denn aufschlussreicher als die exakte Definition der Gattung ›Sonett‹ ist die Untersuchung, in welchem Verhältnis ein konkretes Einzelbeispiel zum Idealtyp/zu (poetologischen) Normen steht.
Fazit für die Leistungsfähigkeit von Allgemeinbegriffen
Die Funktion von Begriffen wie ›Epoche‹ und ›Gattung‹ ist die Reduktion von Komplexität. Dabei geht zwangsläufig Vielfalt verloren; dieser Nachteil sollte stets gegenüber dem Vorteil der Ordnungsfunktion abgewogen werden.
Ihren Reiz haben die Begriffe aber gerade dort, wo sie an ihre Grenzen gelangen. Erst indem man einzelne Texte an der Norm spiegelt (etwa Kleists Penthesilea an den Epochen Klassik und Romantik), erkennt man ihre Besonderheit. Damit helfen diese Begriffe den Blick auf individuelle Phänomene zu schärfen.
Allgemeinbegriffe wie ›Epochen‹ und ›Gattungen‹ sind also nie ›wahr‹, rechtfertigen sich aber mit ihrer beachtlichen ›heuristischen‹ Leistungsfähigkeit (Heuristik = Findekunst).
Die zentrale Differenz zwischen dem Begriff ›Gattung‹ in der Biologie und dem in der Literaturwissenschaft besteht in der fehlenden Eindeutigkeit: In der Biologie ermöglichen bereits wenige distinkte Merkmale die genaue Identifikation einer Pflanze oder eines Tiers und erlauben dann, das Vorhandensein auch aller anderen gattungstypischen Merkmale anzunehmen (ein Paarhufer, der ›Muh!‹ sagt, wird auch einen Quastenschwanz haben) − in der Literatur lässt sich aus der Beobachtung, dass ein Text aus zwei Vierzeilern und zwei Dreizeilern zusammengesetzt ist, zwar schließen, dass es sich um ein ›Sonett‹ handelt, doch folgt daraus nicht zwingend, dass dieses Sonett auch Reime aufweist. Gleichwohl ist es sinnvoll, einen Idealtypus des Sonetts als Untersuchungsgrundlage anzunehmen, um Abweichungen und Besonderheiten besser zu beobachten und nach Möglichkeit auch erklären zu können.
Allgemeinbegriffe wie ›Epochen‹ und ›Gattungen‹ sind nie ›wahr‹, rechtfertigen sich aber mit ihrer beachtlichen ›heuristischen‹ Leistungsfähigkeit (Heuristik = Findekunst).
Quellennachweise
Grammatisch=kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen, von Johann Christoph Adelung, Churfürstl. Sächs. Hofrathe und Ober=Bibliothekar. Erster Theil: A – E. Mit Röm. Kaiserl. allergnädigstem Privilegio. Zweyte vermehrte und verbesserte Ausgabe. Leipzig: bey Johann Gottlob Immanuel Breitkopf und Comp. 1793, Sp. 1846. Adelungs Wörterbuch ist im Internet u.a. unter der folgenden Adresse abrufbar: https://lexika.digitale-sammlungen.de/adelung/online/angebot (letzter Zugriff 18.03.23).
Weiterführende Literatur
Hamacher,Bernd : Epoche. In: Arbeitsbuch Literaturwissenschaft. Hrsg. von Thomas Eicher und Volker Wiemann. Paderborn 2001, S. 177-184.
Müller-Dyes, Klaus: Gattungsfragen. In: Grundzüge der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering. München 2003, S. 323-348.