›Cultural Studies‹
Prof. Dr. Wolfgang Struck
Allgemeine Vorbemerkungen
Cultural Studies ist ein Sammelbegriff für kulturelle Fragestellungen, die sich mit so unterschiedlichen Dingen wie Punk-Musik auf Bali, Subkultur in Hongkong oder der medialen Selbstdarstellung der politischen Rechten in Frankreich beschäftigen.
Im engeren Sinne verbindet man Cultural Studies mit dem 1964 von R. Hoggart an der Universität Birmingham gegründeten Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS); die dort entstandenen Studien sind jedoch – vor allem seit den 80er Jahren – in den USA, Australien und Europa intensiv rezipiert worden und haben längst vielfältige Ausprägungen erfahren. Zwei prominente Ansätze innerhalb der Cultural Studies bilden der so genannte New Historicism sowie die Kultursemiotik.
Die Cultural Studies begreifen prinzipiell jede Kulturform als zeichenhaft und aussagekräftig (Bsp.: ›wrestling is significant‹). Mittels der Diskurs-Analyse (Michel Foucault) soll die Regelhaftigkeit von Aussagen/Handlungen erfasst und Strukturähnlichkeiten zu anderen Kulturformen herausgearbeitet werden: Formen des Ringkampfs können in diesem Sinne aufschlussreich für Dichtung sein (und umgekehrt), wenn in einer Kultur Strukturanalogien bestehen. Poetische Texte werden als Dokumente der Geschichtlichkeit von Kultur behandelt: Es geht nicht mehr um das Interpretieren (= richtige Verstehen) von poetischen Texten, sondern vielmehr um das Begreifen historischer Sachverhalte bzw. des gesellschaftlichen Funktionierens (Zusammenhänge/Konstellationen mit anderen Kulturdimensionen: Recht, Geschlechterverhältnisse etc.).
Literaturwissenschaft ist in diesem Zusammenhang nur Teilbereich einer umfassenden Kulturwissenschaft: Prinzipiell lassen sich alle kulturellen Phänomene als ›Text‹ (Gewebe) verstehen und sind daher vor allem mit philologischen Analysemethoden analysierbar.
Erkenntnisziel ist eine ›poetic of culture‹ (Stephen Greenblatt) sowie das Wechselverhältnis von Text und jeweiligem Kontext (›negotiations‹). Die Cultural Studies ziehen zur Analyse jegliche nichtliterarische Quellen heran (Filme, Photographien, Denkmäler, Rituale, Alltagsmythen, symbolische Handlungen), verfahren daher pluralistisch und strikt interdisziplinär:
“Wie werden zu einem konkreten Zeitpunkt Krankheit, Seuchen und der Tod dargestellt? Wie werden Sexualität, Armut, Macht, Strafsystem und Krieg, Arbeit und Freizeit, Körper, Geschlecht und Identität repräsentiert? Wie stellt sich die Politik dar? […] Literatur erscheint dabei nicht als Ausdruck sozialer Normen (wie in der traditionellen Sozialgeschichte), sondern als Medium komplexer Weltaneignung und Weltauslegung.” Kaes 2001, S. 251–267).
›New Historicism‹
Den zentralen Gedanken des New Historicism hat einer seiner Hauptvertreter, Louis A. Montrose, mit dem Stichwort der »Geschichtlichkeit von Texten und der Textualität von Geschichte« (Montrose 2001, S. 67) beschrieben.
Während die erste Komponente, dass jeder Text in einen historischen Kontext und Verstehens-Prozess eingebettet ist, weniger überraschend erscheint, liegt in der zweiten Komponente der entscheidende Ansatz: in der Auffassung nämlich, dass Geschichte selbst wie ein Text, d.h. als System von Zeichen, strukturiert sei.
Dies hat zur Konsequenz, dass die Geschichte der Literatur nicht isoliert betrachtet werden kann. Zum einen (»Geschichtlichkeit von Texten«) werden jeweilige soziale, ökonomische etc. Kontexte reflektiert, zum anderen (»Textualität von Geschichte«) wird nicht ontologisch zwischen Text und Kontext unterschieden. Literatur wird vielmehr nur als Ausschnitt eines umfassenden Systems von kollektiven kulturellen Praktiken, Überzeugungen, Normen betrachtet, die oftmals ganz selbstverständlich wirken und daher erst aus einer gewissen zeitlichen Distanz heraus sichtbar werden.
Der Bericht über ein historisches Ereignis kann dabei genauso ›rätselhaft‹ erscheinen und entschlüsselt werden müssen wie ein Gedicht. Mit dieser Auffassung konvergieren Literatur- und Geschichtswissenschaft im New Historicism im Sinne einer ›Archiv-Wissenschaft‹, wie sie Michel Foucault avisiert hat.
Genauso wenig, wie der New Historicism zwischen literarischen und nicht-literarischen Texten differenziert, wird zwischen hoher und niederer Kultur unterschieden. Kennzeichnend für Cultural Studies generell ist ein ›demokratisches‹ Kulturverständnis, das alle Bereiche der kulturellen Praxis mit einbezieht. Dies reicht von Fußballspielen bis zu Wahlkämpfen, von Bademoden bis zu Gottesdiensten.
Text und Kontext sind wie durch Fäden zu einem Netz verwoben. Dabei betrachtet die Literatur die Wirklichkeit nicht als ›Rohmaterial‹, das durch den künstlerischen Produktionsprozess umgeformt (quasi ›gekocht‹) würde. Vielmehr trägt Literatur der Tatsache Rechnung, dass das Material der Wirklichkeit bereits symbolisch aufgeladen ist.
Wenn etwa dem Film Desperately Seeking Susan (1984) als ›Vorfilm‹ ein Videoclip des Songs Material Girl von Madonna, die eine der Hauptrollen des Films spielt, vorangestellt wird, wird beim Zuschauer ein Assoziationsraum aufgerufen, der sich aus dem kulturellen Gedächtnis speist.
Die Beobachtung, dass kein literarisches Werk voraussetzungslos entsteht, sondern in einem komplexen Geflecht mit dem Kontext verknüpft ist, beschreibt Stephen Greenblatt mit der Formel der ›Zirkulation sozialer Energie‹. Diese Verhandlungen zwischen Text und Kontext, d.h. den Austausch kultureller Praktiken und Normen, versucht die ›Poetik der Kultur‹ (Stephen Greenblatt) zu verfolgen und zu rekonstruieren.
Dieser ›Handel‹ kann ganz konkret ausfallen, wenn etwa in der englischen Reformation die protestantischen Kirchenstürmer katholische Priestergewänder und sakrale Gegenstände ans Theater verkaufen, die dort als Requisiten verwendet werden. Dabei handelt es sich nicht um einen rein materiellen Austausch; dieser ist vielmehr symbolisch aufgeladen (zeigt sich hier dadurch, dass durch die Requisiten eine kultische Aura im Theater erzeugt wird).
Kultursemiotik
Der New Historicism betont, dass es sich bei den untersuchten Kulturen um weitgehend geschlossene Systeme handelt, deren Funktionsmechanismen der Grammatik einer Sprache ähneln und die ähnlich wie eine solche rekonstruiert und analysiert werden können. Dabei liegt eine besondere Aufmerksamkeit auf den Randzonen eines solchen Systems, in denen sich eine gewisse Brüchigkeit (und damit: Dynamik) manifestiert.
Aufgrund der Themenvielfalt und der bewussten ›Unsystematizität‹ erwecken neuhistoristische Lektüren oftmals den Eindruck einer gewissen Verspieltheit und Unverbindlichkeit. Systematischer werden kulturelle Fragestellungen im Rahmen der so genannten Kultursemiotik behandelt.
Diese greift auf den russischen Formalismus sowie auf strukturalistische Ansätze zurück und macht das dort anhand der Analyse literarischer Texte entwickelte zeichentheoretische Instrumentarium für die Betrachtung von Kulturen fruchtbar.
Wenn Systeme auch stets eher synchron betrachtet werden, so bedeutet dies nicht, dass ›Geschichte‹ eine für die Kultursemiotik irrelevante Kategorie wäre. Einzelne Zeichensysteme werden vielmehr als Produkt historischer Prozesse verstanden. Dabei spielen die Strukturen des ›Erinnerns‹ und des ›Vergessens‹ eine große Rolle, denn durch sie bestimmt sich die Integration oder die Ausschließung eines kulturellen Elements aus dem kollektiven Gedächtnis. Wie das kulturelle Gedächtnis symbolhaft aufgeladen wird, illustriert beispielsweise die Reformpolitik Peters des Großen, der die gesellschaftliche und ökonomische Modernisierung Russlands dadurch unterstützte, dass er die altrussische Tradition durch westliche Symbolik ersetzte (etwa in der Bartmode).
Eine ähnliche symbolische Umstrukturierung ist zu beobachten, wenn Straßen- oder Städtenamen aufgrund veränderter politischer Verhältnisse umbenannt werden (etwa nach 1989 in der ehemaligen DDR).
Renate Lachmann spricht von ›Gedächtnismodellen‹, die innerhalb eines kulturellen Kollektivs einen homogenen Erinnerungsraum bilden. Ein Modell für ein solches kollektives Gedächtnis bildet die Literatur. Durch intertextuelle Bezüge zu anderen, älteren Texten ist sie erstens selbst eine Form von Gedächtnis, zweitens spiegeln sich im jeweiligen Literaturverständnis bestimmte kulturelle Praktiken und Normen wider.
Quellennachweise
Montrose, Louis: Die Renaissance behaupten. Poetik und Politik der Kultur. In: Moritz Baßler (Hg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. 2., aktualisierte Auflage Tübingen – Basel 2001, S. 60-93.
Kaes, Anton : New Historicism: Literaturgeschichte im. Zeichen der Postmoderne? In: Moritz Baßler (Hrsg.): New. Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. 2. aktualisierte Auflage. Tübingen – Basel 2001, S. 251–267.
Weiterführende Literatur
Baßler, Moritz (Hg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Mit Beiträgen von Stephen Greenblatt, Louis Montrose u.a. 2., aktualisierte Auflage Tübingen – Basel 2001 (UTB für Wissenschaft: Uni-Taschenbücher; 2265).
Dörner, Andreas / Vogt, Ludgera: Literatursoziologie. Literatur, Gesellschaft, Politische Kultur. Opladen 1994 (WV- Studium 170)
Fulda, David/Tschopp, Silvia Serena (Hgg.): Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Berlin – New York 2002.
Gallagher, Catherine/Greenblatt, Stephen: Practicing New Historicism. Chicago 2000.
Greenblatt, Stephen: Verhandlungen mit Shakespeare: Innenansichten der englischen Renaissance. Frankfurt/M. 1993.
Joch, Markus / Wolf, Norbert Christian (Hg.): Text und Feld. Literaturwissenschaftliche Praxis im Zeichen Bourdieus. Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2005.
Lachmann, Renate: Gedächtnis und Literatur: Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt/M. 1990.