Johann Wolfgang Goethe: Dichtung – Kunst – Natur (E-Book)
Prof. Dr. Albert Meier

Einführung

»Mit meiner Autorschafft stehts windig.«
An Johanna Fahlmer, 18. 10. 1773

Kennst du das Land? wo die Citronen blühn … Das einem nach Norden verirrten Mädchen aus Italien in den Mund gelegte Sehnsuchtslied des ersten ›Wilhelm Meister‹-Romans wird in den Lehrjahren (1795) nur als geglättete Eindeutschung des erwachsenen Titelhelden mitgeteilt:

Aber die Originalität der Wendungen konnte er nur von ferne nachahmen. Die kindliche Unschuld des Ausdrucks verschwand, indem die gebrochene Sprache übereinstimmend, und das Unzusammenhängende verbunden ward.[1]

Wilhelm Meisters theatralische Sendung, das 1776 begonnene und kurz vor Goethes Abreise in den Süden beiseitegelegte Fragment, hat dieses Übertragungs-problem demgegenüber nur beiläufig erwähnt: »Zwar die kindische Unschuld des Ausdruckes ging mit der gebrochenen Sprache verloren«.[2]

Musste die Mignon der Urfassung mehr als einmal singen, um Wilhelm Meisters Interesse an ihrem Lied zu wecken, so reagiert er in der jüngeren Version gleich beim ersten Hören. Dass das dreifache ›Gebieter‹ nun der Trias ›Geliebter‹/ ›Beschützer‹/ ›Vater‹ gewichen ist, mag das heikle Verhältnis des Mädchens zu seinem Retter psychologisch auffächern, doch plausibler wird der Hymnus auf Goldorangen und Säulendächer dadurch nicht: Der beschwichtigende Hinweis des Erzählers, man müsse die Eigenarten einer Nachdichtung in Rechnung stellen, versucht vergeblich den Missklang zu heilen, dass Mignons Worte so gar nichts Naives an sich haben. Keinem genauen Leser kann wohl dabei werden, da der Tonwechsel vom Feierlich-Prächtigen ins Dumpfe und Düstere das Unheimliche dieser Italien-Lust deutlich genug markiert. Mag das Wunschziel in der Zitronen-Strophe auch noch als locus amoenus durchgehen, wenngleich bereits die Stille irritiert, so mündet die Tempel-Strophe schon in eine bedenkliche Selbstreflexion angesichts der ebenso leblosen wie fühllosen Marmorbilder: »Was hat man dir, du armes Kind, gethan?«.[3] Mehr als nur ernst endet schließlich die dritte Strophe, indem sie mit den Alpen die natürliche Grenze zwischen Nord und Süd, Deutschland und Italien auf-ruft und so die Gefahr zur Sprache bringt, die allem Begehren innewohnt:

Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?
Das Maulthier sucht im Nebel seinen Weg,
In Hölen wohnt der Drachen alte Brut,
Es stürzt der Fels und über ihn die Fluth.[4]

Nicht ins klassische Glück von Natur und Kunst weist Mignon mithin den Weg, sondern zu den Bedrohungen einer mythisch überhöhten Gebirgslandschaft:

Dahin! Dahin
Geht unser Weg! o Vater, laß uns ziehn![5]

Das ureigenste Lied der Deutschen ist insofern arg doppelbödig geraten: Vor dem blauen Himmel steht der Nebel, vor Myrte und Lorbeer bleibt mit Steinschlag zu rechnen, und vor dem Säulenhaus hausen die Drachen.

Goethe selbst hat den Weg von der Erhabenheit der Alpen zur Schönheit Italiens im Juni 1775 noch gescheut. Auf der Höhe des St. Gotthard − an einer Stelle ähnlich der, wo Mignons Gesang abbricht − ist er umgekehrt, um sich mit der unfertigen Zeichnung seines ›Scheideblicks‹ zu begnügen. Die drei Strophen aus dem Wilhelm Meister geben insofern eine Erfahrung ihres Verfassers wieder und überhöhen sie doch zugleich. Aus dem Leben ist Kunst geworden, und diese ersetzt, was jene versagt: »Poesie aber ist Märchen«.[6]

*****

Ästhetische Erfahrungen gilt es immer von neuem zu machen, weil keine ihren Gegenstand je erschöpft: »Die Kunstwercke der ersten Klaße müßte man von Zeit zu Zeit wiedersehen können, in ihnen ist ein unabsehlicher Abgrund«.[7] Goethe selbst hat das namentlich an der Medusa Rondanini erlebt, die ihn seit den ersten Wochen in Rom fasziniert und bis heute als Sinnbild seines gesamten Schaffens gelten darf. Drückt sich in dieser »hohen und schönen Gesichtsform«[8] das »ängstliche Starren des Todes«[9] auch »unsäglich trefflich« aus,[10] so ist das Grauen durch die Kunst doch zugleich gebannt: »Nur einen Begriff zu haben daß so etwas in der Welt ist, daß so etwas zu machen möglich war, macht einen zum doppelten Menschen«.[11]

Weniger um Johann Wolfgang Goethe selbst und um sein Leben wird es daher im Folgenden gehen als um das, was er geschrieben hat: um sein keineswegs nur poetisches ›Werk‹, dessen Weitläufigkeit freilich verhindert, es in toto abzuhandeln. Vielmehr gilt es exemplarisch zu verfahren und für die jeweiligen Phasen bzw. Arbeitsschwerpunkte diejenigen Texte zum Thema zu machen, an denen sich das Neue, Eigene in besonderer Deutlichkeit zeigt. Die Generalklausel dafür hat Goethe im kleinen Aufsatz Ueber Laokoon (1798) selbst formuliert:

Ein ächtes Kunstwerk bleibt, wie ein Naturwerk, für unsern Verstand immer unendlich; es wird angeschaut, empfunden; es wirkt, es kann aber nicht eigentlich erkannt, vielweniger sein Wesen, sein Verdienst mit Worten ausgesprochen werden.[12]


Fußnotenapparat

[1] Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman. Herausgegeben von Goethe. Zweyter Band. Frankfurt und Leipzig. 1795, S. 9.

[2] Goethe. Wilhelm Meisters Theatralische Sendung. Nach der Schultheß’schen Abschrift herausgegeben von Harry Maync. Stuttgart und Berlin 1911. J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger, S. 208.

[3] Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman. Herausgegeben von Goethe. Zweyter Band. Frankfurt und Leipzig. 1795, S. 7.

[4] Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman. Herausgegeben von Goethe. Zweyter Band. Frankfurt und Leipzig. 1795, S. 8.

[5] Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman. Herausgegeben von Goethe. Zweyter Band. Frankfurt und Leipzig. 1795, S. 8.

[6] Johann Wolfgang Goethe zu Friedrich von Müller (15. 5. 1822). In: Goethes Gespräche. Gesamtausgabe. Neu herausgegeben von Flodoard Frhr. von Biedermann unter Mitwirkung von Max Morris, Hans Gerhard Gräf und Leonhard L. Mackall. Zweiter Band: Vom Erfurter Kongreß bis zum letzten böhmischen Aufenthalt. 1808 November bis September 1823. Leipzig. F. W. v. Biedermann. 1909, S. 571.

[7] Johann Wolfgang Goethe an Herzog Carl August (3. 2. 1787). In: Goethes Werke. Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. IV. Abtheilung: Goethes Briefe. 8. Band: August 1786 – Juni 1788. Weimar. Hermann Böhlau. 1890, S. 169–171, hier S. 170.

[8] Aus meinem Leben. Von Goethe. Zweyter Abtheilung Erster Theil. Auch ich in Arcadien! Stuttgard und Tübingen, in der Cotta’schen Buchhandlung. 1816, S. 376f. (25. 12. 1786).

[9] Aus meinem Leben. Von Goethe. Zweyter Abtheilung Erster Theil. Auch ich in Arcadien! Stuttgard und Tübingen, in der Cotta’schen Buchhandlung. 1816, S. 377 (25. 12. 1786).

[10] Aus meinem Leben. Von Goethe. Zweyter Abtheilung Erster Theil. Auch ich in Arcadien! Stuttgard und Tübingen, in der Cotta’schen Buchhandlung. 1816, S. 377 (25. 12. 1786).

[11] Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand. Neunundzwanzigster Band: Zweyter Römischer Aufenthalt vom Juny 1787 bis April 1786. Stuttgart und Tübingen, in der J. G. Cotta’schen Buchhandlung. 1829, S. 40 (29. 7. 1787).

[12] Goethe, Johann Wolfgang: Ueber Laokoon. In: Propyläen. Eine periodische Schrifft herausgegeben von Goethe. Ersten Bandes Erstes Stück. Tübingen, 1798. In der J. G. Cotta’schen Buchhandlung, S. 1–19, hier S. 1.